Die Oder hat im August 2022 die größte Umweltkatastrophe erlebt, die es in den vergangenen Jahrzehnten an einem europäischen Fluss gegeben hat. Deshalb hat Bundesumweltministerin Steffi Lemke von den Grünen am Dienstag die polnische Regierung aufgefordert, alles zu unternehmen, um eine erneute Katastrophe am gemeinsamen Grenzfluss Oder zu verhindern. Sie sei sehr beunruhigt, dass schon wieder größere Mengen von Algen in der Oder gefunden wurden, sagte sie bei einer großen Oder-Konferenz von Politikern und Wissenschaftlern aus beiden Ländern in Schwedt. Auch Umweltschutzorganisationen befürchten eine erneute Katastrophe, wenn dieser Sommer wieder sehr warm wird. Lemke sagte auch, dass die Ansichten der deutschen und polnischen Regierung unterschiedlich sind.
Der Umgang mit der Katastrophe ist für ganz Europa deshalb so wichtig, weil die Oder einerseits einer der wenigen noch recht naturnahen Flüsse auf diesem Kontinent ist. Deshalb hat sie auch einen Sonderstatus in Bezug auf die Artenvielfalt. Sie gilt als Genpool für viele Tiere und Pflanzen. Vor allem die Tiere wurden massiv geschädigt. Da die Katastrophe vom Menschen mitverursacht wurde, könnten auch für andere Flüsse nun Lehren gezogen werden.
Für das massive Fischsterben war ein Hauptgrund, dass sich eine spezielle Algenart sehr stark ausgebreitet hatte. Diese Algen sind eigentlich in salzigerem Wasser heimisch und kommen normalerweise nicht in Süßwasser vor. Sie gelangten wohl aber mit Schiffen in die Oder. Dort können sie sich gut verbreiten, weil dort seit Jahrzehnten sehr viel Salz aus der polnischen Industrie in den Fluss geleitet wird. Erschwerend kam im vergangenen Sommer hinzu, dass nach Dauerhitze der Wasserstand in der Oder sehr niedrig war. Damit stieg die Salzkonzentration, die giftigen Algen konnten sich explosionsartig vermehren und so die Fische töten.
Nun sagte Ministerin Lemke: „Es gibt auf polnischer Seite weiterhin Salzeinleitungen – und die warme Jahreszeit hat erst begonnen.“ Ihre Argumentation ist folgende: Das Problem hat mehrere Ursachen, aber die Regierungen können weder die Wassertemperatur eines Flusses im Hochsommer unter 18 Grad halten, noch können sie die Algen verschwinden lassen. Deshalb sollte das verändert werden, was beeinflusst werden kann. „Ich dränge darauf, dass die Salzeinleitungen im Sommer gestoppt oder deutlich minimiert werden müssen auf polnischer Seite“, sagte sie. In diesem Fall sei die Salzeinleitung die entscheidende Stellschraube. Die Verantwortung dafür liege auf polnischer Seite.
Die drei großen Krisen
Lemke sagte, die Katastrophe an der Oder habe gezeigt, wie sich die derzeitigen drei großen ökologischen Krisen gegenseitig verstärkt haben: die Klimakrise, die Krise des Artensterbens und die Krise der Verschmutzung. „Die Oder ist im Moment schwer beschädigt, und es wird lange dauern, bis sie sich wieder regeneriert hat.“
Sie ging auch darauf ein, dass auf polnischer Seite der Fluss für die Schifffahrt vertieft und ausgebaut wird. Sie sagte, damit sich die Natur ungestört erholen könne, müsse der Ausbau gestoppt werden – auf beiden Seiten der Oder. Das fordert sie von der polnischen Regierung und von FDP-Verkehrsminister Volker Wissing.

Lemke sagte auch, dass die Sichtweise der polnischen Seite eine andere sei. „Es ist wichtig, dass wir uns verständigen und im Dialog bleiben.“
Brandenburgs Umweltminister Axel Vogel (Grüne) sagte, dass sein Ministerium in Polen gegen den Oderausbau geklagt hat, weil er nicht den europäischen Regeln entspricht. „Der Ausbau ist nicht erforderlich“, sagte Vogel. Auch er betonte die Gefahren: „Wir gehen davon aus, dass es sich bei der Katastrophe nicht um ein singuläres Ereignis gehandelt hat, sondern um etwas, das sich jederzeit wiederholen kann.“
Im vergangenen Sommer wurden mehr als 400 Tonnen tote Fische geborgen. Etwa 90 Prozent des Einzugsgebietes der Oder befinden sich in Polen, der Einfluss auf deutscher Seite ist damit gering. Auch dieses Jahr hat es schon wieder ein erstes Fischsterben gegeben, etwa 100 Kilo verendete Fische wurden geborgen. Die Ursache sei aber nicht diese Alge gewesen.
Der Woiwode der Woiwodschaft Westpommern, Zbigniew Bogucki, erklärte die polnische Sicht: „Wir nehmen das Problem sehr ernst.“ Beide Seiten sollten nun aber nach vorn schauen. Auf polnischer Seite gibt es 36 Messstellen, dort wurden bislang 50.000 Proben genommen. „Die Oder ist nun der am besten untersuchte Fluss in Europa“, sagte er und damit wohl auch weltweit. Wenn es Probleme geben sollte, sei es wichtig, schnell zu reagieren. Als nun die 100 Kilo tote Fische gefunden wurden, habe das Krisenmanagement innerhalb von 24 Stunden funktioniert.
Die polnische Seite verweist darauf, dass der Salzgehalt nicht die einzige Ursache ist und dass die polnische Industrie auch nicht einfach abgeschaltet werden könne. „Wir können nicht radikale Lösungen beschließen, die nicht umsetzbar sind“, sagte er. Auch der Oderausbau geht weiter. Der Woiwode sagte: „Die Vertiefung des Flusses hat dem Fluss nicht geschadet.“ Er sagte auch: „Die Oder hat gelitten. Das wollen wir nicht schönfärben.“ Dann stellte er die Frage: „Aber hat sie so gelitten, wie in der öffentlichen Meinung behauptet wird?“ Er sagte: „Gott sei Dank ist es nicht so schlimm gekommen.“




