Kommentar

Fischsterben: An der Oder wird eine Chance für Europa verpasst

Am Grenzfluss droht wieder eine Umweltkatastrophe. Doch Polen will nicht härter gegen seine Wirtschaft vorgehen, um eine der Ursachen zu bekämpfen. Ein Kommentar.

August 2022: Ein toter Blei liegt im flachen Wasser der Oder.
August 2022: Ein toter Blei liegt im flachen Wasser der Oder.Patrick Pleul/dpa

Es sieht so aus, dass es wieder ein Fischsterben an der Oder geben wird. So wie im vergangenen Sommer. Damals kam es zur größten Umweltkatastrophe an einem europäischen Fluss seit Jahrzehnten. So sehen es viele Umweltschützer und Wissenschaftler. Es starben Abertausende Fische und Millionen anderer Lebewesen im Grenzfluss zwischen Polen und Deutschland.

Einer der Hauptgründe war, dass irgendwo in den polnischen Industriegebieten massenhaft Salze in die Oder geleitet werden. Dadurch wuchs eine Salzwasser-Alge, die dort gar nicht heimisch ist, so massiv, dass ihr Gift die Fische verenden ließ.

Die Alge ist noch immer in der Oder und die Salze werden weiterhin in den Fluss eingeleitet. Die polnische Regierung will daran offenbar auch nicht viel ändern, weil die Salze nicht der alleinige Grund sind und die Einleitung vom EU-Recht gedeckt ist. Und weil sie ihrer Wirtschaft nicht schaden will.

Doch in diesem Jahr sind die Temperaturen schon jetzt recht hoch, obwohl noch nicht mal Sommer ist. Das könnte wieder zu Niedrigwasser führen, sodass der hohe Salzgehalt der Oder die Algen prächtig gedeihen lässt und dann die Fische sterben. Ein Teufelskreis.

Die Oder ist kein reiner Industriefluss

Das besondere an der Oder ist, dass sie in weiten Teilen kein Industriefluss ist, den der Mensch in enge Betonwände gezwängt und vollständig seinen wirtschaftlichen Bedürfnissen unterworfen hat. Die Oder ist einer der letzten großen Flüsse, die relativ naturnah sind und deshalb besonders artenreich. Doch nach der großen Giftwelle vom Vorjahr fehlt dem Fluss die natürliche Giftabwehr. Denn es starben nicht nur Fische, deren Artgenossen längst wieder aus den Nebenflüssen einwandern. Es starben vor allem sehr viele Muscheln. Diese Ökopolizisten jedes Flusses leben davon, das Wasser einzusaugen und so zu reinigen. Ohne Muscheln droht dem Fluss jederzeit ein ökologischer Absturz. Sie brauchen viele Jahre, bis sie wieder große Muschelbänke gebildet haben – also funktionierende Klärwerke. Solange bleibt die Oder fragil.

All das ist bekannt, sorgt aber nicht dafür, dass die Salzeinleitung stärker reguliert wird. Ein Fehler, der sich langfristig rächen könnte. Die polnische Seite sagt, dass sie ein Frühwarnsystem mit vielen Messstellen eingerichtet habe und schnell reagieren werde. Das ist natürlich gut, aber es reicht nicht aus. Denn die Behörden reagieren erst, wenn das Problem schon da ist, wenn die Algen schon wachsen. Es wird aber nicht verhindert, dass das Salz als Wachstumsbeschleuniger in die Oder gelangt.

Die polnische Seite beruft sich auf eine Art Gewohnheitsrecht: Die Praxis der Verklappung von Schadstoffen sei seit Jahrtausenden üblich, früher sei fast alles ungeklärt in die Flüsse geleitet worden. Zum Problem wurde es aber, als nicht nur die Fäkalien von Tier und Mensch und ihr Schmutzwasser die Flüsse belasteten, sondern auch noch die oft tödlichen Schadstoffe der Industrie.

Nun zeigt sich: Alle Filteranlagen und Umweltauflagen aus Zeiten vor dem Klimawandel reichen im Extremfall nicht. Denn wenn es zu heiß ist und der Wasserstand fällt, wirken die Salze, die sonst vom Wasser verdünnt werden, sehr viel stärker. Und da das Ökosystem Oder aus dem bisherigen Gleichgewicht ist, ist unklar, wie der Fluss nun reagieren wird.

In dem nicht offen ausgetragenen Streit zwischen den Grünen in den deutschen Regierungen in Bund und in Brandenburg und der konservativen polnischen Regierung geht eine wichtige Chance verloren. Denn viele Flüsse in Europa überqueren Grenzen. An der Oder könnte bewiesen werden, wie echte europäische Zusammenarbeit funktioniert, unabhängig von nationalen Egoismen.

Politiker aus Polen sagen: So dramatisch war es an der Oder doch gar nicht. Und sie verweisen darauf, dass auch andere Flüsse in Europa einen hohen Salzgehalt hätten. Dort gebe es eben nur diese spezielle Giftalge nicht, die die Fische töte. Das ist einerseits richtig, andererseits sehr kurzsichtig. Denn die „böse“ Alge wurde offenbar von Menschen ungewollt von Schiffen aus dem Meer in die Oder gebracht.

Das wird auch in anderen europäischen Flüssen passieren. Und spätestens wenn es in Deutschland oder Frankreich zu einem großen Fischsterben kommt, wird die EU für härtere Vorschriften sorgen. Spätestens dann muss auch Polen reagieren. Stattdessen könnte sich Polen schon jetzt an die Spitze der Bewegung setzen, könnte Vorbild sein und dafür sicher auch finanzielle Unterstützung von der EU bekommen.

Noch ist das nicht der Fall. Vielleicht kommt das Umdenken erst nach dem nächsten großen giftigen Algenteppich auf der Oder.