Seit einer Woche ist das dramatische Fischsterben in der Oder in Deutschland bekannt. Die Suche nach den Ursachen und Verantwortlichen dauert an. In der Zwischenzeit haben wir mit Lena-Marie Mutschler vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) gesprochen und gefragt, was eigentlich eine Giftwelle ist, wie es der Oder vor der Katastrophe ging und wie lange der Fluss brauchen wird, um sich zu erholen. Besser gesagt, ob er sich überhaupt erholen kann.
Frau Mutschler, Sie sind beim BUND für den Oderschutz zuständig. Konnten Sie sich angesichts der Katastrophe in der vergangenen Woche überhaupt mit etwas anderem beschäftigen als den Tonnen toter Fische?
Es war nicht leicht, abzuschalten. Es ist jetzt genau eine Woche her, dass mich die ersten Nachrichten dazu erreicht haben und wir reagieren mussten. In so einem Fall die Expertise zu haben, macht es noch bewegender und ist auch mit Schlaflosigkeit verbunden. Vor allem, wenn man um die Defizite im Gewässerschutz weiß. Dabei ist er die Jahrhundertaufgabe, die uns mit dem Klimawandel bevorsteht.
Was sind diese Defizite?
Es gibt gute politische Zielsetzungen, aber wie langsam die Umsetzung voranschreitet, ist verstörend und entsetzend. Im Jahr 2000 hat sich die EU das Ziel gesetzt, mit der sogenannten Wasserrahmenrichtlinie bis zum Jahr 2015 alle Gewässer Europas in einen guten ökologischen Zustand sowie einen guten chemischen Zustand zu bringen. Jetzt sind wir sieben Jahre hinter diesem ersten Zieljahr, und es sind nur etwa acht Prozent der Gewässer bundesweit, die in einem guten ökologischen Zustand sind.
Oder-Ausbau in Polen ist gefährlich
Wir haben in der Oder mittlerweile fast 100 Tonnen toter Fische eingesammelt. Und das sind noch nicht alle. Es gab Anfang der 2000er bereits ein großes Fischsterben im Rhein, damals war das auf niedrige Wasserstände und Sauerstoffkonzentrationen und hohe Temperaturen in Verbindung mit Algenwachstum zurückzuführen. Aber es war nicht das Ausmaß, das wir jetzt beobachten.
Weshalb wird diese Richtlinie nicht umgesetzt?
Es geht alles viel zu langsam voran. Das ist größtenteils eine Frage der politischen Priorisierung, Gewässerschutz wird in der Haushaltskonkurrenz oft hintenangestellt. Es fehlen Stellen, es fehlt Geld. Man kann Gewässerschutz natürlich nicht von anderem Naturschutz trennen. Alles ist vernetzt, das Waldsterben, trockene Moore, auch der Meeresschutz lässt sich nicht ohne Gewässerschutz denken. Was jetzt mit der Oder passiert, zeigt, was die letzten Jahrzehnte schiefgegangen ist.
Was ist denn an der Oder in der Vergangenheit schiefgegangen?
Die Oder ist eigentlich einer der naturnahsten Flüsse Mitteleuropas. Sie ist allerdings sehr vielen Bedrohungen ausgesetzt. Der Wasserstand ist niedrig, und wir haben hohe Temperaturen, die auf den Klimawandel zurückzuführen sind. Der Oder-Ausbau in Polen trägt seit Kurzem auch seinen Teil dazu bei.
Warum ist der Oder-Ausbau so gefährlich?
Die Begradigung von Flüssen verhindert einen guten ökologischen Zustand. Das beeinflusst die Flora und Fauna, die Fließgeschwindigkeit, die Laufkrümmung, ob sich Inseln bilden oder Totholz sammeln kann. All das sind Indikatoren, die für ein widerstandsfähiges Ökosystem sorgen.
Hoher Salzgehalt in der Oder
Bei der Suche nach den Ursachen ist immer wieder von hoher Salzkonzentration die Rede. In der Oder fließt doch Süßwasser?
Es ist nicht klar, woher das kommt. Es ist nicht einmal klar, was für Salze das sind. Man geht aber nicht davon aus, dass das etwa aus dem Meer in den Fluss gespült wird. Da hat wahrscheinlich eine Einleitung stattgefunden. Durch den niedrigen Wasserstand ist aber insgesamt die Konzentration von Stoffen höher. Wir haben ja auch Quecksilber im Wasser, wo man nicht mehr davon ausgeht, dass das der Grund für das Fischsterben ist. Aber auch das weist auf die großen Mängel im Wasserschutz hin. Seit Jahrzehnten überschreitet der Quecksilbergehalt die Umweltqualitätsnorm. Alle Gewässer Deutschlands verfehlen die zweite Zielsetzung der Wasserrahmenrichtlinie, den guten chemischen Zustand.
Alle Gewässer?
Alle. Einen guten ökologischen Zustand haben wir zumindest bei acht Prozent, einen guten chemischen Zustand haben wir bei null Prozent. Unter anderem wegen des Quecksilbers. Es liegt in den Sedimenten. Was in der Vergangenheit verbockt wurde, können wir kaum noch aufholen. Schon vor Jahren hieß es von einer zuständigen Behörde: Wir kriegen das mit den Fischen nicht hin, wenn wir nicht das Problem mit dem Quecksilber angehen. Die Hauptursache dafür ist aber die Kohlekraft. Und da traut sich niemand ran.
Wie hängen Kohlekraft und Quecksilber zusammen?
Energiegewinnung durch Kohlekraft ist der Hauptemittent von Quecksilber. Allein der Quecksilbergehalt im Wasser spricht deshalb für einen früheren Kohleausstieg.
Rollte wirklich eine Giftwelle durch die Oder?
Das ist ein großes Mysterium. Vor eineinhalb Wochen ging das los, dass eine 30 Zentimeter hohe Welle beobachtet wurde, die durch die Oder lief. Das war aber erst mal keine Giftwelle, denn man sucht ja noch nach dem Gift. Es wurden mehrere Substanzen gemessen, aber nicht unbedingt in dieser Welle. Die sogenannte Giftwelle richtet eher den Blick auf Polen. Es wurde anscheinend irgendwo so viel Wasser eingeleitet, dass es zu dieser Welle kam. Eine Vermutung ist, dass Behörden von einem Chemieunfall erfahren und dann schnell eine Schleuse geöffnet haben, um das alles zu verdünnen. Das ist ein Indiz dafür, dass da etwas verschleiert werden sollte.
Die Ursache ist also weiterhin unklar.
Man geht von multiplen Stressoren aus. Zur Hitze, zu den Giften und Salzen kommt ein ungewöhnlich hoher Sauerstoffgehalt, der möglicherweise auf Algen zurückzuführen ist. Auch die Theorie, dass sich toxische Wasseralgen vermehrt haben, steht im Raum.
Jahrelange Zerstörung der Umwelt
Die wären auch einer der verschiedenen Stressfaktoren?
Sie könnten sogar der Hauptauslöser sein. Unter dem Strich ist die Oder zu vielen Belastungen ausgesetzt. Durch den Klimawandel werden diese Belastungen intensiviert. Intakte, diverse Ökosysteme sind resistenter, sie könnten das besser auffangen.
In einem Bericht sprach eine polnische Umweltexpertin von einer „jahrelangen Zerstörung von Natur und Umwelt“.
Wir sind seit Jahren damit beschäftigt, die Öffentlichkeit und die Behörden zu warnen. Umweltverbände beziehen regelmäßig Stellung zu behördlichen Maßnahmen wie Bewirtschaftungsplänen. Die Antworten darauf sind immer sehr verhalten. Ich weiß aber auch, dass es wirklich motivierte Leute in den Behörden gibt, die aber überfordert sind mit der Aufgabe des Umweltschutzes. Es müssten so viel mehr Stellen geschaffen werden.
Wo zum Beispiel?
Die meisten Gewässer sind Ländersache, bei den großen Wasserstraßen ist der Bund zuständig. Allein in den bundesweiten Wasser- und Schifffahrtsämtern, die für die großen Wasserstraßen wie die Oder zuständig sind, sind Dutzende zusätzliche Stellen geplant. So schlimm diese Katastrophe ist, öffnet sich jetzt aber ein Fenster für ein Umdenken. Wie nach dem Fischsterben im Rhein. Damals wurden wichtige Maßnahmen angestoßen. Wir hoffen, dass es auch in diesem Fall dazu führt und der Gewässerschutz mehr Priorität bekommt.

Gibt es eigentlich Überlebende? Oder sind Muscheln, Krebse, Schnecken, alle Tierarten tot?
Das kann ich nicht sagen. Ob etwa auch Jungfische gestorben sind, das wäre allerdings dramatisch. Zur Regeneration ist wichtig, die Oder schnell in einen guten Zustand zu bringen, sodass sich Fische aus den anliegenden Gewässern ansiedeln können. Die Regeneration findet auch über die Nebengewässer statt.
Wie lange könnte die Regeneration dauern?
Eine wirkliche Erholung wird Jahrzehnte dauern. Nicht hinsichtlich der Fische allein, die werden sich vielleicht bald wieder ansiedeln. Aber 100 Tonnen Fisch können wir nicht so schnell wieder aufholen. Ob der Vorzustand wieder erreicht werden kann, ist fraglich, wenn wir weiter solche Belastungen produzieren und haben.
Welche Maßnahmen sind wichtig, um den Schaden wiedergutzumachen?
Der polnische Ministerpräsident hat zugesichert, dass er sich für eine schnelle Erholung der Oder einsetzt. Das ist aber widersprüchlich, wenn die Ausbauarbeiten an der Oder weitergehen. Die sind ohnehin nicht rechtens, weil ein Widerspruch der Umweltverbände und des Landes Brandenburg bei der zuständigen Generaldirektion vorliegt. Eigentlich müsste der Ausbau deshalb erneut geprüft werden. So lange müsste der Bau gestoppt werden. Wir hoffen auf das polnische Verwaltungsgericht. Auch die EU-Kommission hat sich jetzt eingeschaltet. Es ist wichtig, dass das Projekt gestoppt wird. Der Fluss kann sich besser regenerieren, wenn nicht weiter Sediment aufgewirbelt wird.
Der Ausbau-Stopp wäre also eine Notbremse.
Genau. Es ist jetzt vor allem wichtig, die Hauptursache zu finden. Falls weiterhin eine Quelle besteht, muss man sie schließen. Dann können wir entsprechend reagieren. Eine umfassende Aufarbeitung bedeutet aber, dass alle Belastungen minimiert werden. Dass große Renaturierungsmaßnahmen stattfinden, für die Zukunft. Wir müssen langfristig denken. Und jetzt nicht nur den Schaden rückgängig machen, sondern den Zustand verbessern.
Kann etwas Vergleichbares jederzeit wieder passieren?
Auf uns kommen mehr Trockenheit im Sommer und Hochwasser im Winter zu. Ich denke, wir müssen uns darauf gefasst machen, dass so etwas öfter passiert. Weil die Ökosysteme durch den Klimawandel Bedingungen ausgesetzt sind, an die sie nicht gewöhnt sind. Das führt zu großem Stress. Und kleine Belastungen können zum großen Kippen führen.




