Der Wittenberger Bürgermeister spricht gern über den Bahnhof in seiner Stadt. Für 50 Millionen Euro werden ein weiterer Bahnsteig und Gleise gebaut, freut sich Oliver Hermann. Für 20 Millionen Euro wird im nächsten Jahr das ehrwürdige Empfangsgebäude von 1846 saniert und mit neuem Leben erfüllt. Wer kein festes Büro braucht, aber die Nähe zur Natur schätzt, werde den geplanten Co-Working-Space auf halbem Weg zwischen Berlin und Hamburg zu schätzen wissen. „Auch im Umfeld entsteht einiges, etwa eine Augentagesklink“, so der Kommunalpolitiker. Doch der kommende Fahrplanwechsel trübt seine Laune. Zwar wird im und am Bahnhof Wittenberge investiert – aber die Zahl der Fernzüge, die dort halten, sinkt spürbar.
Lange ging es abwärts mit Wittenberge. Menschen zogen weg, Betriebe gaben auf – zum Beispiel die Nähmaschinenfabrik, deren frei stehender Uhrenturm mit 49,40 Meter das höchste Bauwerk dieser Art auf dem europäischen Festland ist. Doch inzwischen wächst die Einwohnerzahl wieder. Die Stadt, im Nordwesten Brandenburgs an der Elbe gelegen, ist inzwischen auch wieder Pendlerziel. Und dann ist da noch die wachsende Zahl der Touristen, die in das Unesco-Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe-Brandenburg reisen, um auf dem Elbradweg die Weite zu genießen oder Störche zu beobachten.
In etwas mehr als 50 Minuten nach Berlin, in 70 Minuten nach Hamburg
Dass sich die Stadt positiv entwickelt, liege auch daran, dass Wittenberge so gut aus vielen Richtungen per Zug erreichbar ist, erklärt der Bürgermeister. „Hier halten nicht nur Regionalzüge, sondern auch ICE, Intercitys, Eurocitys“, sagt Hermann. Mit dem Fernverkehr der Deutschen Bahn (DB) dauert die Fahrt nach Berlin etwas mehr als 50 Minuten, nach Hamburg 70. „Das ist ein Standortfaktor“, so der parteilose Politiker, seit 2018 Präsident des Städte- und Gemeindebunds Brandenburg, stolz. „Das spricht sich herum.“ Der Bahnhof erschließt eine Region mit rund 150.000 Einwohnern.
„Damit sich unsere Stadt weiterhin so gut entwickelt, brauchen wir allerdings Verlässlichkeit“, sagt Oliver Hermann, der seit 2008 Bürgermeister der 20.000-Einwohner-Stadt in der Prignitz ist. Doch wer häufiger mit der Bahn nach Wittenberge reist, vielleicht sogar als Fernpendler eine Zeitkarte der DB gekauft hat, wird vom kommenden Fahrplanwechsel am dritten Advent an weniger Reiseoptionen haben.

Wie berichtet, hat die DB beim Trassenvergabeverfahren für die Strecke zwischen Berlin und Hamburg zum Teil den Kürzeren gezogen. Den Regularien gemäß wurde entschieden, dass das Bundesunternehmen fünf Fahrten pro Tag aufgeben muss. Die Intercity- und Eurocity-Züge der DB, die heute in diesen Zeitlagen verkehren und in Wittenberge sowie Ludwigslust halten, fallen vom 11. Dezember an weg. Damit müssen die Fahrgäste dann auch auf eine der beiden Direktverbindungen Berlin–Kiel verzichten. Gestrichen werden die täglichen Abfahrten 13.06 und 17.06 Uhr ab Berlin sowie 8.51, 12.51 und 18.51 Uhr ab Hamburg. Ein Wettbewerber habe sich durchgesetzt, hieß es.
Zwar bekommt die DB Slots, die sie vor einem Jahr an Flixtrain abgeben musste, im Dezember wieder zurück. So kann der bei Fernpendler beliebte ICE um 16.51 Uhr ab Hamburg, dessen Streichung viel Unmut ausgelöst hatte, wieder fahren. Der Intercity nach Westerland auf Sylt wird wieder in der ursprünglichen Zeitlage um kurz nach 8 Uhr morgens ab Berlin verkehren. Doch unterm Strich bleibt eine Angebotskürzung.
Bund muss Rahmenbedingungen für Trassenvergabe anders gestalten
Zwar wird Flixtrain die 12.51-Uhr-Trasse ab Hamburg übernehmen – aber nur an einem Tag in der Woche, am Sonnabend. An den übrigen Wochentagen liegt der Slot laut Fahrplan brach, genauso wie die vier anderen Zeitlagen, in denen heute noch täglich DB-Fernzüge verkehren. Wie in der jetzigen Fahrplanperiode wird Flixtrain auch künftig nur an fünf Tagen in der Woche jeweils einmal pro Richtung zwischen Berlin und Hamburg fahren, mit Ausnahme des Sonnabends aber zu anderen Zeiten. Und wie bisher werden die grünen Züge weder in Wittenberge noch in Ludwigslust Stopps einlegen.
Gegenüber dem „Prignitzer“ erklärte eine Flixtrain-Sprecherin am Freitag, dass die DB den grünen Zügen lediglich in Richtung Hamburg Halte in Wittenberge und Ludwigslust ermöglichen könne. Weil der Kundschaft aber ein symmetrisches Angebot geboten werden soll, müsse die Offerte ausgeschlagen werden. Zu weiteren Themen äußerte sich Flixtrain nicht – auch nicht zu den brach liegenden Trassen. Der finale Netzfahrplan von DB Netz stünde noch aus, so die Sprecherin.
Oliver Hermann kann die Kalkulation verstehen, die dazu führt, dass die privaten Fernzüge Wittenberge ohne Stopp durchfahren. Schließlich werden bei jedem Halt Stationsgebühren fällig. „Das Geschäftsmodell von Flixtrain basiert nun mal auf niedrigen Kosten“, so der Bürgermeister. Er hat vielmehr den Bund im Visier: „Weil er die Rahmenbedingungen für die Trassenvergabe so gestaltet hat, dass unsere Stadt und unsere Region, ein großer ländlicher Raum, nun schlechter erreichbar sind.“
Der Hautarzt und der Radiologe pendeln nach Wittenberge
„Unsere Befürchtungen sind leider eingetroffen. Wir bedauern das sehr“, fasst Oliver Hermann zusammen. „Aus Sicht der Bahnkunden und insbesondere der Pendler aus und nach Wittenberge ist die Situation schwer erträglich. Wittenberge und die Prignitz sind eine Zuzugsregion, und viele Menschen entscheiden sich für den Wohn- und Arbeitsstandort wegen der guten Fernzuganbindung, vor allem in Richtung Hamburg.“ Auch die stationäre und ambulante Ärzteversorgung sowie die Gewinnung von Fachärzten hingen von einer attraktiven Bahnanbindung ab. „Viele Ärzte pendeln nach Wittenberge, zum Beispiel unser Hautarzt und der Radiologe.“
Der Bund müsse die Rahmenbedingungen anpassen, forderte der Bürgermeister. „Der Wettbewerb auf der Schiene darf nicht zu einer Benachteiligung des ländlichen Raums führen.“ Hermann bedankte sich bei Brandenburgs Verkehrsminister Guido Beermann (CDU), der die Stadt unterstütze. Die Forderung lautet, dass die DB die Trassen weiterhin bedient, damit sie nicht brachliegen und Fahrgäste reisen können.

Einen ähnlichen Fall gibt es offenbar zwischen Berlin, Dresden und Prag. Dort muss, wie berichtet, der EC171, der Berlin laut Plan um 7.16 Uhr verlässt und die tschechische Hauptstadt um 11.35 Uhr erreicht, ebenfalls zum Fahrplanwechsel ersatzlos gestrichen werden. Die DB begründet das mit Baueinschränkungen im Elbtal. Doch Bahnexperten verweisen darauf, dass am Morgen auch der European Sleeper fahren soll. Die Beschlusskammer der Bundesnetzagentur habe festgestellt, dass das für diesen privaten internationalen Zug zu erwartende Trassennutzungsentgelt mit 830.000 Euro pro Jahr für den gesamten Laufweg in Deutschland das des EC (720.000 Euro) übersteige.
Wie berichtet, war allerdings zuletzt ungewiss, ob und wann der private Nachtzug zwischen Brüssel, Amsterdam, Berlin und Prag jemals ins Rollen kommen wird. Inzwischen ist wieder von 2023 die Rede.
Muss der Eurocity von Berlin nach Prag einem privaten Nachtzug weichen?
Nach dieser Erklärung gäbe es also eine weitere Trasse ab Berlin, die neu vergeben wurde, aber nicht genutzt wird. Das geltende Recht lasse dies offenbar zu, hieß es. Am Freitagabend teilte das niederländische Unternehmen allerdings bei Twitter mit, dass der European Sleeper zu einer anderen Zeit nach Tschechien fahren soll. Obwohl dies zum August angekündigt worden sei, gebe es noch keine Trasse für den Nachtzug.
Dass ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, kurz EVU, Trassen zugeteilt bekommt, sie dann aber nicht nutzt, ist keineswegs ungewöhnlich, erklärte Matthias Stoffregen vom Branchenverband Mofair am Sonnabend. „Bei der Trassenzuteilung gibt es ein zweistufiges Verfahren. Auf der zweiten Stufe können EVU unter anderem Trassen, die in der ersten Runde anderen EVU zugeteilt, aber nicht abgenommen werden, ihrerseits zugeteilt bekommen“, sagte er der Berliner Zeitung.
Branchenverband: Dass Trassen brachliegen, ist nicht ungewöhnlich
In diesem Jahr habe DB Netz sehr lange gebraucht, den vorläufigen „endgültigen" Netzfahrplan zu veröffentlichen, was insgesamt zu längerer Unsicherheit geführt hat, so Stoffregen weiter. Grund war unter anderem ein Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Köln.
„Diese Unsicherheit im Vorfeld wiederum hat dazu geführt, dass viele EVU Trassen ‚über Bedarf‘ bestellt haben, weil die Unsicherheit bei der Zuteilung dieses Jahr besonders hoch war“, sagte er. „Das mussten sie aber tun, schließlich müssen sie sicher sein können, dass sie Ihre Fahrzeuge am Ende auch ausgelastet bekommen.“
Zug ab Innsbruck und Salzburg angemeldet - aber erst ab Leipzig gefahren
Wie der Konflikt um die Trasse südlich von Dresden zeigt, ist das zu erwartende Regelentgelt für DB Netz entscheidend: Wie viel Trasseneinnahmen sind zu erwarten? Der Zug, der die höchsten Erträge verspricht, hat gute Chancen, den Zuschlag zu bekommen. In der Vergangenheit hat das dazu geführt, dass Flixtrain besonders lange Zugläufe anmeldete - wie 2021 für Innsbruck, später Salzburg, Berlin, Hamburg und Kiel (Zugnummern 79450 und 1320). Ergebnis war, dass die DB ihre Wunschtrasse für den Intercity 2074 von Berlin nach Hamburg und Westerland nicht bekam. Flixtrain konnte sie ausstechen - nutzte den Slot dann aber nur zwischen Leipzig, Hamburg und Berlin.








