Sechs Punkte umfasst die Anklageschrift, fünf davon drehen sich um den Missbrauch eines Kindes. Zum Oralverkehr und zu weiteren sexuellen Handlungen soll es gekommen sein. Punkt für Punkt verliest die Vertreterin der Staatsanwaltschaft am Dienstag im Saal 618 des Kriminalgerichts Moabit, was sie dem Angeklagten vorwirft. Dieser verfolgt den Prozessauftakt weitgehend regungslos, die Hände ineinander verschränkt.
Ende 1997, Anfang 1998 soll der mutmaßliche Missbrauchsfall begonnen haben, genau datieren lässt sich das nicht mehr. Über die Tatvorwürfe hatte die Berliner Zeitung vor zwei Wochen exklusiv berichtet. Zum Prozessauftakt führt die Staatsanwältin aus, dass der Angeklagte die Sonderfahrt mit einer historischen S-Bahn begleitet habe – was er als Mitglied des Vereins Historische S-Bahn offenbar noch bis 2008 immer wieder tat. Einen elfjährigen Jungen, eisenbahnbegeistert wie der Angeklagte, soll er damals dazu eingeladen haben.
Noch bei jener Fahrt soll es der Anklage zufolge zur ersten Tat gekommen sein. Der Mann, damals Anfang 30, soll mit dem Jungen im Wagon geblieben sein, als die Sonderfahrt bereits beendet war und der Zug in das Betriebsgelände einrollte. Noch in der S-Bahn, so die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft, habe er das Kind teilweise entkleidet, angefasst und sich selbst befriedigt.
Vor der Großen Strafkammer in Moabit ist das mutmaßliche Opfer – heute längst ein erwachsener Mann – als Nebenkläger erschienen. Anders als der Angeklagte wirkt er deutlich bewegt. Als die Staatsanwältin den fünften Punkt ihrer Anklageschrift vorträgt, verlässt er hastig den Raum, kehrt erst nach einigen Momenten zurück. Die letzte mutmaßliche Missbrauchshandlung, die dem Angeklagten zur Last gelegt wird, soll sich nach Auffassung der Staatsanwaltschaft irgendwann vor dem Sommer 2000 ereignet haben. Unklar blieb, ob es die letzten mutmaßlichen Taten gewesen sein sollen – oder ob weitere Vorwürfe existieren, die aufgrund des dann höheren Alters des mutmaßlichen Opfers aber verjährt wären.
Im Keller fanden Ermittler CDs mit einschlägigen Fotos
Der sechste und letzte Punkt der Anklage hat keinen direkten Bezug zum mutmaßlichen Missbrauch. Es ist der wohl klarste Vorwurf: Bei einer Durchsuchung hatten Ermittler im Juli 2024 im Keller des Angeklagten drei CDs mit insgesamt 536 kinderpornografischen Bildern gefunden. Auch deshalb geht die Staatsanwaltschaft von einem hinreichenden Tatverdacht aus. Unabhängige Zeugen für die Missbrauchsvorwürfe gibt es nicht oder sind bis heute nicht bekannt. In einer Stellungnahme auf seiner Internetseite zeigte sich der Vorstand des Vereins Historische S-Bahn Berlin (HISB) „erschüttert“ über die Vorwürfe und erklärte, dass der Tatverdächtige seit über zehn Jahren nicht mehr im Verein aktiv sei. „Wir möchten betonen, dass die Züge unseres Vereins ein sicherer Ort für Kinder und Familien sind“, heißt es in der Erklärung, die der HISB-Vorsitzende Robin Gottschlag im Namen des Vereinsvorstandes vor einigen Tagen veröffentlichte.
Der Berliner Zeitung hatte Gottschlag zuvor gesagt, dass ihn „Gerüchte“ über die Vorwürfe bereits vor einigen Wochen erreicht hätten. Der Angeklagte habe sich nach dem zwischenzeitlichen Aus der historischen S-Bahn-Sonderfahrten nach dem Jahreswechsel 2008/09 im Verein zurückgezogen und sei vor allem im S-Bahn-Museum aktiv gewesen. Dort hatte er den öffentlichen Angaben des Museums zufolge bis vor wenigen Tagen noch eine offizielle Funktion.
Der Geschäftsleiter des S-Bahn-Museums, Udo Dittfurth, hatte eine Anfrage der Berliner Zeitung Mitte April zunächst unbeantwortet gelassen und bei einem Anruf nach kurzer Zeit den Hörer aufgelegt, ohne auf konkrete Fragen einzugehen. Auf erneute Anfrage übermittelte das S-Bahn-Museum nun ebenfalls eine Stellungnahme. Darin heißt es, es sei kein Zusammenhang zwischen Beschuldigungen und dem S-Bahn-Museum bekannt. In Einrichtungen oder Veranstaltungen des Museums würden Kinder nie unbegleitet gelassen. Darüber hinaus werde man sich zu vereinsinternen Abläufen oder Personalien nicht äußern. Vorwürfe gegen das Museum oder den Verein Historische S-Bahn erhob die Staatsanwaltschaft nicht.
Richterin bringt Verständigung ins Gespräch
Vor Gericht sollte am Dienstag eigentlich der Nebenkläger aussagen. Dazu kam es jedoch nicht. Wenige Tage vor der Verhandlung hatte die Verteidigerin des Angeklagten beim Gericht einen Deal ins Gespräch gebracht. Zunächst unter Ausschluss der Öffentlichkeit ließ die Große Strafkammer diese Idee nun weiter erörtern. Anschließend brachte die Vorsitzende Richterin eine Verständigung ins Gespräch, für die der Angeklagte ein Geständnis ablegen müsste – und dann vergleichsweise glimpflich davonkäme, mit einer Bewährungsstrafe von höchstens zwei Jahren.


