Pünktlich zum Start des Christopher Street Days verziehen sich die Wolken, sodass die farbenfrohen und knappen Outfits noch besser zur Geltung kommen. Um 11.30 Uhr versammelten sich die Teilnehmer der jährlichen Pride Parade in der Leipziger Straße Ecke Axel-Springer-Straße. Andreas trägt Shorts, die genau wie sein ganzer Körper mit Regenbogenfarben bemalt sind.
Sein Freund Vika trägt lilafarbenen Lippenstift und ein weitmaschiges Netz auf dem Kopf. „Ich bin in der Sowjetunion geboren und wir müssen gerade in diesen Zeiten ein Zeichen setzen“, sagt der Kölner. „Wir lassen uns von keinem Putin, keinem Diktator unterkriegen!“
„United in Love! Gegen Hass, Krieg und Diskriminierung“ ist das Motto in diesem Jahr. Um 12.30 Uhr setzen sich die vorderen Wagen in Bewegung, „Stopft die Titten, rot die Lippen“, reimt eine Transperson auf dem ersten Wagen, Konfetti in Regenbogenfarben flattert unter Jubel vom Himmel.
Berliner Polizei am Nachmittag: 150.000 Teilnehmende
Die Stimmung ist gelöst, die Menschen lächeln sich gegenseitig an, sobald sich Blicke treffen. Die Veranstalter erwarteten eine halbe Million Teilnehmende, die Berliner Polizei schätzt am Nachmittag rund 150.000. Die Organisatoren schätzten die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Abend auf 600.000.
Insgesamt 89 Wagen rollen in diesem Moment Richtung Potsdamer Platz, eine weitere Station ist der szenebekannte Nollendorfplatz und Endpunkt das Brandenburger Tor. Der Bundestag hisste dieses Jahr erstmals die Regenbogenflagge als Bekenntnis zur Vielfalt.
Der Christopher Street Day erinnert an den Stonewall-Aufstand in New York. Queere Menschen wehrten sich in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1969 erstmals gegen die Repressionen der Polizei und versammelten sich vor dem Szenelokal Stonewall Inn in der Christopher Street. In New York kam es zu einer breiten Solidarisierung und der Aufstand dauerte mehrere Tage an.
Auch heute geht es noch um Solidarität: Heterosexuelle schließen sich am CSD ihren Bekannten und Freunden an, außerdem geht es auch um Unterdrückung und Verfolgung weltweit. LGBTQ+-Personen haben sich in westlichen Ländern wie den USA und Deutschland viele Rechte erkämpft. Trotzdem sind sie im Alltag und in Institutionen Diskriminierung ausgesetzt. „Wir machen darauf aufmerksam, dass sie als Minderheiten immer noch kämpfen müssen“, sagt Peggy beim Warten auf der Toilette eines Cafés.
Solidarität kommt auch vonseiten der evangelischen Kirche. Sie ist mit einem der vorderen Wagen bei der Parade mit dabei, die Techno-Beats bringen das Publikum zum Tanzen. Die Heilig-Kreuz-Kirche am Halleschen Tor ziert eine Regenbogenflagge.
„Man kann hier einfach man selber sein und feiern“, sagt Ben. „Ich habe mich 2017 geoutet. Das war super krass.“ Auf seine Arme hat Ben „Free Hugs!“ geschrieben. Der CSD hat nur noch wenig von einer Demonstration oder einem Aufstand. Es geht offenbar darum sich im schönsten Outfit zu zeigen und die eigene Queerness zu feiern.
Ein Engel mit gigantischen Flügeln posiert mit geschürzten Lippen vor einer Horde von Fotografen und auch eine Gruppe mit blau-gelben Federkreisen auf dem Kopf und einer Friedenstaube in deren Mitte fällt auf. „Es gibt momentan nichts Schlimmeres auf der Welt als diesen Krieg“, sagt Ralf Lorenz und klimpert mit seinen gelben Wimpern mit Leopardenmuster. „Das berührt jedes Herz.“ Das Handynetz ist nach kürzester Zeit zusammengebrochen entlang der Route, sodass es schwierig wird, Instagram-Storys oder Fotos zu posten. Viele bekannte Gesichter sind heute unterwegs und solidarisieren sich öffentlich.
Julian und Mario in Netzhemd und mit bauchfreiem Top rufen gegen den Sound der Boxen an: „Wir sind hier, um unsere neugeborene Liebe zu feiern“ und küssen sich für die Kamera.
„Wow“, sagt eine Person, die ihre Brüste beim Tanzen hin und her schwenkt, als eine andere im rosa Mini-Kleidchen und schwarzen Stiefeln an ihr vorbei stolziert. Am Straßenrand perfektionieren manche Menschen ihr Make-up. Andere haben eine Hundemaske auf und folgen ihrem Herrchen. Sektkorken knallen, jemand hat offenbar schon zu viel davon und kotzt an einer Bushaltestelle.
„Fühlt ihr euch sexy, führt ihr euch fabelhaft?“, ruft jemand an der Siegessäule durchs Mikrofon. Die Straße des 17. Juni gleicht einem Laufsteg. Eine Person mit einem ganzkörper Glitzerkostüm streckt das Bein beim Warten aus, als würde sie fürs Foto posieren.
Offizielle CSD-After-Party findet im Club Ritter Butzke statt
Am Brandenburger Tor geben die Veranstalter auf der Bühne einen Teil ihres Forderungskatalogs bekannt: Abschiebung in Verfolgerstaaten beenden und Ungarn als Mitglied der EU hinterfragen. „Wir wollen politischen Willen und politische Taten!“, sagt Patrick. Sie fordern Diskriminierung gegen Trans- und Interpersonen zu beenden und betonen wie froh sie über die Teilnahme von queeren PoC Communities sind. „Fühlt ihr euch sicher?“, fragt er. „Das ist schön, aber an jedem anderen Tag und anderen Ort sollte das auch so sein.“ Die Polizei sagt, bisher sei alles friedlich geblieben. Homophobe Attacken gab es bislang nicht.
Von dem ursprünglichen Aufbegehren gegen die Polizei bei Stonewall ist heute in Berlin nichts mehr zu spüren. Und auch umgekehrt werden die Vorbehalte weiter abgebaut. Zwischen den Menschen taucht ein blaues T-Shirt mit der Aufschrift „Polizei und Justiz gegen Homo- und Transphobie“ auf, und verschwindet gleich wieder in der Menge.



