CSD in Berlin

Ukrainer auf dem Berliner CSD: „Verlieren wir den Krieg, werden wir ausgelöscht“

Der Gründer von Kyiv Pride ist ein Ehrengast beim Berliner CSD – und für queere Ukrainer ist dieser Tag trotz Krieg wichtiger denn je. Für sie geht es um Leben und Tod.

Der diesjährige Kyiv Pride fand in Warschau statt. Auch am heutigen CSD in Berlin spielen LGBTQ-Ukrainer eine wichtige Rolle.
Der diesjährige Kyiv Pride fand in Warschau statt. Auch am heutigen CSD in Berlin spielen LGBTQ-Ukrainer eine wichtige Rolle.imago/Aleksander Kalka

Lenny Emson spricht in der niederländischen Botschaft, einem großen würfelförmigen Bau an der Spree, und seine Rede ist wohl das, was man als „flammend“ bezeichnet. Es ist der Vorabend des Christopher Street Days (CSD), jener großen Feier, die als politische Demonstration angemeldet ist. Und es sind Reden und Auftritte wie der von Lenny Emson, die den CSD zu einem politischen Ereignis machen. Emson ist Gründer des Kyiv Pride, der ukrainischen Schwester-Organisation und er sagt: Der Kampf für LGBTQ-Rechte in der Ukraine muss noch fortgesetzt werden – nicht trotz des russischen Angriffskriegs gegen sein Land, sondern gerade wegen des Kriegs.

Mit dem CSD am heutigen Sonnabend folgt Berlin dem Beispiel anderer europäischer Städte, in denen in den letzten Wochen ukrainische Pride-Aktionen verlegt wurden – der Krieg hat es unmöglich gemacht, sie an den vorgesehenen Orten abzuhalten. Im Juni marschierten Tausende in Warschau bei einem gemeinsamen Kyiv-Pride-Marsch mit. Emson war dabei und wird auch bei der CSD-Parade in Berlin im ersten Truck anwesend sein. Zum ersten Mal wird es beim Berliner CSD auch einen Teil der Parade spezifisch für die ukrainische Community geben, an dem auch Aktivisten von Kharkiv Pride und dem Kunstkollektiv TU Mariupol teilnehmen werden.

Das sei ein sehr wichtiger Moment, sagte Anton Dorokh, Vorsitzende des Berliner Ukraine-Vereins Vitsche, der neben Emson auch bei der Veranstaltung in der niederländischen Botschaft sprach. „Früher waren wir immer im Schatten der russischsprachigen LGBTQ-Community in Berlin“, sagt er. „Aber jetzt, wo es so viele queere Ukrainer in Berlin gibt, darf das nicht mehr so sein. Wir werden zusammen auftreten, nicht als Opfer, sondern als Überlebende dieses Krieges.“ Die Erfahrungen von Widerstand und Aktivismus, die viele Ukrainer schon mitgemacht haben, so Dorokh, werden in Kriegszeiten genutzt, um auch ihre ukrainische Identität zu stärken und verteidigen.

Widerstand gegen den Krieg sei untrennbar verbunden mit der LGBTQ-Bewegung

Auszüge von Dokumentarfilmen über die LGBTQ-Bewegung in der Ukraine sollen zeigen, dass diese Bewegung untrennbar mit den Bemühungen der Ukraine für ihre Unabhängigkeit und Souveränität verbunden sei. LGBTQ-Aktivisten nahmen erheblich an der Maidan-Revolution 2014 teil, und als Russland dann die Krim annektierte und seine Soldaten den Donbass im Osten der Ukraine okkupierten, gründeten sie Initiativen, um LGBTQ-Menschen aus diesen Gebieten zu unterstützen, nachdem ihre Vereine von den russischen Besatzungskräften verboten wurden.

Erst kürzlich haben Aktivisten eine offizielle Petition mit 28.000 Unterschriften an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj übergeben, die den Beschluss der Ehe für alle in der Ukraine fordert. Das sei ein wichtiger Schritt nach vorn für die Community, sagt Emson – und nicht nur, damit Ehen wie seine anerkannt werden. „Das ist auch für unsere Soldaten sehr wichtig“, sagt er. „Denn wenn einer unserer Soldaten getötet wird, muss sein Partner das Recht haben, seinen Leichnam abzuholen und ihn zu begraben.“

Im letzten Film der Veranstaltung, „Ukrainian Queer Fighters for Freedom“, dessen Dreharbeiten noch nicht abgeschlossen sind, erzählen junge ukrainische Kämpfer, warum sie sich den Streitkräften angeschlossen haben. „Die Identität, die ich mir aufgebaut habe, könnte wegen dieses Krieges auseinanderfallen“, erzählt ein junger Soldat. Er wolle weder unter russischer Besatzung seine wahre Identität verbergen noch deprimiert und angeschnitten von der Heimat im Ausland leben: Deswegen müsse er für die Ukraine kämpfen. Die ganze Queer-Community habe jetzt zwei Kriege zu führen, erzählt eine weitere Kämpferin in dem Film.

Lenny Emson: Wir leben, solang unser Land noch lebt

In Kriegszeiten als Aktivist weiterzumachen, mache ihn auch stolz, sagt Emson, weil er sehen kann, dass er in den vergangenen Monaten auch viel erreicht hat. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion 1991 wurde Homosexualität entkriminalisiert, 1996 wurden die ersten offenen LGBTQ-Vereine etabliert, seit 2006 findet die jährliche nationale LGBT-Konferenz in Kiew statt. Im Jahr 2012 konnte der geplante erste Kyiv Pride nicht stattfinden, weil mehr als 1000 rechtsextremistische und ultrakonservative Gegendemonstranten die 100 Teilnehmer bedrohten – neun Jahre später, beim Kyiv Pride 2021, gab es 7000 Teilnehmer und 250 Gegendemonstranten.

Die Bewegung hat schon viel erreicht, so Lenny Emson, aber sie darf jetzt nicht aufgeben. Allen Ukrainern sei es schon klar, was ein Verlust im aktuellen Krieg für das Land bedeuten wird – für die LGBTQ-Community wäre das aber besonders bedrohlich. „Wir leben, solang unser Land noch lebt“, sagt Emson. „Wenn die Ukraine verliert, wird unsere Community ausgelöscht, und das nicht nur im philosophischen Sinne. Wir werden getötet, vergewaltigt, wir werden einfach verschwinden.“ Wer heute beim CSD mitmarschiere, sagt er, wieder in diesem flammenden Ton, solle das mitbedenken.