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Lehren aus dem Fischsterben: Die Oder soll den Rechtsstatus einer Person erhalten

Millionen Fische starben 2022 in der Oder. Nun kämpft und marschiert ein polnisches Bündnis für den Schutz des Flusses. Was sind die Forderungen?

Oktober 2022: Die Fischereibiologen Christian Wolter (v.r.n.l.), Lutz Wende und Jan Hallermann vom Leibnitz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) führen nach dem Fischsterben eine Fisch-Beprobung in der Oder durch.
Oktober 2022: Die Fischereibiologen Christian Wolter (v.r.n.l.), Lutz Wende und Jan Hallermann vom Leibnitz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) führen nach dem Fischsterben eine Fisch-Beprobung in der Oder durch.Frank Hammerschmidt/dpa

Als im August 2022 Millionen Fische und Muscheln in der Oder lautlos erstickten, weil eine toxische Alge ihre Kiemen aufgelöst hatte, vermisste ich einen öffentlichen Aufschrei. Anfangs war die Ursache unklar, aber unübersehbar hatte auch diese Katastrophe etwas mit unserem respektlosen Umgang mit dem Planeten zu tun. Ein Stoff war in die Oder gekippt worden, der da nicht hingehört.

Wo waren die Stimmen der vielen Künstler:innen, die im Oderbruch leben? Wieso bildete sich nicht spontan ein Trauer-Camp in den Auen? Wo blieb ein Weltstar, der auf dem Deich sein Instrument auspackte und für den sterbenden Fluss geigte oder rappte? Er hätte Spots auf sich gezogen, Blitzlichtgewitter.

Ich musste an die Oder. Etwas tun. Ich meldete mich bei einem Amt in Schwedt, das Angebote von Hilfsbereiten sammelte. Die toten Fische mussten aus dem Fluss gesammelt werden. Eine freundliche Dame erfasste meine Daten. Sie kündigte für den folgenden Tag einen Rückruf an, bei dem ich erfahren sollte, wo ich wann zu erscheinen habe.

Aber es meldete sich niemand. Ich rief noch einmal dort an. Die Dame sagte, es hätten sich sehr viele Helfer gemeldet. Ich war froh darüber und gleichzeitig traurig, nicht mit ihnen zu sein. Fisch für Fisch hätte ich meine Trauer leben und mich mit anderen Menschen verbinden können, die ähnlich fühlten wie ich.

Ich liebe den Fluss. Ich liebe den Deich. Ich fliege auf meinem Fahrrad mit ausgebreiteten Armen im Morgennebel bei Schwedt über diese grüne Rennbahn, bewundere die Vögel in den Auen, halte mein Gesicht in die aufsteigende Sonne, bis der Tag wärmer wird. Dann lege ich im Café Goldrand in Lunow eine Pause ein. Flussauen wie im Nationalpark Unteres Odertal sind einmalig in Deutschland.

Die Landschaft des Nationalparks Unteres Odertal bei dem kleinen Ort Stuetzkow in Brandenburg
Die Landschaft des Nationalparks Unteres Odertal bei dem kleinen Ort Stuetzkow in BrandenburgReiner Zensen/imago

Die Zukunft der Oder sichern – aber wie?

Offenbar geschehen die Wunder, nach denen wir Ausschau halten, immer an den Orten, denen wir gerade den Rücken zukehren. Die Oder ist so ein Ort. Unbeachtet räkelt sie sich in den Wiesen. Für den Schiffsverkehr ist sie viel zu flach. Den Fischen gefällt die Ruhe, besonders den selten gewordenen Arten, die auf gemächliches Fließen angewiesen sind.

Alle Menschen, die ich in diesem Text zitiere, habe ich auf dem Kongress „Die Zukunft der Oder sichern“ am 23. März 2023 in Frankfurt/Oder gehört. Bündnis 90/Die Grünen des Landes Brandenburg hatte dazu eingeladen. Einige von ihnen habe ich anschließend noch einmal angerufen, um mich zu vergewissern, dass ich alles richtig verstanden habe, und weil ich weitere Fragen an sie hatte.

Doktor Christian Wolter arbeitet als Fisch- und Gewässerökologe am Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Die Oder ist auch sein Fluss. Auf Kongressen berichtet er Kollegen aus der ganzen Welt von den hohen Quappen- und Zopenbeständen und überrascht sie mit der Information, dass es hier nicht nur den Gründling Gobio gobio gibt, sondern eine zweite, kaum bekannte Art: Romanogobio belingii, den Stromgründling. Auch vom Baltischen Steinbeißer hat Christian Wolter immer Aufnahmen auf seinem Laptop dabei, weil er so selten ist, dass alle ihn sehen möchten.

Ist das vorbei? Kann sich der Fluss erholen? Nicht alle Fische sind umgekommen. Dank der besonderen Morphologie der Oder mit ihren Sandbänken und Nebenläufen konnten sich Lebewesen an Orte retten, an denen die Konzentration des Gifts nicht so hoch war. Bald ist Christian Wolter wieder entlang der Oder unterwegs. Von Ratzdorf im Süden bis Staffelde im Norden prüft er, welche Arten und wie die Jungfische den ersten Winter nach der Katastrophe überlebt haben.

Er und seine Kollegen werden beobachten, wie sich das Nahrungsnetz verändert, wer zum Beispiel das Plankton verzehrt, das bisher die Großmuscheln aus dem Wasser gefiltert haben. Sechzig Prozent der Muschelpopulation sind im letzten Sommer verendet.

Algenwachstum durch Salz

Die französische Europaabgeordnete Marie Toussaint kämpft leidenschaftlich darum, dass Ökozid als Straftatbestand im europäischen Recht verankert wird. Doch wer hat das Fischsterben in der Oder zu verantworten? Steffi Lemke, die Bundesumweltministerin, sagt, es sei nicht klar, wer die Verantwortlichen seien.

August 2022: Viele tote Fische treiben im Wasser des deutsch-polnischen Grenzflusses Oder im Nationalpark Unteres Odertal nördlich der Stadt Schwedt.
August 2022: Viele tote Fische treiben im Wasser des deutsch-polnischen Grenzflusses Oder im Nationalpark Unteres Odertal nördlich der Stadt Schwedt.Patrick Pleul/dpa

Christian Wolter erzählt, wie er und seine Kollegen nach der Ursache suchten: „Mein erster Gedanke, als die toten Fische angeschwemmt wurden, war, dass es eine Folge des Ausbaus der Oder ist, der gerade begonnen hatte. Ich hatte befürchtet, dass die Bauarbeiten Feinsediment aufwühlen, das den Sauerstoffgehalt des Wassers beeinträchtigt. Doch dann sahen wir, dass der Sauerstoffgehalt des Wassers viel zu hoch war. Es gab das Gerücht, dass eine Chemikalie eingeleitet worden sei, die oxidierend wirkt. Wir beobachteten aber, dass der Sauerstoffgehalt am Tag stieg und in der Nacht abfiel, was auf einen Organismus mit Fotosynthese schließen ließ. Letztendlich war ich fast erleichtert, dass es sich ‚nur‘ um eine Alge handelt, deren Gift biologisch abbaubar ist.“

Er weiß, woher die Alge gekommen sein könnte. „Prymnesium parvum ist eine Mikroalge, die Salzwasser bevorzugt. Im Süßwasser stirbt sie. Der Einzeller ist so leicht, dass er vom Wind getragen wird. Es könnte sein, dass die Alge aus der Ostsee in die Oder geweht ist. Die viel zu hohen Salzeinleitungen halten sie am Leben. Sie ist jetzt da und wird unter ähnlichen Bedingungen wie im letzten Sommer wieder dramatisch blühen.“

Greenpeace hat 2022 eine Pressekonferenz in Warschau gegeben, bei der die Namen dreier polnischer Bergbaubetriebe genannt wurden, die permanent Salz in die Oder leiten. Die Menge übersteigt teilweise um das 15-Fache den europäischen Grenzwert. Greenpeace beobachtet diese Betriebe schon lange, hat schon mehrfach am Standort der Bergwerke Wasser entnommen, auch sofort nach dem Ökozid 2022.

Die Bergwerke sind aber möglicherweise nicht die einzigen, die den Fluss vergiften. Satellitenbilder weisen auf einen anderen Verursacher. „Am Ausgangspunkt der Algenblüte gibt es Industrie, die ihre Wasserstoffproduktion im letzten Jahr verdoppelt hat“, erzählt Christian Wolter. „Sie verwenden große Mengen Kochsalz als Elektrolyt. Bei einer Verdopplung der Produktion sind auch die Salzmengen signifikant größer, was erklären könnte, warum es im vergangenen Jahr passierte und in den Jahren davor nicht.“

Ausbau der Oder ist umweltschädigend

Die Aussage von Steffi Lemke, es sei nicht klar, wer die Verursacher der giftigen Algenblüte seien, ist zwar nicht falsch, aber sie kann falsch verstanden werden. Einige wenige Betriebe kommen infrage. Man könnte fordern, dass sie den Beweis erbringen, dass ihr Betrieb die Grenzwerte einhält. Im heutigen Polen ist das undenkbar, und insofern schiebt Steffi Lemke völlig zu Recht den Schwarzen Peter auf die andere Seite der Oder.

Doch auch die Bundesregierung muss ihre Hausaufgaben machen. Im Verkehrsministerium liegt das 2015 beschlossene deutsch-polnische Abkommen über den Ausbau der Oder, um sie schiffbar zu machen. Umweltverbände aus Polen und Deutschland fordern gemeinsam mit dem Land Brandenburg den sofortigen Stopp des Ausbaus der Oder, damit der Fluss sich regenerieren kann. Sie fordern darüber hinaus das generelle Ende des Ausbaus. Gutachten zeigen, dass er zu irreparablen ökologischen Schäden führen würde, beispielsweise zu einem Absinken des Grundwassers in der Region.

Eine Woche nach Beginn des Fischsterbens im August 2022 erteilte der polnische Generaldirektor für Umweltschutz die offizielle Genehmigung für den Ausbau. Begonnen hatten die Bauarbeiten schon vorher mit einer vorläufigen Erlaubnis von der regionalen Behörde für Umweltschutz.

Ein Bündnis hat gegen den Ausbau geklagt. Dazu gehören u.a. die polnische NGO Eko-Unia, der deutsche BUND, Nabu Deutschland, der Deutsche Naturring und das Land Brandenburg. Sie erkämpften einen ersten Sieg bei dem zuständigen regionalen Gericht. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass der gegenwärtige Zustand des Flusses bei der Entscheidung hätte berücksichtigt werden müssen.

März 2022: Schwere Baumaschinen sind am polnischen Ufer des Grenzflusses Oder nördlich von Frankfurt (Oder) im Land Brandenburg im Einsatz. Hier wurde mit dem Ausbau der Wasserstraße begonnen.
März 2022: Schwere Baumaschinen sind am polnischen Ufer des Grenzflusses Oder nördlich von Frankfurt (Oder) im Land Brandenburg im Einsatz. Hier wurde mit dem Ausbau der Wasserstraße begonnen.Patrick Pleul/dpa

Das interessierte den Investor wenig. Es wurde weitergebaut. Am 23. März 2023 bestätigte das oberste Verwaltungsgericht in Warschau das Urteil des Regionalgerichts. Doch die Ausbauarbeiten gehen weiter. Eko-Unia hat jetzt die örtliche Bau-Aufsichtsbehörde angezeigt.

Ein Marsch für die Oder

Wie gelingt es, den Ausbau der Oder zu stoppen? Eine Idee kommt aus der Zivilgesellschaft Polens. „Osoba Odra“, unter diesem Namen wird ein Marsch für die Oder stattfinden, der am 20. April 2023 an der Quelle der Oder in Tschechien beginnt und entlang des Flusses bis zur Mündung im Stettiner Haff führt. Osoba Odra – Person Oder.

Das Bündnis Akcja Demokracja will mit dem Marsch öffentlichkeitswirksam auf die Forderung aufmerksam machen, der Oder den Rechtsstatus einer Person zu verleihen. Beata Bilska, eine Vorstandsfrau der polnischen grünen Partei, hält auf dem Kongress eine leidenschaftliche Rede für Osoba Odra: „Wir sind eine Familie. Die Oder gehört dazu. Ein Familienmitglied lässt man nicht im Stich, wenn es leidet.“

Der Marsch für die Oder wird am 24. Mai 2023 in Höhe des Oderbruchs erwartet. Steffi Bartel, die Leiterin des Naturerlebnishofes Uferloos in Kienitz im Oderbruch unterstützt die Bewegung und wird Interessierten mit Booten über die Oder helfen. Jede:r ist eingeladen, mitzulaufen, und wenn es nur für einen Kilometer ist.

Ebenfalls im Mai bieten Lehrende der Europa-Universität Viadrina Veranstaltungen und öffentliche Vorträge über die Initiative „Osoba Odra“ an. Denn die Idee, einem Biotop den Status einer Person zu geben, ist nicht neu. In einigen Ländern, u.a. in Albanien und Kanada, haben Flüsse die Rechte einer Person. In Europa genießt die spanische Lagune Mar Menor diesen Status. Vom uralten indigenen Weltbild eines belebten Kosmos, in dem jeder Stein eine Persönlichkeit besitzt, kommen wir über diese juristische Definition zurück zu einem angemessenen Umgang mit der Natur.

Endlich hat sich die Schockstarre gelöst. Ein Jahr danach ist Raum für Emotionalität und Begegnung. Und ein großer Name ist auch zu hören: Die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk unterstützt „Osoba Odra“.

Die Autorin legt Wert auf die Verwendung des Doppelpunkts zur Sichtbarmachung aller Geschlechter.

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