Ein großer Teil der Radverkehrsprojekte, die in Berlin vorgesehen sind, soll gestoppt werden. Jetzt wird das Ausmaß immer klarer – und größer. Frank Masurat vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) sieht fast 60 größere Vorhaben gefährdet. Dazu gehören geschützte Radfahrstreifen, die auf dem Hohenzollerndamm, in der Hermannstraße und in Alt-Friedrichsfelde entstehen sollen. Almut Neumann, Stadträtin in Mitte, erwartet auch für Projekte in den Nebenstraßen einen Stopp. 750.000 Euro Fördermittel stehen infrage, warnte die Grünen-Politikerin am Mittwoch.
Auch im Bezirksamt Mitte ist ein Brief der Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Umwelt und Klimaschutz eingetroffen, der das weitere Vorgehen präzisiert. Die neuen Richtlinien der Regierungspolitik in Berlin und die absehbar knappe Haushaltslage in den kommenden Jahren machten es notwendig, die „Jahresplanung zur Umsetzung von Radverkehrsmaßnahmen weiterzuentwickeln“, heißt es in dem zweiseitigen Schreiben mit dem Geschäftszeichen Z F vom 20. Juni, das der Berliner Zeitung vorliegt.
Alle bisher erteilten Finanzierungs- und Mittelzusagen werden außer Kraft gesetzt, während Projekte, die den Autoverkehr betreffen, überprüft werden. „Diese Regelung gilt ab sofort für alle Maßnahmen, für die bis zum heutigen Tag noch keine vertraglichen Verpflichtungen zur Umsetzung der eigentlichen Baumaßnahmen eingegangen wurden“, so der Brief aus der Verwaltung der neuen Senatorin Manja Schreiner (CDU). „Das gilt auch für Maßnahmen, für die bereits Planungsleistungen erfolgt sind.“
Auch geplante Fahrradstraßen in Mitte stehen auf der Kippe
Deren Anzahl sei beträchtlich, sagt Frank Masurat vom ADFC Berlin. Er verweist auf eine Liste der landeseigenen GB Infravelo GmbH, in der allein 59 Vorhaben aufgeführt werden. Dazu zählen auch die geschützten Radfahrstreifen in der Schönhauser Allee, die eigentlich ab Mitte 2023 entstehen sollten. Dafür sollten rund 150 Autostellplätze wegfallen – weshalb sie unter das Moratorium der Senatorin fallen. Danach sollen alle Projekte, für die mehr als zehn Parkplätze aufzuheben wären, überprüft werden.
Wie berichtet, stehen auch die vorgesehenen Radfahrstreifen in der Beusselstraße in Mitte auf der Liste. Dabei gebe es bereits Fördermittelzusagen von insgesamt 582.000 Euro. Stadträtin Almut Neumann liest den Brief so, dass auch Radverkehrsvorhaben in Nebenstraßen betroffen sind – es seien alle Projekte betroffen. So sollte die Wallstraße zur Fahrradstraße werden, wofür 330.000 Euro bereitstehen. Dasselbe gilt für die Niederwallstraße (99.000 Euro) sowie die Oberwallstraße (66.000 Euro). Auch Projekte in der Tucholskystraße (90.000 Euro) und der Gartenstraße (165.000 Euro) stünden auf der Kippe. Dort sollten ebenfalls Fahrradstraßen eingerichtet werden.
Wie berichtet, sollen Vorhaben, die in Zusammenhang mit der Schulwegsicherung stehen, weitergeführt werden. So steht es auch im Schreiben der Senatsverwaltung. Almut Neumann wies daraufhin, dass das gesamte bisher geplante Radverkehrsnetz der Schulwegsicherung dienen soll. Vielleicht eine Möglichkeit, Projekte zu erhalten?
Was mit den markierten, aber bislang nicht in Betrieb genommenen Radfahrstreifen in der Ollenhauerstraße in Reinickendorf geschieht, ist ungewiss. Dabei fallen sie als Anlage, für die bereits Bauleistungen beauftragt worden sind, eigentlich nicht unter Manja Schreiners Moratorium. Eine Merkwürdigkeit, die zumindest am Mittwoch nicht erklärt oder aufgelöst wurde. Die neue Verkehrssenatorin hielt sich bedeckt. Sie kenne das Projekt in der Ollenhauerstraße nicht, sagte Manja Schreiner während eines Termins.
Radfahrstreifen in der Ollenhauerstraße kostete rund 280.000 Euro
Das Projekt im Norden Berlins hat rund 280.000 Euro gekostet, davon steuerte der Bund 210.000 Euro bei. Wie berichtet, wurden die Radfahrstreifen fast fertiggestellt. Doch die zuständige Stadträtin Julia Schrod-Thiel (CDU) will sie vorerst nicht für den Radverkehr freigeben. Mit gelber Klebefolie wurden die Markierungen vorläufig außer Kraft gesetzt, bestätigte sie am Mittwoch. Die Autostellplätze, die wegfallen müssten, bleiben erst einmal erhalten.
„Der Bezirk setzt sich auf allen Ebenen dafür ein, eine vernünftige Lösung für alle in Reinickendorf zu finden. Dazu braucht es aber Zeit, Geduld und vor allem Überzeugungskraft in jede Richtung – Sorgfalt vor Schnelligkeit muss hier der Grundsatz sein. Mit der Brechstange erreichen wir im Sinn eines gesellschaftlichen Miteinanders gar nichts“, so Schrod-Thiel.
Linke und Grüne wollen Antrag ins Parlament einbringen
Anwohner hätten die Maßnahme von Beginn an kritisiert, berichtete die Stadträtin. „Bereits im Jahr 2021 wurden seitens der damaligen Verkehrsstadträtin umfangreiche bezirkliche Bedenken vorgetragen, die von der zuständigen Hauptverwaltung nicht beachtet worden sind.“ Nun soll gemeinsam mit den zuständigen Behörden geprüft werden, wie an dieser „rege frequentierten Verkehrsader“ die Belange der Anwohner und Gewerbetreibenden einbezogen werden können.
Die parteilose Bezirksverordnete Kai Bartosch zeigte sich entsetzt. Sie erinnerte daran, dass die Bezirksverordnetenversammlung bereits vor sieben Jahren beschlossen hatte, dass die Ollenhauerstraße „adäquate Radverkehrsanlagen“ bekommen soll. Der Antrag sei damals von Bündnis 90/Die Grünen, der SPD und der CDU eingebracht worden, berichtete Bartosch am Mittwoch.

Die Verkehrsstadträtin Julia Schrod-Thiel hätte die Freigabe der Radverkehrsanlagen auf der Ollenhauerstraße als letzten Schritt eines langen Prozesses anordnen können. „Sie hätte sich von uns Radfahrenden für mehr Sicherheit feiern lassen können – auch wenn das Lob eigentlich an Korinna Stephan (Grüne), ihre Vorgängerin im Amt, gehen müsste“, sagte die Bezirksverordnete Bartosch. „Erst kurze Zeit im Amt und die neue Verkehrsstadträtin setzt sich über geltendes Recht hinweg, um die autozentrierte CDU-Politik umzusetzen.“







