Berlin-Mitte, Niederkirchnerstraße, an der Berliner Mauer. Ein junger Mann in kurzer Hose stellt sein Handy an eine Hauswand und nimmt einen TikTok-Tanz auf. Im Hintergrund ist das 200 Meter lange Reststück der Mauer zu sehen. Nach einigen Sekunden läuft er zu seinem Handy zurück und schaut sich die Aufnahme an. Er fährt sich durch die Haare und richtet seine Sonnenbrille.
Es sind nur noch wenige Tage, bis sich die Wiedervereinigung zum 33. Mal jährt. Manche Menschen werden sich bei diesem Tänzer nichts denken, andere sehen darin vielleicht einen Missbrauch dieses Gedenkorts. Immerhin sind unmittelbar wegen der Mauer mindestens 140 Menschen ums Leben gekommen. Andererseits hat der Tänzer diesen Ort vielleicht gerade wegen dieser historischen Bedeutung ausgewählt.
Vor dem Tag der Deutschen Einheit waren in der Redaktion einige Fragen aufgekommen: Wie wichtig sind uns die Gedenkorte mitten in der Stadt überhaupt noch? Bleibt der historische Stellenwert erkennbar, wenn Schulklassen dort im Minutentakt durchlaufen? Und was ist, wenn die Orte schlecht instand gehalten sind oder noch schlimmer: einfach langweilig?
Bildstrecke
An diesem Mauerstück in Mitte jedenfalls steht ein Souvenirstand, er wirkt etwas verlassen. Im Angebot sind: schwarz-rot-goldene Flaggen mit runden Wappen aus Ährenkranz, Hammer und Zirkel. Eine ist jedoch rot-gelb-grün und wird mittig von einem Hanfblatt verziert. Dazu gibt es Matroschkapuppen, in ihre Einzelteile zerlegt und treppenförmig angereiht. Die aufgetürmte Wand an verschiedenfarbigen Fellmützen dazwischen lässt den Tisch darunter fast vollständig verschwinden. Ein Schild sagt in roter Schrift: „We will stamp your passport with the original Checkpoint Charlie stamp!“ Doch niemand ist hier, der einen Checkpoint-Charlie-Stempel in seinen Reisepass will.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite thront in einigen Metern Höhe ein gelber Trabi auf einem runden Sockel, dahinter parkt der riesige blaue Heißluftballon. Auf der Straße ist eine Lücke im Asphalt sichtbar, so breit wie zwei Steine. Sie stellt den Verlauf der Berliner Mauer dar. Aus einer Reisegruppe ist ein Satz zu hören, der fast empört klingt und etwas schwäbisch gefärbt: „Die hat sich ja durch die ganze Innenstadt gezogen!“
Hinter dem Mauer-Reststück steht das Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“. Davor stehen Touristen und machen Selfies. „Aaah, ich hab sie angefasst!“, schreit ein Schüler seinen Klassenkameraden hinterher. Dann besprechen sie das Abendessen in der Jugendherberge.

Nur einige Meter entfernt sagte der DDR-Staatschef Walter Ulbricht im Juni 1961 auf einer Pressekonferenz seinen berüchtigten Satz: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Ulbricht war auch SED-Parteichef und sprach im Großen Festsaal des „Hauses der Ministerien“. Auch solch ein historischer Ort: Heute heißt es „Detlev-Rohwedder-Haus“. Es wurde nach Ende der DDR nach dem ermordeten Chef der Treuhandanstalt benannt und ist Thema einer beeindruckenden Netflix-Dokuserie. In der Nazizeit war es Görings „Reichsluftfahrtministerium“.
Einige hundert Meter entfernt liegt der Checkpoint Charlie, der frühere Kontrollpunkt der West-Alliierten. Es gibt Infotafeln, aber darüber ist noch viel größer ein Banner von der Beach-Bar „Charlie’s Beach“ gespannt. Auf dem Metallzaun sind Holzplatten angebracht, auf die Infotafeln mit viel Text angeschraubt wurden. Die Tafeln „Aufstand des 17. Juni 1953“ und „Bau der Mauer“ drohen, auf den Bürgersteig zu fallen. Das große, eindrucksvolle Bild der Panzerkonfrontation im Oktober 1961 wird von vielen fotografiert. Hinter ihnen versuchen Taxifahrer verzweifelt, ihren Weg durch die Menschen auf der Straße zu bahnen. Von oben blickt etwas teilnahmslos der amerikanische Soldat von einem Foto auf alle herab, auf seinem Namensschild steht „Harper“. Auf der Rückseite des Leuchtkastens schaut ein sowjetischer Soldat ebenso stoisch auf den rumpeligen Teil der Friedrichstraße.
Beide Fotos hat der in Kleinmachnow geborene Fotograf Frank Thiel einst gemacht, vor dem Abzug der Streitkräfte aus Berlin. Er verstand seine Installation als bildliche Darstellung der Sektorengrenzen. Sowohl Thiel als auch der abgebildete Soldat Jeffrey Harper warnen vor der Umgestaltung dieses historischen Ortes für den Kommerz. Checkpoint Charlie soll ein authentischer Gedenkort bleiben, der seine Geschichte für jeden erfahrbar macht. Momentan ist er auch: ein ziemliches Chaos.
Halb Pferd, halb Mensch unterhält am Brandenburger Tor
Auf dem Pariser Platz versuchen dieser Tage ganz viele Touristen gleichzeitig, das gleiche Bild vom Brandenburger Tor zu machen. Nur an einer der sechs Säulen sind die orangefarbenen Reste der Farbattacke der Letzen Generation fast vollständig entfernt, an den anderen sind sie weiterhin deutlich zu erkennen. Auch hier werden TikToks aufgenommen, das sind Profis mit Stativ und Ringlicht. Dass hier bald der Tag der Deutschen Einheit stattfinden wird, kann am Brandenburger Tor derzeit niemand sehen.

Reiseführer versuchen, ihre Gruppen mit bunten Fahnen beisammenzuhalten, denn es hier ist eine Menge los: Drei Jungen in Lederhosen tanzen für Reisegruppen – ist der Hampelmann ein bayerischer Tanz? Daneben verkauft ein Mann Henna-Tattoos. Doch die meiste Aufmerksamkeit bekommt an diesem Tag ein Herr in dunkelbrauner Pferdemaske aus Latex, der auf Töpfen, Eimern und Serviertabletts trommelt. Um ihn herum bildet sich eine Traube.
Ein dezentes, aber sehr wirkungsvolles Erlebnis offenbart sich allerdings in der U-Bahn-Station zwischen Adlon und Starbucks. Zur Öffnung hatte der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit gesagt: „Wir hoffen, dass auch Leute den Ort aufsuchen, die nicht ein Verkehrsmittel nutzen wollen.“ Auf der Rolltreppe hinunter zu den Gleisen fotografieren Touristen die historischen Zitate an den Wänden. „Mr. Gorbachev, tear down this wall!“, sagte Ronald Reagan. Willy Brandt sagte: „Schießen Sie nicht auf die eigenen Landsleute!“ Noch 1989 sagte Erich Honecker: „Die Mauer wird auch in 50 oder in 100 Jahren noch bestehen.“
„Jetzt können wir hier einfach durchgehen“
An der Kreuzung Bernauer Straße/Brunnenstraße bleiben Menschen immer wieder vor einer Hauswand stehen, den Kopf im Nacken. Auf der Hauswand ist die weltbekannte Momentaufnahme des über Stacheldraht springenden Grenzpolizisten zu sehen – riesig. Ihnen ist anzumerken, dass sie berührt sind, von dem Ort und dem Bild. Rostende Stahlstangen zeigen den Verlauf der Mauer an, schränken aber nicht mehr die Sicht, Mobilität und so vieles mehr ein. Eine Frau zu ihrem Partner: „Jetzt können wir hier einfach durchgehen.“
Die 1,3 Kilometer lange Gedenkstätte ist auch an Wochentagen gut besucht. Der frisch gemähte Rasen ist voller Leute, an denen links und rechts Radfahrer einer geführten Radtour vorbeifahren. Auf einer Informationstafel steht zwar, dass „Radfahren im Bereich der Gedenkstätte zu unterlassen“ sei, aber das ist immer noch Berlin hier. Für manche ist das Mauergefühl zu abstrakt dargestellt. Andere spricht das Außenareal der Gedenkstätte Berliner Mauer gerade wegen seiner Schlichtheit an.

In der Nähe vom Nordbahnhof können Besucher durch Spalten in der ehemaligen Hinterlandsmauer direkt auf den Todesstreifen blicken. Im Todesstreifen steht ein Wachturm und ein einsamer Stromkasten, darin: eine Bierflasche einer Craftbier-Marke. Noch besser ist der Blick von der Aussichtsplattform des gegenüberliegenden Dokumentationszentrums.
Einige Stockwerke tiefer, in der Ausstellung des Dokumentationszentrums, sitzt eine große Runde um den Bildschirm, der Aufnahmen des 9. November zeigt. Sie schauen sich mehrere Wiederholungen des Filmmaterials an, sehen die Menschen am Grenzübergang Bornholmer Straße und hören ihre Rufe lauter werden: „Tor auf!“
Jemand, der diese Nacht miterlebt hat, ist Jens Blankennagel, Redakteur der Berliner Zeitung. In seiner Reportage „Die Nacht der Nächte“ erinnert er sich an jene Nacht, an die Maueröffnung und die neuen Möglichkeiten. Wie der Fotograf Frank Thiel hätte er sich einen Ort gewünscht, der Geschichte erfahrbar macht. „Eine Art Checkpoint-Charlie-Disneyland, aber im positiven Sinne.“ Einen dieser Orte hätte es doch wenigstens 33 Jahre später geben können oder: sollen?














