Norman Shelest ist 2018 nach Berlin gekommen, um zu heiraten. Nicht, weil Berlin ein außergewöhnlich toller Ort für Hochzeiten ist, sondern, weil es dem Musiker in seinem Heimatland nicht möglich war, seinen Freund zum Ehemann zu nehmen. Shelest kommt aus Kiew, und gleichgeschlechtliche Ehe ist in der Ukraine nicht erlaubt. Präsident Selenskyj hat angekündigt, dass er die gleichgeschlechtliche Ehe einführen will.
Seit dem 24. Februar 2022 führt Russland einen brutalen Krieg in der Ukraine. Seit dem Einmarsch der Russen folgten dem Ukrainer Norman Shelest mehr als eine Million Menschen nach Deutschland, darunter auch viele Schwule, Lesben, trans- und intergeschlechtliche Personen.
Shelest ist seit vier Jahren in Berlin. Sein Deutsch ist noch nicht so gut, aber Englisch beherrscht er fließend. „In der Ukraine war ich Aktivist“, sagt er, und: „Ich bin es vermutlich immer noch.“ Shelest kämpfte in Kiew für Rechte von LSBTI-Personen.
„Die Lage in der Ukraine ist zwar besser als in Russland, aber Themen wie die Ehe für alle sind auch bei uns schwierig.“
Als der Krieg ausbrach, begann er, Organisationen wie Quarteera oder LGBTI-Life bei der Aufnahme von queeren Geflüchteten aus der Ukraine zu unterstützen.
Berlin erkannte 2015 als erstes Bundesland LSBTI-Geflüchtete als besonders schutzbedürftig an. In manchen Ländern droht queeren Menschen wegen ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität eine Gefängnis- oder sogar die Todesstrafe. Wer frei sein will, dem bleibt meist nichts anderes übrig, als die Heimat zu verlassen. Aber selbst im Exil angekommen, ist nie volle Sicherheit garantiert. Auch in Deutschland nicht, wo erst seit 1994 keine strafrechtliche Verfolgung von schwulen Männern mehr existiert. Die Hasskriminalität, wozu Angriffe auf LSBTI-Personen gehören, sind in Berlin Jahr für Jahr gestiegen.
An seinem ersten Tag in Berlin besuchte Norman Shelest zusammen mit seinem Freund das Brandenburger Tor. „Ich war so glücklich und habe meinen Verlobten umarmt“, sagt er. „Daraufhin griff mich ein Mann an und schlug mich.“ Der Schock des Angriffs ist immer noch zu spüren. Auch in Flüchtlingsunterkünften, in denen viele unterschiedliche Menschen auf engem Raum zusammenkommen, gibt es Anfeindungen gegenüber LSBTI-Personen.
Viele LSBTI-Personen geben ihre Sexualität nicht an
In Treptow-Köpenick gibt es eine Unterkunft ausschließlich für queere Menschen, organisiert eigens vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF). Der Standort ist geheim, um sie vor Gewalt zu schützen. Die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales veröffentlichte auf Anfrage des Abgeordneten Tobias Bauschke (FDP) einen Bericht über LSBTI-Geflüchtete, der der Berliner Zeitung exklusiv vorliegt. Laut Senatsverwaltung gebe es keine konkreten Zahlen zu Gewalt und Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung in den Unterbringungen.
Hingegen der Aussage der Senatsverwaltung registrierte die Ombudsstelle für queere Menschen zwei Fälle, in denen queere Personen sich bedroht fühlten: Ein Paar gab an, sich selbst in einer Gemeinschaftsunterkunft unsicher zu fühlen, aber vom Sicherheitsdienst des LAFs ignoriert zu werden. Die Möglichkeit, in die Unterkunft nach Köpenick zu wechseln, wurde ihnen verweigert. Stattdessen seien sie von einer Mitarbeiterin des Sicherheitsdienstes queerfeindlich beschimpft worden. Nach Intervention der Ombudsstelle entschuldigte sich das LAF bei den Betroffenen. Wie hoch die Dunkelziffer solcher Fälle ist, ist ungewiss.
Laut Shelest gebe es viele queere Personen, die in den Camps unter Heterosexuellen untergebracht sind und nichts über ihre Sexualität verraten würden – aus Angst und aus heimatlicher Gewohnheit. In der Ukraine leben viele queere Menschen ungeoutet. Nach der Maidan-Revolution im Dezember 2013, wo sich das ukrainische Volk von Russland abgekoppelt hat, wird die Situation für queere Menschen immer besser.
„Queere Menschen sollten eigentlich wissen, dass sie vor dem Gesetz hier gleichbehandelt werden.“
„LSBTI-Personen wissen nie, was sie von der Gesellschaft erwarten können“, sagt Shelest, „ob sie Hilfe bekommen oder ob sie an Menschen geraten, die nicht tolerant sind.“ Bei gemeinnützigen Organisationen fühlen sie sich meist besser aufgehoben als bei staatlichen. „Auch wenn es irreal ist, die können uns wegen der Sexualität nicht zurückschicken.“

Die Offenheit Berlins sei neu für Ukrainerinnen und Ukrainer
Obwohl Shelest auch in Berlin Erfahrungen mit Homophobie machen musste, fühlt er sich wohl in der großen, offenen Queer-Community in Berlin. Anders als in der Ukraine ist sie mehr präsent. „Manchmal bräuchte man eine Vorwarnung“, sagt er mit einem Lachen, „diese wilde Sex- und Drogenszene sind Ukrainer*innen nicht gewöhnt.“ Zum Beispiel rund um den Nollendorfplatz, wo es Gay-Sexshops gibt und im Winter einen LSBTI-Weihnachtsmarkt, auf dem Shelest als Musiker in diesem Jahr aufgetreten ist. Doch selbst auf der queeren „Christmas Avenue“ habe Shelest Anfeindungen erlebt.

Die größte Hilfe für queere Geflüchtete kommt laut Shelest aus der Community selbst. Es gebe zahlreiche Privatpersonen, die ihre Wohnungen Geflüchteten anbieten würden. Auf Dating-Apps wie Grindr würden viele Informationen für LSBTI-Geflüchtete geteilt. „Es gibt zahlreiche Programme für LSBTI-Geflüchtete: zum Beispiel von der AIDS-Hilfe.“ Auch Shelest unterstütze das Programm.






