Da ist dieses Video bei YouTube. Aus dem Führerstand gefilmt, zeigt es die Fahrt eines rund 90 Jahre alten Museumszuges vom Nordbahnhof zum Treptower Park. Lokführer ist Robin Gottschlag, heute Vorsitzender des Vereins Historische S-Bahn Berlin (HISB). Den Angaben bei YouTube zufolge entstand die Aufnahme im August 2024 – einige Monate, bevor im Kriminalgericht Moabit der Vorwurf des Kindesmissbrauchs gegen ein Mitglied des Vereins verhandelt werden sollte.
Gut zehn Minuten fährt die S-Bahn im Film, als die Personen im Führerstand auf einen Mann zu sprechen kommen. Es ist das mutmaßliche Opfer, das den Prozess mit seiner Anzeige ins Rollen gebracht hatte. Die Kamera schwenkt auf Lokführer Gottschlag, er sagt: „Vielleicht erledigt sich das Thema“ – an dieser Stelle nennt er den Vor- und Nachnamen des mutmaßlichen Opfers – „irgendwann von selbst.“ Was er meint, bleibt unausgesprochen.
1997 war der Mann, den er erwähnt, noch ein Kind, elf Jahre alt. In jenem Jahr, glaubt die Staatsanwaltschaft, soll sich ein Vereinsmitglied bei einer historischen Sonderfahrt zum ersten Mal an dem Jungen vergangen haben. Die Anklage umfasst vier weitere mutmaßliche Taten, die sich bis ins Jahr 2000 in der Wohnung des Mannes ereignet haben sollen. „Schwerer sexueller Missbrauch“ lautet der Vorwurf, hinzu kommt der Besitz von Kinderpornografie, weil Ermittler im vergangenen Sommer im Keller des Tatverdächtigen CDs mit einschlägigen Fotos gefunden haben. Ob auch Missbrauchsvorwürfe aus der Zeit nach 2000 angezeigt wurden, ist unklar – etwaige Taten nach dem 14. Geburtstag des Jungen wären inzwischen verjährt.
Auffällige Kontakte zwischen Männern und Minderjährigen
Für den HISB und seinen Vorstand – gegen die die Staatsanwaltschaft keinerlei Vorwürfe erhebt – kommt der Fall zur Unzeit. 2008 entgleiste eine historische S-Bahn, danach war 15 Jahre lang Schluss mit den Traditionsfahrten, der Verein schlitterte in eine Krise. Erst vor anderthalb Jahren konnte er die Fahrten wieder aufnehmen. An diesem Wochenende öffnet das S-Bahn-Werk in Erkner seine Tore, ein großes Familienfest und Highlight im Vereinsjahr.

Als die Berliner Zeitung vor wenigen Wochen exklusiv über die Missbrauchsvorwürfe berichtete, reagierten Gottschlag und die anderen Vorstände mit einer Stellungnahme. Man sei „erschüttert“, heißt es darin. Erst Anfang des Jahres habe man Hinweise auf den bevorstehenden Prozess erhalten. „Die Tat“, heißt es, „soll sich Ende der 90er-Jahre ereignet haben.“
Ein singuläres Ereignis, das noch dazu lange zurückliegt? Daran bestehen Zweifel. Die Berliner Zeitung hat im Umfeld des HISB recherchiert und mit Menschen gesprochen, die von problematischen Strukturen berichten.
Da ist zum Beispiel Simon Meissner, dessen richtiger Name der Redaktion bekannt ist. Er war viele Jahre Vereinsmitglied – und wenig überrascht, als er von der Anklage erfuhr. „Als ich die Stellungnahme gelesen habe, dachte ich, die wollen mich verarschen“, sagt er. „Ein Einzelfall? Niemals. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass es mehr als einen Täter gibt.“
Auch Philipp Nitzsche, der Anfang der 2000er-Jahre als Jugendlicher in den HISB kam, mag nicht so recht glauben, dass niemand im Verein von Problemen wusste. „Das ist Bullshit“, sagt er deutlich. Auffällige Kontakte zwischen erwachsenen Männern und minderjährigen Jungen seien in dieser Zeit offensichtlich gewesen: „Das wurde vielleicht anders bewertet als heute, aber alle konnten das mitbekommen.“
Am Tag der Anfrage verschwindet das Video
In der Videosequenz aus dem Führerstand geht es nicht um mögliche Täter, sondern um das mutmaßliche Opfer eines Sexualverbrechens. Welches „Thema“ hatte der Verein mit ihm? Und inwiefern werde es sich „erledigen“?
Auf Anfrage erklärt Robin Gottschlag, er halte es in „Rücksicht auf das laufende Gerichtsverfahren“ nicht für angebracht, sich zu Vorgängen zu äußern, die Verfahrensbeteiligte beträfen. Konkret auf seine Worte angesprochen, schreibt er: „Die Aussage habe ich nicht getätigt.“ In der Sequenz ist sie allerdings klar zu hören.
Als die Berliner Zeitung dem HISB-Vorsitzenden in einer zweiten Nachricht den Link zum Video schickt, geht er auf die Frage nicht weiter ein. Am nächsten Tag ist die Aufnahme bei YouTube nicht mehr abrufbar. Es ist nur eine von vielen Merkwürdigkeiten.
Womöglich ist die Reaktion des Vereins einfach unbeholfen – wem wäre es zu verdenken angesichts der ungeheuerlichen Vorwürfe gegen ein Mitglied? Vielleicht zeugt sie auch davon, dass es Dinge aufzuarbeiten gibt. Mehr jedenfalls, als derzeit in dem Strafprozess in Moabit auf dem Richtertisch liegt.
Bisher ist das nicht besonders viel. Die Polizeiarbeit, soweit bekannt, weist bemerkenswerte Lücken auf. Man kann den Eindruck gewinnen, als hätten sich die Ermittler erst einmal viel Zeit gelassen, nachdem das mutmaßliche Missbrauchsopfer im Februar 2024 Anzeige erstattet hatte. Erst fünf Monate später, am 17. Juli, durchsuchten sie die Wohnung des Beschuldigten.
„In der Regel“ seien zuvor andere Maßnahmen wie das Vernehmen von Zeugen erforderlich, bevor in einer „offenen Ermittlungsphase“ die Tatvorwürfe bekannt würden, erklärt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft. Allerdings hatten die Ermittler anscheinend keinen besonderen Eifer, in der Eisenbahnszene Zeugen zu finden. In dem zunächst auf vier Verhandlungstage angesetzten Prozess war bis dato keine unabhängige Person geladen. Der HISB gibt an, nie eine Anfrage von Polizei oder Staatsanwaltschaft erhalten zu haben. Ebenso äußert sich das Berliner S-Bahn-Museum, in dem der Angeklagte bis zuletzt in Funktion war und in das er das mutmaßliche Opfer mehreren Gesprächspartnern zufolge immer wieder mitgenommen haben soll.
Dabei gibt es durchaus Menschen, die etwas beitragen könnten. Menschen, die zum Beispiel behaupten, dass im Verein Historische S-Bahn bis weit in die 2000er-Jahre hinein ältere Männer mit minderjährigen Jungs „angebandelt“ hätten – eine Formulierung, die zwei frühere Mitglieder unabhängig voneinander benutzen. Vielleicht hätten die Ermittler mit Simon Meissner sprechen sollen, der just in der Zeit zum HISB gekommen war, als es der Anklageschrift zufolge zur ersten Missbrauchstat gekommen sein soll. Der Berliner Zeitung hat er seine Geschichte erzählt.
„Der Junge hat ja ’ne ganz schöne Beule in der Hose“
Sie beginnt, als Simon Meissner ein zwölfjähriger, eisenbahnbegeisterter Junge ist und an einem Tag Ende der 1990er allein an einem Bahnsteig im Ostbahnhof steht. Zufällig fährt ein Traditionszug der S-Bahn ein. Ein Schaffner in historischer Uniform spricht ihn an, stellt sich als HISB-Mann vor, der sich im Verein um Mitglieder kümmere. Er lädt den Jungen ein, ins Bahnbetriebswerk Grunewald mitzufahren. Man tauscht Telefonnummern, Simon ist Feuer und Flamme, er stößt zu dem Verein.

Der Mann sei für ihn „wie ein Möglichmacher“ gewesen: Bei Fahrten erlaubt er ihm, Tickets zu kontrollieren. Einmal überlässt er ihm ein Brandenburg-Ticket, und oft versorgt er ihn mit einer „Währung“, die im HISB zu dieser Zeit besonders viel zählt: Eisenbahnfotos. Mehrfach, sagt Meissner, besucht er den Mann, der zu jener Zeit Ende 20, Anfang 30 war, zu Hause, um CDs mit Bildern abzuholen. Einmal habe der Erwachsene dem Jungen plötzlich eröffnet, dass er schwul sei. Ein anderes Mal habe der Mann in seinem Beisein mit einem anderen Erwachsenen über ihn geredet. Ein Satz, der Simon in Erinnerung blieb: „Der Junge hat ja ’ne ganz schöne Beule in der Hose.“
Als Simon 13 ist, besucht er den Mann zum letzten Mal. Er sollte sich auf die Couch setzen, und ehe er sich versah, habe der Mann einen Schwulenporno eingelegt. „Ich bin sofort aus der Wohnung gerannt“, erinnert sich Simon Meissner. „Zum Glück war die Tür nicht abgeschlossen.“
Danach geht er dem Mann aus dem Weg – und bekommt von ihm fortan keine attraktiven Aufgaben mehr zugeschanzt. „Ich war die Verheißung, also hat man hat mich gefüttert. Dann war ich plötzlich uninteressant“, sagt Simon Meissner. Drei erwachsene Männer im Verein hätten regelmäßig minderjährige Jungs „im Schlepptau“ gehabt, berichtet er.
Auch den Mann, der heute wegen des Verdachts auf Kindesmissbrauch vor Gericht steht, und das mutmaßliche Opfer hat Simon Meissner in Erinnerung. „Die waren immer zusammen“, selten mehr als fünf Meter voneinander entfernt. Es habe kein Zweifel bestanden, dass ein „intimes Verhältnis“ zwischen den beiden bestanden habe. Im Verein habe man den gleichaltrigen Jungen, der wie er selbst noch minderjährig war, als „Schoßhündchen“ des Mannes bezeichnet. Simon Meissner sagt auch: „Ich habe nicht gesehen, dass etwas gegen seinen Willen geschehen ist.“
Ähnlich beschreibt es Philipp Nitzsche. Er sei 2002 mit damals 13 in den Verein gekommen. Damals habe er das Verhältnis zwischen dem mutmaßlichen Täter und dem noch immer Minderjährigen als „eine Art Liebesbeziehung“ wahrgenommen. „Das war nicht normal“, sagt Nitzsche. Zugleich habe es – jedenfalls für einen unbeteiligten Jugendlichen – „gegenseitig“ gewirkt.
Falls diese Beobachtungen zutreffen, wie verhielten sich andere Erwachsene dazu? Haben sie auffällige Kontakte zwischen Männern und Jungs geduldet? Konnten sie sie übersehen? Sahen sie weg?
Die Wahrnehmungen dazu sind unterschiedlich. Ralf Lehmann-Tag, der bis Ende der 1990er-Jahre Vorstandsmitglied und Geschäftsstellenleiter beim HISB war, sagt: „Im Vereinsleben habe ich keine Verdachtsmomente festgestellt.“ Dem Vorstand sei zu dieser Zeit weder ein Fehlverhalten bekannt geworden noch eine „Liebesbeziehung“ zwischen erwachsenen Männern und Minderjährigen.
Es gibt auch Menschen im Umfeld der historischen S-Bahn, die sämtliche Vorwürfe an den Anklagten für eine „Lüge“ halten, wie einer in einer Chatnachricht schreibt. Der Tatverdächtige selbst äußerte sich an den bisherigen zwei Verhandlungstagen nicht zu den Anschuldigungen. Seine Strafverteidigerin hat im Namen ihres Mandanten bei Gericht eine „Verständigung“ ins Gespräch gebracht. Ein solcher Deal würde im Gegenzug für eine vergleichsweise milde Strafe vor allem eines voraussetzen – ein Geständnis.
Das habe der Angeklagte „aus Angst vorm Knast“ angeboten, behauptet der Mann aus dem Chat, doch näher erläutern, wie er darauf kommt, möchte er nicht. E-Mail-Anfragen an die Anwältin des Angeklagten bleiben bis Redaktionsschluss für diesen Artikel ohne Antwort.
Vor Gericht geht es um einen Deal – oder um die Glaubwürdigkeit
Wenn am kommenden Dienstag der Prozess fortgesetzt wird, könnte sich entscheiden, ob der Deal zustande kommt. Sollte die 17. Große Strafkammer stattdessen über die Anklage verhandeln und sollten nicht doch noch neutrale Zeugen auftauchen, wird es vor allem darum gehen, wer glaubwürdiger erscheint: der mutmaßliche Täter oder das mutmaßliche Opfer.

Der Junge von damals sitzt heute als Nebenkläger im Saal. Im Prozess ging die Verteidigerin des Angeklagten darauf ein, dass er selbst bereits eine Verurteilung hinter sich habe. Die näheren Umstände blieben für Prozessbeobachter unklar, auch, welche Rolle dies für die Tatvorwürfe in diesem Fall spielt – zumal der Mann zu Beginn des mutmaßlichen Missbrauchs ein Eisenbahnfan von gerade einmal elf Jahren war.
Die Anwältin deutete auch an, dass der Nebenkläger im Verein Historische S-Bahn nicht gut gelitten sein soll. Gesprächspartner der Berliner Zeitung berichten, dass das Verhältnis nicht unproblematisch war, was auch mit der damals hoch im Kurs stehenden „Währung“ zusammenhing: den Eisenbahnbildern. Bei der Jagd danach, den einen besonderen Zug aus der einen besonderen Perspektive zu fotografieren, soll es auch mal Ärger mit der Polizei gegeben haben: Nicht jeder Fotostandort war wohl auf legalem Wege erreichbar.
Streit habe es auch darum gegeben, wem Sammlerstücke wie Bahnhofsschilder gehören. Ein Gesprächspartner vermutet, dass es das sein könnte, was der heutige HISB-Vorsitzende Gottschlag meinte, als er von einem „Thema“ sprach – in jener Videoaufnahme, die wenige Wochen nach der Durchsuchung bei dem Angeklagten entstand und die so plötzlich von YouTube verschwand.
Der Eindruck bleibt: Es besteht Aufklärungsbedarf. Mehrere Gesprächspartner schildern der Berliner Zeitung, dass in jener Zeit Ende der 1990er viele Jungs, die allein unterwegs waren und deren Eltern sich wenig um sie kümmerten, in einen Verein kamen, der noch bis weit in die Nullerjahre hinein stark von unverheirateten Männern geprägt gewesen sein soll.
Die Kinder hatten wenig Taschengeld, im Verein kamen sie an begehrte Eisenbahnzeitschriften und Fotos, durften beim Rangieren mitfahren – Dinge, für dies sich lohnte, dabei zu bleiben, wie es Simon Meissner beschreibt. Er fühlt sich an das fabelhafte Kindermädchen aus dem Disney-Film erinnert: „Da ist plötzlich eine Mary Poppins, die alle Wünsche erfüllt. Und wenn man als Kind keine bedingungslose Liebe erfährt, kommt man da schon mit einer gewissen Konditionierung an: Du musst etwas tun, dann bekommst du etwas.“
Im Verein seien damals vor allem Eisenbahner und Handwerker gewesen. „S-Bahn-Feti“ habe man jene Männer genannt, die sich besonders enthusiastisch für Züge interessiert haben. „Die schauten nur auf Metall und hatten wenig soziales Gespür“, sagt Simon. Womöglich entging ihnen deshalb, was wie ein „feststehendes Bild“ zu Simons Erinnerung an seine Zeit im Verein gehört: Dass einzelne erwachsene Männer am Bahnsteig stets minderjährige Jungen im Schlepptau hatten. Er sagt: „Da hat keiner hingeschaut oder gefragt, warum ein 12-, 13-jähriger Bengel einem 40-jährigen Mann hinterherläuft.“


