Der viel befahrene Kaiserdamm wird für mindestens ein halbes Jahr gesperrt sein. Die U2 ist es schon seit Monaten wegen Pfusch auf einer Baustelle am Alexanderplatz. In Berlin gibt es Baustellen, die täglich Zehntausende in Stress versetzen. Aber keine steht so sehr dafür, wie die deutsche Hauptstadt (nicht) funktioniert, wie das Bau-Chaos im Köpenicker Ortsteil Grünau.
Berlins irrsinnigste Baustelle in Stichworten:
Verfall: Seit der Wende verfielen an der Grünauer Regattastraße die ehemaligen Ausflugslokale Gesellschaftshaus und Riviera, die Ende des 19. Jahrhunderts errichtet wurden.
Spekulationsobjekt: Im Jahr 2006 erwirbt ein Geschäftsmann das Gelände und ein Grundstück auf der anderen Straßenseite für 605.000 Euro von der Treuhand. Im Jahr 2017 verkauft er die Grundstücke für 15 Millionen Euro an die Terragon AG, die hier eine Seniorenresidenz mit 208 Wohnungen errichten wird. Das Bezirksamt hat nichts dagegen, dass das unter Denkmalschutz stehende Bauensemble weitgehend abgerissen wird. Nur der Riviera-Saal soll denkmalgerecht saniert und das Gesellschaftshaus mit seinen wesentlichen Elementen erhalten bleiben.
Brandstiftung: Mysteriöserweise brennt kurz vor Baubeginn im Juli 2019 das unter Denkmalschutz stehende Gesellschaftshaus ab. Die Polizei geht von Brandstiftung aus, kann den oder die Täter bis heute nicht ermitteln. Genaue Denkmalschutzvorgaben gibt der Bezirk der Terragon für den Wiederaufbau nicht. Und so reißen die Bauherren von der noch vorhandenen Bausubstanz mehr als nötig ab, wie Mitglieder des Ortsvereins Grünau kritisieren. Der Rest beider Häuser wird in die Neubauten integriert.
Müll-Baustelle: Auf dem Gelände und auf einem Grundstück gegenüber wachsen klotzartige Häuser, die mit ihren fünf Geschossen die umgebenden Häuser überragen. Auch das hat das Bezirksamt genehmigt. Die Baustelle, auf der unzählige Subunternehmen zugange sind, ist von Anfang an vermüllt und chaotisch.

Geschockte Senioren: Die geplante Fertigstellung der Seniorenresidenz bis Ende 2021 verzögert sich. Als Senioren, die ihre Wohnungen gekündigt haben, in die ersten Häuser einziehen wollen, gibt es noch kein Wasser. Andere Mieter müssen in Hotels unterkommen, weil die Wohnungen noch gar nicht fertig sind.
Beton im Abwasserkanal: Als im Sommer 2022 Mitarbeiter der Berliner Wasserbetriebe routinemäßig mit einer Kamera den Schmutzwasserkanal unter der Straße inspizieren, entdecken sie, dass die Hälfe des 30 Zentimeter dicken Durchmessers voller Beton ist. Er ist auf einer Länge von 150 Metern ausgehärtet. Wahrscheinlich stammt er von der Baustelle zu beiden Seiten. Ob jemand ihn aus einem Betonmischer absichtlich in einen Gully füllte oder ob bei einer der Fundamentgründungen ein Abwasserkanal getroffen wurde, ist unklar.
Fräsen demoliert: Mitarbeiter der Wasserbetriebe wollen die Leitung freifräsen. Dabei büßen sie drei Fräsen ein. Eine Spezialfirma versucht es mit einem Hochdruck-Spülwagen. Der Wasserstrahl mit 2000 bar soll den Beton lösen. Doch der Beton lenkt die Spülköpfe ab, die den Kanal durchschlagen. Um sie zu bergen, muss die Straße das erste Mal aufgegraben werden.
Der Entschluss: Die Wasserbetriebe beschließen im August vergangenen Jahres, den Schmutzwasserkanal auf 150 Metern auszuwechseln. Die Straße wird gesperrt.
Die Gasleitung: Beim Aufgraben wird eine bis dahin unbekannte Gasleitung beschädigt. Wegen des ausströmenden Gases muss ein Flügel der Seniorenresidenz evakuiert werden. Die Netzgesellschaft Berlin-Brandenburg muss eine neue Gasleitung verlegen.
Das Kabel: Weil bei den Bauarbeiten später ein Glasfaserkabel durchtrennt wird, sind die umliegenden Bewohner ohne Internet.
Baupause: Wochenlang passiert auf der Baustelle nichts. Die Gasag handelt mit der Baufirma die Konditionen aus, die ihren technischen Standards entsprechen. So lange können die Wasserbetriebe nicht weitermachen.
Wieder Pause: Die Wasserbetriebe sind im November fertig. Trotzdem bleibt das Wirrwarr an Absperrgittern. Der Wasserversorger muss mit dem Straßen- und Grünflächenamt des Bezirks über die Wiederherstellung der Straße verhandeln. Doch im Amt ist niemand zu erreichen.
Weihnachten: Die Baufirma geht für mehrere Wochen in Betriebsurlaub. Am 23. Januar finden erstmals Verhandlungen zwischen Wasserbetrieben und Bezirksamt über die Wiederherstellung der Fahrbahn statt. Eine Einigung kommt wegen unterschiedlicher Vorstellungen über die Höhe der Kosten nicht zustande. Das Amt will auch den Eigentümer des Riviera-Geländes an den Kosten beteiligen, weil seine Bauarbeiten zu weiteren Schäden an der Straße geführt hätten.
Pleite: Die Terragon AG wird sich nicht an den Wiederherstellungskosten beteiligen. Denn sie ist inzwischen pleite. Weg sind auch die Anleihen im Wert von 25 Millionen Euro, die sie an kleine und große Anleger ausgegeben hat.

Trinkwasser weg: Inzwischen ist die Fahrbahn fast fertig, die Bordsteine sind gesetzt. Fehlt nur noch die oberste Asphaltdecke. Doch in der Nacht zum 28. April passiert das nächste Malheur: Unter dem neuen Straßenbelag, bei der Hausnummer 170, geht eine Trinkwasserleitung kaputt, die Wasserhähne der Seniorenresidenz und umliegender Häuser bleiben trocken. Dafür werden Bürgersteig und Straße zu einem See.
Noch mehr Löcher: Die Wasserbetriebe beheben den Schaden, indem sie um das Rohr eine Schelle setzen. Dienstag dieser Woche passiert es wieder: Unmittelbar daneben gibt es das nächste Loch in der Leitung. Wieder wird es repariert. Zwar hat das Unternehmen in der Straße einen Teil der gusseisernen Trinkwasserleitung aus dem Jahr 1940 erneuert, nicht jedoch an dieser Stelle. Doch nicht nur die Rohrbrüche sorgen für neue Löcher im neuen Asphalt. Bei einer Untersuchung per Kamera wird festgestellt, dass auch zwei Gully-Abläufe kaputt sind – wohl wegen der Erschütterungen vom Bau oder schwerer Lasten. Die alten Abläufe aus Steinzeug wurden zwar mit neuem Asphalt überdeckt, aber nicht gewechselt. Das soll jetzt bis Freitag geschehen. Im Ergebnis muss der neue Asphalt gleich an drei Stellen wieder aufgehackt werden.
Wie es weitergeht: Das Straßen- und Grünflächenamt lässt über eine Bezirksamtssprecherin in dieser Woche ausrichten, dass die Berliner Wasserbetriebe die Asphaltarbeiten zur Wiederherstellung der Fahrbahn abbrechen mussten. „Weitere Details zum Umfang der nun erforderlichen Arbeiten liegen dem Bezirksamt jedoch noch nicht vor“, so die Sprecherin.
Weitere Bauarbeiten: Nach den jüngsten Rohrbrüchen wollen Bezirk und Wasserbetriebe die Trinkwasserleitung bis zur Libboldallee tauschen. Es soll aber keinen langen Baugraben geben, sondern nur an jedem Hausanschluss eine Grube. Die Wasserbetriebe hoffen, dass das bis Juni erledigt ist.






