Mobilität

„Das kann sich jeder leisten“: Warum Busfahren in dieser Stadt so günstig ist

Während Politiker eine Nachfolge für das 9-Euro-Ticket suchen, gibt es in Templin nordöstlich von Berlin die Lösung. Vom Nulltarif kam man wieder ab.

Ein Bus der Uckermärkischen Verkehrsgesellschaft zwischen Annenwalde und Densow. Die Dörfer sind Stadtteile von Templin. Auch dort können die Bürger die Jahreskurkarte als Busticket nutzen.
Ein Bus der Uckermärkischen Verkehrsgesellschaft zwischen Annenwalde und Densow. Die Dörfer sind Stadtteile von Templin. Auch dort können die Bürger die Jahreskurkarte als Busticket nutzen.dpa/Patrick Pleul

Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen, wenn in jener Mai-Nacht jemand von der Ampelkoalition in Templin angerufen hätte. „Dann hätte es den Blödsinn nicht gegeben“, sagt Detlef Tabbert, der Bürgermeister der uckermärkischen Stadt. Er meint das 9-Euro-Ticket, das damals  beschlossen wurde. Die Templiner hätten Tipps geben können, wie ein attraktives Angebot aussehen sollte, ohne dass das Verkehrssystem überlastet wird. Sie hätten dazu geraten, ein langfristiges Angebot zu konzipieren, das nicht nur drei Monate gilt. Denn hier sei die Stadt Rekordhalter, so Tabbert stolz. Vor 25 Jahren machte sie mit Einführung des Nulltarifs Schlagzeilen. Inzwischen müssen Fahrgäste wieder zahlen. Die Jahreskarte ist sensationell preiswert – aber nicht zu billig.

Detlef Tabbert ist die Freude darüber, dass Templin gerade wieder häufiger als sonst in den Medien vorkommt, deutlich anzumerken. Der Linken-Politiker gibt in diesen Tagen viele Interviews. „Das ZDF-Morgenmagazin, der RBB, das Redaktionsnetzwerk Deutschland, die Tageszeitung taz – da fragen einige nach“, erzählt er. Welche Erfahrungen hat Templin mit dem Nulltarif gemacht? Wie viel sollten Tickets kosten?

Entweder die Fahrgastzahl steigern – oder den Stadtbusverkehr einstellen

Es ist wie 1997. Als die Kleinstadt nordöstlich von Berlin damals die Fahrpreise im Stadtbusverkehr abschaffte, wurde sie mit einem Schlag weithin bekannt. Templin, das sich zwischen Wäldern und Seen auf einer Fläche 20 Prozent größer als München erstreckt, war plötzlich bundesweit im Fokus. „Das hat damals gut geklappt“, sagt Tabbert, der seit Langem in der Kommunalpolitik aktiv und seit 2010 Bürgermeister ist.

Der Vorschlag, fahrscheinfreies Fahren zu ermöglichen, sei aus dem Tourismus-Marketing des Thermalsoleheilbads gekommen, erinnert sich der Politiker. Das werde die Attraktivität des Ferienortes steigern, so die Erwartung. Doch schon bald kam die Überlegung hinzu, dass auch die Templiner in den Genuss dieser Vergünstigung kommen sollten. „Damals stand der Stadtverkehr auf der Kippe“, berichtet der Bürgermeister. Mit rund 40.000 Fahrgästen pro Jahr wurden die Busse wenig genutzt. Entweder die Nachfrage steigern oder den Busverkehr einstellen, das war die Alternative.

„Templin hat mutig entschieden“

„Eine Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung hat sich überzeugen lassen, den Stadtverkehr beizubehalten und den Nulltarif einzuführen“, sagt Detlef Tabbert. Obwohl Templin wie viele andere Städte auf dem Land finanziell nicht auf Rosen gebettet ist. Der Diplom-Verwaltungswirt ist heute noch stolz auf den damaligen Beschluss. „Templin hat mutig entschieden, und dieser Mut hat sich ausgezahlt.“

Die Zahl der Fahrgäste im Stadtverkehr stieg auf rund 600.000 im Jahr – auf das Fünfzehnfache. „Die Busse waren krachend voll“, erzählt Tabbert. Der Kraftfahrzeugverkehr im Stadtzentrum sank um rund 20 Prozent, die Zahl der Unfälle und die Schadstoffbelastung der Luft gingen ebenfalls zurück. Politiker, Journalisten, Wissenschaftler reisten nach Templin. Andere Städte nahmen Kontakt auf. Die estnische Hauptstadt Tallinn führte 2013 den Nulltarif ein, in Luxemburg gilt er seit 2020 sogar im ganzen Land. Im belgischen Hasselt wurde er jedoch wegen Geldmangels wieder abgeschafft. Auch in Templin kam nach einigen Jahren das Ende.

Schüler fuhren mit einer Kiste Bier stundenlang Bus

Manchmal war es sogar zu voll in den Bussen der Linie 531, erzählt Detlef Tabbert. „Es gab viel Spaßverkehr.“ Wenn es regnete, kam es schon mal vor, dass sich Schüler einen Kasten Bier kauften und damit im Stadtbus hin- und herfuhren. 2003 setzten die Stadtverordneten eine neue Regelung in Kraft, die im Prinzip bis heute gilt.

Touristen, die pro Tag 1,50 Euro Kurtaxe zahlen, dürfen mit ihrer Kurkarte fahren. Die Einheimischen haben Anspruch auf eine Jahreskurkarte, die ebenfalls zum fahrscheinfreien Busfahren berechtigt. Zunächst kostete sie 29 Euro. Seit 2007 sind es 44 Euro pro Jahr, nicht mal 3,70 Euro pro Monat. „Das kann sich jeder leisten. So wird soziale Teilhabe möglich“, sagt der Bürgermeister. In einer Stadt mit vielen Rentnern, die über wenig Geld verfügen, sei das sehr wichtig. Jahr für Jahr würden rund tausend dieser Karten verkauft. „Bei insgesamt rund 16.000 Einwohnern ist das eine schöne Quote“, bilanziert Tabbert. Der 61-Jährige besitzt selbst so eine Plastikkarte.

Besonders groß sei der Absatz in der Adventszeit. „Die Jahreskurkarte ist ein schönes, praktisches Geschenk. Enkel legen es ihren Großeltern unter den Weihnachtsbaum.“ Die Karte ist übertragbar. Am Morgen kann die Großmutter damit zum Arzt fahren, am Nachmittag der Enkel zum Einkaufen.

Gutes Angebot – tagsüber fährt alle 20 Minuten ein Bus

Wenn ein Fahrgast mit Kurkarte einsteigt, registriert dies der Busfahrer auf seinem Computer. Anhand des Gruppentarifs berechnet die Uckermärkische Verkehrsgesellschaft (UVG), wie viel Geld ihr die Stadt Templin schuldet. Pro Monat liegt die Summe zwischen 16.000 und 20.000 Euro. Im Stadthaushalt sind 200.000 Euro pro Jahr eingeplant, berichtet Tabbert. „Das ist uns die Sache wert.“ Auch in den Zeiten der Haushaltsnotlage wurde diese Leistung nicht infrage gestellt.

Heute werden die Linienbusse im Stadtgebiet für 200.000 bis 240.000 Fahrten im Jahr genutzt, so der Bürgermeister. Dass sie im Vergleich zu anderen Städten dieser Größe gut frequentiert sind, habe auch mit dem ordentlichen Angebot zu tun. Montags bis freitags verkehrt auf der Linie 531 tagsüber alle 20 Minuten ein Bus, am Wochenende alle 30 Minuten. Seit 2020 wird die Kurkarte auch auf den Buslinien anerkannt, die aus anderen Orten nach Templin führen. Dadurch kommen die Bewohner der zahlreichen Stadtteile ebenfalls in den Genuss der Vergünstigung. Das Stadtgebiet ist fast 380 Quadratkilometer groß, von einem Ende zum anderen können es 42 Kilometer sein.

Für 2023 und 2024 haben die Templiner bereits weitere Ideen. So wird überlegt, den Stadtverkehr auf Elektro- oder Wasserstoffantrieb umzustellen. Abends sollen die Busse länger fahren. Um Bike & Ride zu fördern, bekommen die beiden Templiner Bahnstationen und der Busbahnhof Fahrradabstellanlagen.

Was kann man aus den Templiner Erfahrungen lernen? „Preis und Angebot – beides ist wichtig, beides macht die Sache zu einem Erfolg“, sagt Detlef Tabbert. Doch zu niedrig im Vergleich zum Angebot dürfe der Preis nicht sein, warnt er. Das 9-Euro-Monatsticket fördere „Sinnlosverkehr“, weil es zu billig sei. Ein höherer Tarif, vielleicht 49 Euro bundesweit pro Monat oder 62 Euro für alle drei Monate, hätte dem Regionalverkehr übervolle Züge und negative Schlagzeilen erspart.

„Mit kürzer Duschen retten wir das Klima nicht“

Wichtig sei ein einfaches Fahrpreissystem und ein attraktiver Tarif, der ein gutes Angebot aber nicht unter Wert verkauft, fasst der Bürgermeister zusammen. Er schlägt vor, ein Jahresticket für 199 Euro einzuführen, das in Berlin und ganz Brandenburg gilt. „Bei diesem Preis würden viele umsteigen“, sagt Detlef Tabbert. „Man muss zu den Bürgern Vertrauen haben, dass sie rechnen können.“

Doch am wichtigsten sei jetzt: Mut. Den Schwung nutzen, rasch ein gutes Nachfolgeangebot für das 9-Euro-Ticket auf die Schiene setzen. „Diesen Plan nicht totreden, nicht anderen den Schwarzen Peter zuschieben, sich trauen.“ Bund und Länder müssen eine tragfähige Finanzierung erarbeiten. „Templin zeigt, dass es möglich ist.“

Anke Domscheit-Berg, Bundestagsabgeordnete der Linken aus dem Norden Brandenburgs, hält das Templiner Modell für vorbildlich. „Es zeigt, dass selbst im ländlichen Raum ein guter und trotzdem für alle bezahlbarer Nahverkehr machbar ist“, sagte sie der Berliner Zeitung. „Von Templin kann man aber auch lernen, dass man einfach mal etwas Neues ausprobieren muss und nicht nach ersten Schwierigkeiten alles sofort einstampfen darf, sondern daraus lernen und sinnvolle Anpassungen vornehmen sollte, um eine bessere Lösung zu finden.“ Der Mut zu einem langen Atem fehle bisher, so Domscheit-Berg. „Dabei zwingt uns die Klimakrise auch zu radikaleren Lösungen, zu völlig neuen Denkansätzen. Mit kürzer Duschen retten wir das Klima nicht."