Landgericht Berlin

Der Fall Kristof M.: Vom hoffnungsvollen Autor zum Kettensägen-Angreifer?

Donnerstag wird das Urteil gegen den Berliner erwartet. Im Wahn soll er eine Nachbarin getötet und ihren Mann attackiert haben. In seiner Wohnung fand sich ein Aluhut. 

In diesem Haus wurde Diana G. von ihrem Nachbarn getötet, ihr Lebensgefährte wurde mit einer Kettensäge lebensgefährlich verletzt.
In diesem Haus wurde Diana G. von ihrem Nachbarn getötet, ihr Lebensgefährte wurde mit einer Kettensäge lebensgefährlich verletzt.Markus Wächter/Berliner Zeitung

In der Nacht zum 6. Januar 2023 klingelt um 2.21 Uhr in der Notrufzentrale der Berliner Polizei das Telefon. Eine Frauenstimme fleht: „Können Sie kommen, hier sägt einer unsere Türe auf!“ Im Hintergrund wird es immer lauter. „Jetzt dreht er durch. Kommen Sie schnell, kommen Sie schnell“, schreit die Frau panisch. Dann ist ein Mann zu hören: „Hau ab“, brüllt er. Eine andere männliche Stimme antwortet: „Das ist eine Hexe.“ Jemand weint. Dann ist Ruhe.

Als Polizisten kurz darauf an dem zehngeschossigen Plattenbau im Lichtenberger Ortsteil Fennpfuhl eintreffen, kommen sie nicht ins Haus. Die Eingangstür ist abgeschlossen, der Summer, den viele Bewohner drücken, nutzt nichts. Die Beamten müssen eine Frau aus dem Erdgeschoss herausklingeln, damit sie ihnen mit einem Schlüssel öffnet. Die Tür, so heißt es später, werde sonst nie abgeschlossen.

Auch der Fahrstuhl funktioniert nicht, obwohl er nicht defekt ist. Im Hausflur dringt von oben Lärm herunter und leichter Qualm. Die Besatzungen der beiden Funkwagen eilen die Treppen hinauf. Sie müssen zur Wohnung von Diana G., der Anruferin. Die 52-Jährige wohnt zusammen mit ihrem gleichaltrigen Lebensgefährten Michael K. und ihrem kleinen Hund in der vierten Etage.

Kristof M. (35) vor Gericht. Ihm werden Totschlag und versuchter Mord vorgeworfen.
Kristof M. (35) vor Gericht. Ihm werden Totschlag und versuchter Mord vorgeworfen.Katrin Bischoff/Berliner Zeitung

Der Krach wird mit jeder Stufe, die die Polizisten nach oben steigen, lauter, der Rauch dichter. Im vierten Stockwerk funktioniert der Bewegungsmelder für das Licht nicht. Vor der geöffneten Wohnungstür von Diana G. und Michael K. liegt eine Kettensäge, sie arbeitet im Leerlauf. 

Im Hausflur stehen fünf Wein- und Schnapsflaschen. Sie sind mit Benzin gefüllt. In den Flaschenhälsen stecken brennende Stofffetzen. Es sei ein gespenstisches Szenario gewesen, erzählt ein Polizist später vor Gericht. 

Im diffusen Licht ist überall Blut zu sehen – auf dem Boden, an den Wänden, selbst an der Decke. Die Fahrstuhltür steht offen, ein Holzstück blockiert sie. Am Boden des Treppenhauses ist ein Nagelbrett fixiert. Die Polizisten können ausweichen.

Für die Frau, die in höchster Not die 110 gewählt hat, kommt jede Hilfe zu spät. Diana G. liegt im Flur ihrer Wohnung, sie wurde mit drei wuchtig geführten Stichen einer Machete erstochen, wie die Obduktion später ergibt.

Ihr Lebensgefährte Michael K., ein Bundespolizist, ist lebensgefährlich verletzt. Er hatte sich dem Täter, der die Tür des Paares mitten in der Nacht mit einer Kettensäge fast aufgesägt hatte, in den Weg gestellt und dabei in die Säge gegriffen.

Er hatte nur ein Ziel: seine Nachbarin zu töten

Doch es half nichts. Der Angreifer fügte Michael K. mit der Kettensäge tiefe Schnitte im Gesicht und am linken Arm zu – um ihn aus dem Weg zu räumen. Michael K. rutschte in seinem Blut aus, sodass den Gewalttäter nichts mehr daran hindern konnte, sein eigentliches Ziel zu verwirklichen: Diana G. zu töten.

Die Polizisten sehen, dass einen Treppenabsatz höher der mutmaßliche Angreifer steht. Es ist der Nachbar Kristof M. Er trägt Tarnkleidung und eine Funktionsweste, in der mehrere Messer stecken. Eine Stirnlampe spendet Licht. In der Hand hält er ein großes Messer. Die Staatsanwältin vermutet später, dass er auf dem Weg zu seinem nächsten Opfer war, das er umbringen wollte: einem jungen Mann, der direkt über ihm wohnte. In seinem Wahn hielt er ihn ebenso für eine Gefahr wie Diana G.

Dreimal müssen die Polizisten Kristof M. auffordern, bis er gehorcht, das Messer fallen lässt und sich auf den Boden legt.

Ein halbes Jahr später sitzt Kristof M. auf der Anklagebank des Landgerichts Berlin, ohne Angeklagter zu sein, wie es heißt. Er ist Beschuldigter, weil er im Zustand der Schuldunfähigkeit seine Nachbarin getötet und deren Lebensgefährten beinahe umgebracht hat. Kristof M. leidet an einer paranoiden Schizophrenie. Er war der festen Überzeugung, dass Diana G. und der andere Nachbar ihn umbringen wollten.

Staatsanwältin Silke van Sweringen will, dass der 35-Jährige in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen wird. Auch die Anwältin des Bundespolizisten, der den Kettensägen-Angriff überlebt hat, schließt sich der Forderung an. Die Verteidigerin betont, sich dem Antrag nicht entgegenstellen zu wollen. Am Donnerstag soll das Urteil gesprochen werden.

Was in diesen Tagen vor der 32. Schwurgerichtskammer mit einem Urteil enden wird, ist ein entsetzlicher Albtraum. Ein Horror, den auch viele Hausbewohner miterlebten und aus dem Michael K. wohl nie wieder erwachen wird. Er hat sich dem Kettensägen-Angreifer entgegengestellt, verlor dabei einen Finger, konnte den Tod seiner Frau jedoch nicht verhindern. Eine Notoperation rettete sein Leben – dabei erlitt er einen Schlaganfall.

Kriminaltechniker sichern in der Tatnacht Spuren im Haus. 
Kriminaltechniker sichern in der Tatnacht Spuren im Haus. Pudwell

„Über ihn ist dieses Unglück aus heiterem Himmel gekommen“, sagt Staatsanwältin van Sweringen in ihrem Plädoyer. Ohne dass es eine Vorbeziehung zwischen den Opfern und dem Täter gegeben hätte. Ohne jeden Anlass. Ohne Streit. Ohne Anzeichen. Oder gab es sie doch?

Kristof M. hatte vor zwei Jahren seinen Vater körperlich attackiert, war dafür vom Amtsgericht Tiergarten zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Sein Vater habe Hilfe gesucht, sagt die Anwältin des Beschuldigten. Kristof M. hatte seiner Nachbarin Diana G., wenn er ihr allein im Haus begegnete, zugeraunt: „Du wirst sehen, es wird dir noch etwas passieren.“

War sie mit ihrem Mann unterwegs, grüßte Kristof M. freundlich. Seine Frau habe sich unbehaglich gefühlt, wenn sie dem Nachbarn begegnet sei. Sie sei einfach weitergegangen, sagt der Lebensgefährte von Diana G. vor Gericht. Aber bedroht gefühlt habe sie sich nicht. Auch er nahm die Provokationen nicht ernst.

Kristof M. lebte seit Jahren in der Einraumwohnung in der vierten Etage. Wie kann ein eigentlich unauffälliger Nachbar plötzlich mit einer Kettensäge und einer Machete losziehen und dieses entsetzliche Blutbad anrichten?

Groß und schlank ist der Beschuldigte. Er trägt einen fusseligen Kinnbart und schulterlange Haare. An allen bisherigen vier Verhandlungstagen trug er stets dasselbe schwarz-weiß karierte Hemd. Er schaut mit finsterem Blick auf die Zeugen. An die Einzelheiten der Tat könne er sich nicht mehr erinnern, hat seine Anwältin erklärt. Es sei für Kristof M. nicht vorstellbar, dass er solche Taten begangen habe. Er habe in seiner kranken Welt riesige Ängste gehabt, selbst getötet zu werden.

Es gibt ein Foto von dem Beschuldigten, das vor vier Jahren in einer Zeitung in Berlin erschien. Auf dem Bild ist ein großer, sportlich wirkender Mann mit gepflegtem Oberlippenbart und kurzen Haaren zu sehen. Kristof M. sieht auf dem Bild sympathisch aus, wie er verschmitzt in die Kamera lächelt und die Hände lässig in die Taschen seiner Hose steckt.

Aufgenommen wurde das Foto, weil Kristof M. Hobbyautor und offenbar talentiert war. Er hat damals in einem Literaturwettbewerb in Berlin den siebten Platz belegt. Sein kurzer Prosa-Text wurde daraufhin in einem dünnen Büchlein abgedruckt. Er schrieb Sätze wie: „So sitzen wir auf dem Treibholz und schweigen in die Wellen: Hinter uns rauschen die Bäume, vor uns das salzige Meer.“

Die Teilnahme an dem Wettbewerb habe er als literarische Herausforderung verstanden, ist in dem Büchlein über ihn zu lesen. Diese Zeit, noch gar nicht lange her, scheint nun Lichtjahre entfernt. Er habe geplant, ein Buch zu schreiben, erzählte Kristof M. dem psychiatrischen Gutachter. Corona habe das Projekt beendet. Wäre das alles ohne die Pandemie nie geschehen?

Kristof M. wuchs in Spandau auf. Sein Vater ist Ingenieur, seine Mutter nennt er im Gespräch mit dem Sachverständigen konfliktscheu. Sein Abitur legte er mit der Note 2,4 ab. Danach erlernte er den Beruf des biologisch-technischen Assistenten. Er absolvierte den Zivildienst, betreute Behinderte.

So sitzen wir auf dem Treibholz und schweigen in die Wellen: Hinter uns rauschen die Bäume, vor uns das salzige Meer.

Kristof M. in seinem prämierten Autorentext

Es folgte ein Studium der Biochemie in Sachsen-Anhalt, doch Kristof M. war überfordert. Vier Semester lang hielt er durch. Dann rasselte er durch alle Prüfungen, sagt der Gutachter. Kristof M. habe sich danach nur noch um sich selbst gedreht. Seine Freundin verließ ihn, die Depressionen kamen.

2015 kehrte er nach Berlin zurück, wohnte zunächst im Haus seiner Eltern, arbeitete im Büro seines Vaters. Nach seiner Kündigung zog er in die Einzimmerwohnung in Fennpfuhl. Er meldete sich nicht arbeitslos, wurde offenbar von den Eltern finanziell unterstützt. Der Missbrauch von Alkohol, Cannabis und Speed brachte ihn schließlich in eine Tagesklinik.

Seit 2017 sei der Zustand von Kristof M. zusehends schlimmer geworden, so der Gutachter. Er habe zum Schluss keine Post mehr geöffnet, die Wohnung kaum noch verlassen, über Suizid nachgedacht. Kristof M. erzählte dem Sachverständigen, dass die Nachbarn ihn seit zwei Jahren bedroht hätten. Auf ihn sei geschossen worden, man habe ihn vergiften wollen.

Er aß nur noch Zucker, um nicht vergiftet zu werden

Kristof M. aß nur noch Zucker. Er hörte Stimmen, war der Meinung, seine Nachbarn würden schlecht über ihn reden, hätten es auf ihn abgesehen. Der Psychiater spricht von Verfolgungswahn, von vermeintlichen Bedrohungen, von Vergiftungserleben. Kristof M. sei nur noch mit einem Messer ins Bett gegangen. Die Fenster hatte er mit Aluminiumfolie verhängt, um vermeintliche Strahlen abzufangen. Die Polizei fand später einen Aluhut in seiner Wohnung. Der Sachverständige sagt, Kristof M. sei zum Tatzeitpunkt in einer akut psychotischen Verfassung gewesen.

Die pedantische Planung der Tat spreche nicht gegen die Schuldunfähigkeit, erklärt der Gutachter. Kristof M. habe nicht von seinen wahnhaften Ideen abweichen können. Schon im September 2022 kaufte der Beschuldigte die Kettensäge, kurz vor der Tat fünf Liter Benzin. Die Polizei fand in einem Rucksack, der in der Wohnung von Kristof M. stand, zwölf Flaschen, die mit Benzin gefüllt waren, und Klebeband, mit dem er in der Tatnacht offenbar den Türspion seiner Nachbarn verklebt hatte.

Es ist grauenvoll, was sich in dem Haus abgespielt hat. Er habe sich wie in einem Horrorfilm gefühlt, sagt ein 76-jähriger Hausbewohner vor Gericht als Zeuge aus. Er hatte in jener Nacht den Krach im Haus gehört. Im Schlafanzug war er von der achten Etage die Treppen hinuntergelaufen, um dem Lärm auf den Grund zu gehen. In der vierten Etage habe er die Lichter auf dem Boden gesehen, die wie Kerzen aussahen, und diesen Mann, der sich mit einem Messer in der Hand zu ihm gedreht und „verpiss dich“ gezischt habe, erzählt der Zeuge. Schleunigst sei er in seine Wohnung zurückgekehrt und habe die 110 gewählt.

Auch der unmittelbare Nachbar von Kristof M. und Diana G. wurde von dem Lärm wach, er öffnete nur kurz die Tür, alarmierte dann sofort die Polizei. Der 78-Jährige sagt, viele Bewohner hätten sich nach der Tat lange Zeit nicht vor die Tür getraut. Er habe noch die furchtbaren Schreie seiner Nachbarin im Ohr, Todesschreie.

Die Staatsanwältin Silke van Sweringen spricht davon, dass es immer häufiger solche Fälle gebe, bei denen mutmaßlich psychisch Kranke schwere Gewalttaten begehen. Das Problem sei die Vereinsamung in der Großstadt. Niemand bekomme mit, was in den Köpfen der Betroffenen vorgehe. Leider sei es auch so, dass „erst etwas passieren muss, damit die Mitmenschen vor einem solchen psychisch Kranken geschützt werden können“.

Auch die Verteidigerin des Beschuldigten sagt, in einer Großstadt wie Berlin „flutschen psychisch Kranke“ durch. Die Anwältin des von der Tat gezeichneten Bundespolizisten spricht davon, dass in Fällen wie diesem auch die Gesellschaft versagt habe. Der sozialpsychiatrische Dienst sei chronisch mit viel zu wenig Personal ausgestattet.

Und Kristof M.? Er äußert für das, was er getan haben soll, kein Bedauern, verliert keine Silbe über den Tod von Diana G. Sein letztes Wort vor der Urteilsverkündung: „Ich hatte nicht vor, den Herrn K. zu töten.“