Dass die neue Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) geplante Radwegprojekte in Berlin stoppen möchte, ist bekannt. Doch dass eine bereits bestehende Radverkehrsanlage aufgehoben wird, ist neu. Genau das wird aus dem Bezirk Reinickendorf berichtet. Dort wurden in der Ollenhauerstraße Markierungen für Radfahrstreifen mit gelben Folien überklebt und damit für ungültig erklärt. Das bestätigte Bernd Zanke vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) am Dienstag. Noch vor kurzem sei an der Anlage gearbeitet worden, sagte er der Berliner Zeitung.
„Unfassbar! Jetzt stellt die CDU in Berlin nicht nur Radwege in Frage, sondern baut sie sogar wieder ab! In Reinickendorf musste der erste Radweg dran glauben“, twitterte die Berliner Grünen-Verkehrspolitikerin Antje Kapek. Sie veröffentlichte ein Foto von der Ollenhauerstraße. Das Bild zeigt weiße Fahrradembleme auf dem Asphalt, die mit gelben Klebefolien durchgestrichen worden sind. Ein Anruf bei Bernd Zanke in Reinickendorf ergab: Ein fast fertiger Radfahrstreifen wird als solcher nicht dem Verkehr übergeben.
„Ich hatte schon erwartet, dass es Ärger gibt“, sagte Zanke, der sich seit Jahren in der bezirklichen Verkehrspolitik engagiert, am Dienstag. Schließlich war absehbar, dass für die geplanten Radfahrstreifen Autostellplätze wegfallen müssten – er schätzt deren Zahl auf hundert. Dazu soll es nun aber offenbar nicht mehr kommen. Ein Ortstermin am Dienstag habe ergeben, dass neben den durchgestrichenen Fahrradsymbolen in der Ollenhauerstraße Autos parkten, sagte Zanke. Und so soll es offenbar auch bleiben.
Die Arbeiten in der Ollenhauerstraße hatten Ende vergangenen Jahres begonnen. Sie waren unter der Grünen-Politikerin Korinna Stephan, die damals zuständige Stadträtin war, in Angriff genommen worden. Auf einem Teilstück wurde sogar ein Autofahrstreifen aufgehoben und in die Radverkehrsanlage integriert. In den vergangenen Wochen wurde der Abschnitt dann verlängert. Dabei seien außer den Fahrradsymbolen auch durchgezogene Linien auf den Asphalt aufgebracht worden, berichtete Zanke. „Sie dürfen nicht überfahren werden“ – aber die Fahrer der Autos, die auf dem fast fertigen Radfahrstreifen parken, halten sich offenbar nicht daran.
Das ADFC-Mitglied schätzt die bisherigen Kosten, die der Bezirk aufgewendet habe, auf einen fünf- oder sechsstelligen Eurobetrag. Die Ausgaben seien nun offenbar umsonst.

Vor wenigen Tagen schien die neue Radverkehrsanlage fertig zu sein. Doch inzwischen hatte die neue Verkehrssenatorin Manja Schreiner angekündigt, dass die Senatsverwaltung Radwegprojekte überprüfen und infrage stellen wird, wenn sie den Autoverkehr beeinträchtigen. „Aus meiner Sicht ist es nicht immer sinnvoll, Kraftfahrzeugen Fahrstreifen zu entziehen, um sie auf ganzer Breite zu Radverkehrsanlagen umzugestalten. In jedem Fall muss analysiert werden, wie dies den Verkehrsfluss beeinflusst“, sagte die Christdemokratin im Interview mit der Berliner Zeitung. „Ich werde einige Radwegprojekte infrage stellen.“
Senat will in ganz Berlin Radwegprojekte auf Eis legen
Am Freitag präzisierte die Senatsverwaltung, dass Radwegprojekte in Berlin, für die Fahrstreifen oder mehr als zehn Autostellplätze wegfallen müssten, auf Eis gelegt werden. Die Vorhaben müssten ruhen, solange sie überprüft und priorisiert werden, hieß es. Zu den Kriterien gehört: „Welche Alternativen zu den derzeitigen Planungen gäbe es, damit Einschränkungen für den motorisierten Individualverkehr und des ruhenden Verkehrs gegebenenfalls geringer ausfallen würden?“
An dieser Vorgabe habe sich die neue Reinickendorfer Bezirksstadträtin für Ordnung, Umwelt und Verkehr, Julia Schrod-Thiel (CDU), jetzt offenbar orientiert, sagte Bernd Zanke. Für ihn ist absehbar, dass die bislang ebenfalls geplanten Radfahrstreifen in der Roedernallee nicht umgesetzt werden. Denn auch für diese Radspuren müssten Autostellplätze wegfallen.
Die Berliner Zeitung fragte am Dienstagmorgen das Bezirksamt Reinickendorf, warum der Radfahrstreifen in der Ollenhauerstraße aufgehoben worden sei – und wie es nun weitergehe. Die Antwort, die am Nachmittag aus dem Büro von Stadträtin Schrod-Thiel kam, lautete: „Da zunächst die Senatsverwaltung in Prüfung der einzelnen Projekte ist und wir dann auch deren Ergebnis prüfen müssen, können wir derzeit keine Aussage treffen, da zum Beispiel neben den Fragen zu den Finanzen noch weitere Aspekte zu berücksichtigen sind.“
Fahrradlobby plant für den 1. Juli Demonstration in Reinickendorf
Der ADFC Berlin kündigte eine Demonstration an, die am 1. Juli um 14.30 Uhr am S-Bahnhof Waidmannslust beginnen soll. Die Forderung lautet: „Mehr Sicherheit für Radfahrende im ‚Bermudadreieck Reinickendorf‘!“ In einem Tweet schreibt die Fahrradlobby: „Nicht mit uns! Wir werden für jeden einzelnen Radweg laut. In jedem Kiez. An jeder Hauptstraße. Bis die geplanten Radwege gebaut werden. Denn Gesetz ist Gesetz und das darf nicht einfach ausgehebelt, ausgesessen, ignoriert werden.“

Auch im Bezirk Pankow werden Radwegprojekte auf Eis gelegt, kündigte die dortige Stadträtin Manuela Anders-Granitzki (CDU) an. Zu ihnen gehört das Vorhaben, die von Radfahrern stark genutzte Schönhauser Allee zwischen den Kreuzungen Eberswalder/Danziger sowie Gleim-/Stargarder Straße auf beiden Seiten mit Radfahrstreifen auszustatten. Dafür müssten 150 Autostellplätze wegfallen. Die Arbeiten auf dem 720 Meter langen Abschnitt sollten Mitte dieses Jahres beginnen. Doch dazu kommt es nicht. Die Stadträtin empfiehlt Radfahrern, auf die Kollwitz-, Senefelder- und Dunkerstraße auszuweichen.
„Das Radfahrverhalten auf der Schönhauser Allee ist genau untersucht worden und die von der CDU vorgeschlagene Alternative ergeben überhaupt keinen Sinn: Die Schönhauser Allee ist die direkte Verbindung zwischen dem Pankower Norden und Berlin Mitte und für viele Leute der Arbeitsweg“, entgegnete Almut Tharan, die Mobilitätsexpertin und Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Pankow, am Dienstag. „Alle Radwegplanungen in Pankow zu überprüfen, ist eine massive Vergeudung von Steuergeldern, jahrelange Planungen werden weggeschmissen, Fördergelder verfallen.“
Auch in anderen Bezirken sind Radwegprojekte in Gefahr. Genannt wurden zum Beispiel die geplanten Radfahrstreifen in der Beusselstraße (Mitte), in der Grunewald- und in der Hauptstraße in Tempelhof-Schöneberg sowie die Hermannstraße in Neukölln. Noch will die Senatsverkehrsverwaltung aber keine einzelnen Vorhaben nennen, die nun zu stoppen sind.
Im Bezirk Lichtenberg sei nun eine absurde Situation entstanden, sagte der Linke-Abgeordnete Sebastian Schlüsselburg. Zum einen sei der geplante Radfahrstreifen in der Siegfriedstraße gefährdet, weil dafür (wenn auch nur wenige) Parkplätze wegfallen müssten. Zum anderen werde auch der Nahverkehr nicht ausgebaut, ärgerte sich der Parlamentarier aus Lichtenberg.
Weder Ringbuslinie noch Radfahrstreifen in Lichtenberg
Die geplante Ringbuslinie im Wohnviertel Frankfurter Allee Nord könne zum Fahrplanwechsel im Dezember noch nicht eingerichtet werden, teilte die neue Verkehrs-Staatssekretärin Claudia Elif Stutz (CDU) auf Schlüsselburgs Anfrage hin mit. Für die geplante Kiezlinie wären mehrere Haltestellen, unter anderen die vier in der Gudrunstraße, barrierefrei anzulegen. Doch es habe „kapazitätsbedingte Verzögerungen im Planungsablauf“ gegeben, bedauerte Stutz.
Schlüsselburg, der sich seit 2012 für die Buslinie einsetzt, zeigte sich am Dienstag „maßlos enttäuscht“. „Ich verstehe nicht, warum der Bezirk es nicht rechtzeitig geschafft hat, die Planung für die vier Haltestellen in der Gudrunstraße fertigzustellen. Wie lange sollen die Anwohner, gerade aus dem 2018 fertig gestellten Wohngebiet Lindenhof, noch warten?“ Was den geschützten Radfahrstreifen in der Siegfriedstraße anbelangt, bat er die neue Verkehrssenatorin in einem Brief, das für 2023/24 geplante Projekt zu ermöglichen und lud sie zu einem Ortstermin ein.
Berliner Fahrradlobby will neuen Kurs rechtlich prüfen lassen
Unterdessen kündigte die Berliner Fahrradlobby eine juristische Prüfung des neuen verkehrspolitischen Kurses an. „Wir eruieren gerade, welche rechtliche Handhabe es zu diesem Vorgehen der Senatorin gibt“, teilte Frank Masurat vom ADFC Berlin der Berliner Zeitung mit. Allerdings sei es aus heutiger Sicht „sehr bedauerlich, dass das bereits 2018 im Mobilitätsgesetz vorgesehene Verbandsklagerecht damals in letzter Minute gestrichen wurde“, gab Masurat zu bedenken.
Nicht nur der Verband ist der Ansicht, dass sich Manja Schreiner auf „rechtlich mehr als schwankendem Boden“ befindet, wie es Masurat formulierte. Der Berliner Grünen-Bundestagsabgeordnete Stefan Gelbhaar sieht das genauso. „Die Senatorin handelt nicht im rechtsfreien Raum“, schreibt der Jurist bei Twitter. „Sondern: Sie hat das Berliner Mobilitätsgesetz zu beachten. Das hat konkrete Verfahren geregelt, wie eine Radverkehrsplanung geschaffen wird. Auch die Einstellung einer Radwegeplanung ist eine Planung. Paragraf 40 Absatz 4 sieht dafür vor, dass 1. das Bündnis für Radverkehr, 2. der Berliner FahrRat und 3. die Öffentlichkeit einzubeziehen ist. All das ist nicht passiert.“
Das Risiko, das Fördermittel verloren gehen, kommt noch dazu.
— Stefan Gelbhaar (@StefanGelbhaar) June 19, 2023
Im Ergebnis: Die Bezirke sollten intensiv nachfragen, bevor sie sich dieser gesetzeswidrigen Ansage fügen.
Im Ergebnis könne die Verkehrssenatorin nicht mal eben so eine völlig neue Radwegeplanung ausrufen – oder die bestehende einfach suspendieren. Das Risiko, das Fördermittel verloren gehen, komme noch dazu. Gelbhaar: „Die Bezirke sollten intensiv nachfragen, bevor sie sich dieser gesetzeswidrigen Ansage fügen.“
Petition für Abwahl oder Beurlaubung der Senatorin
Arnd Hellinger aus Karlshorst hat eine Petition ans Abgeordnetenhaus gerichtet. Er fordert darin, die Senatorin „zeitnah wieder von ihrer Funktion zu entbinden oder wenigstens zu beurlauben, bis sie ihre Blockadehaltung hinsichtlich der für Berlin so dringend notwendigen Verkehrswende endlich aufgibt und die bereits lange geplanten Vorhaben des ÖPNV sowie des Radverkehrs - etwa den Umbau der Siegfriedstraße in Lichtenberg – endlich vorbehaltlos genehmigt“.










