Interview

Krankenkassen-Chef zu Beitragsleistungen für Bürgergeldempfänger: „Ich finde es höchst unsolidarisch“

Die gesetzliche Krankenversicherung muss reformiert werden, sagt Ralf Hermes, Chef der IKK Innovationskasse. Verabschieden wir uns jetzt vom Solidarprinzip?

Ein niedergelassener Mediziner in seinem Sprechzimmer: Ist ein privater Facharzttarif das Modell der Zukunft?
Ein niedergelassener Mediziner in seinem Sprechzimmer: Ist ein privater Facharzttarif das Modell der Zukunft?Sebastian Kahnert/dpa

Im Moment flammt die Debatte um steigende Beiträge für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) wieder auf. Einen Zusatzbeitrag von 20 Prozent erwartet Ralf Hermes, Vorstand der IKK Innovationskasse. Dass gesetzlich Versicherte die Kosten für Bürgergeldempfänger zu großen Teilen tragen, findet er unsolidarisch. Für unausweichlich hält er, dass die Menschen im Land künftig mehr privat für die medizinische Versorgung bezahlen. Fährt sonst das System vor die Wand? Was wird aus Normalverdienern? Und warum wünscht sich Hermes die gute alte Poliklinik zurück?

Herr Hermes, ist die Lage der GKV wirklich so dramatisch, wie einige Ihrer Kollegen sagen?

Wenn wir keine grundlegende Reform des Gesundheitswesens hinbekommen, fährt das System in absehbarer Zeit vor die Wand. Bei meiner Krankenkasse läuft das Geld in einer Weise durch, das habe ich noch nicht erlebt. Und ich habe schon eine längere Karriere in dem Bereich hinter mich gebracht.

Sie kommen mit den Ausgaben nicht mehr hinterher?

Es ist irre! Nehmen wir die Krankenhäuser: Die Rechnungen sind innerhalb von fünf Tagen zu bezahlen, und sie sind zum Teil zehnmal so hoch wie vor noch nicht allzu langer Zeit. Die Krankenhäuser wiederum sagen, dass sie mit dem Geld nicht auskommen.

Bundesfinanzminister Lars Klingbeil hat jetzt 2,3 Milliarden Euro in Aussicht gestellt. Reichen die nicht?

Es handelt sich um Darlehen. Das Geld ist geliehen, muss in den Bundeshaushalt zurückgeführt werden. Das hilft nicht. Die GKV rechnet für das kommende Jahr mit einem Defizit von vier Milliarden Euro, wobei ich finde, dass das noch sehr wohlwollend kalkuliert ist. Bis 2027 wird mit einem Minus von zwölf Milliarden gerechnet.

Was ist mit den zehn Milliarden Euro, mit denen die GKV bei den Kosten für Bürgergeldempfänger entlastet werden sollen?

Davon war in einem Vorpapier zum Koalitionsvertrag die Rede, aber seitdem nicht mehr. Ich finde es wichtig, dass Bezieher von Bürgergeld eine gute medizinische Versorgung bekommen. Ich finde es aber höchst unsolidarisch, dass für diese staatliche Leistung die Beitragszahler der gesetzlichen Krankenkassen zu knapp Zweidrittel aufkommen müssen. Ähnliches gilt für das Krankengeld. Es sollte keine Aufgabe mehr der Krankenkassen sein, das zu bezahlen. Auch sollten bisher kostenlos mitversicherte Ehegatten einen angemessenen Beitrag zahlen. Denn all diese Kosten schlagen sich im Beitragssatz nieder.

Die Zusatzbeiträge steigen und steigen. Ist ein Ende in Sicht?

Ich denke, wir landen im kommenden Jahr bei 20 Prozent. So kann es nicht weitergehen. Das schadet der Volkswirtschaft, bremst das Wachstum. Die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung tragen die Arbeitgeber zur Hälfte. Nicht nur die in den Schlüsselindustrien, sondern auch im Mittelstand. Die Arbeitgeber, die ich spreche, sagen mir: Es reicht!

Was halten Sie von dem Vorschlag, die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben?

Das ist Blödsinn. Es trifft die Besserverdienenden, Facharbeiter zum Beispiel, aber nicht die Reichen, denn die sind privatversichert. Ich bin strikt dagegen, immer mehr Geld in ein schlechtes System zu pumpen. Selbst wenn jetzt die zehn Milliarden Euro für Bürgergeldempfänger kommen sollten, werden die durch ein Defizit von zwölf Milliarden in zwei Jahren geschluckt sein.

Woher kommt diese Entwicklung?

Früher steckten die sozialen Sicherungssysteme auch schon mal in einer Krise, doch die dauerten nur eine kurze Zeit. Jetzt kommen die Krisen gehäuft: die Finanzmarktkrise, Corona, der Ukrainekrieg. Die Weltlage hat sich geändert, aber wir stecken immer noch in den alten Strukturen fest.

Was muss passieren?

Wichtig ist vor allem: Es muss jetzt sofort etwas passieren, das sage ich auch an die Adresse der Bundesgesundheitsministerin Nina Warken.

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IKK Innovationskasse
Zur Person
Ralf Hermes ist hauptamtlicher Alleinvorstand der IKK Innovationskasse. Er ist seit mehr als 40 Jahren im Gesundheitswesen tätig und berät auch Politik und Wirtschaft.

Die IKK Innovationskasse mit Sitz in Lübeck ist eine bundesweit geöffnete deutsche Krankenkasse. Sie entstand im Jahr 2006 aus der Fusion der IKK-Mecklenburg-Vorpommern und der IKK Schleswig-Holstein mit der Innungskrankenkasse Nord (IKK Nord). Die Innovationskasse betreut rund 300.000 Versicherte.

Was würden Sie ihr raten?

Wir brauchen eine Sofortbremsung, die fordere ich schon lange. Alle Ausgaben sollten auf dem jetzigen Stand eingefroren werden: für Krankenhäuser, die ambulante Versorgung, Medikamente und so weiter. Dann müsste man kurzfristig mehr Eigenbeteiligung einführen. Die Zuzahlung für stationäre Krankenhausaufenthalte könnte man verdoppeln, ebenso die Zuzahlung bei Medikamenten. Wir müssen über die Zahnbehandlung nachdenken. Das muss natürlich von sozialen Maßnahmen flankiert sein für Menschen, die sich das nicht leisten können.

Sie wollen sich vom Solidarprinzip verabschieden?

Das ist doch jetzt schon durchlöchert. Denken Sie mal daran, wie lange Sie auf einen Termin beim Facharzt warten als gesetzlich Krankenversicherter. Wir verhandeln übrigens momentan mit einigen Facharztverbänden. Wir wollen als Kasse einen Facharzttarif einführen, in Bayern fangen wir damit an und das ist auch in Berlin denkbar. Ich bin sicher, dass das funktioniert. Die Leute sind bereit, sich für den Facharzt – und nur für den – privat zu versichern mit einigen Euro zusätzlich, wenn sie dafür zeitnah einen Termin bekommen.

„Was wir für die Folgen von Alkoholismus bezahlen, ist unfassbar“

Das heißt in letzter Konsequenz, es würde nur noch einen schmalen Basistarif geben und der Rest müsste privat finanziert werden?

Erstens: Ich bin der festen Überzeugung, dass sich unser Land ein System wie das jetzige nicht mehr leisten kann. Und zweites: Wer sagt, dass dieser Basistarif schmal sein muss? Er müsste eine gute stationäre Versorgung beinhalten, die kostet schon mal viel Geld. Er würde aber nicht mehr alles beinhalten. Wir müssen uns von der Vollkaskomentalität verabschieden. Das betrifft auch alle Erkrankungen, die selbst verschuldet sind.

Ein Unfall beim Bergsteigen zum Beispiel?

So etwas selbstverständlich nicht. Es würde Menschen betreffen, die sich kaum bewegen und stark übergewichtig sind. Menschen, die viel rauchen und viel Alkohol trinken. Was wir als Krankenkasse für die Folgen von Alkoholismus bezahlen müssen, ist unfassbar. Zunehmend betrifft das auch junge Menschen. Man muss deutlich bessere Prävention betreiben, wenn es nicht anders geht, auch über den Geldbeutel der Menschen.

Was ist mit dem größten Posten im Budget der Kassen, den Kliniken?

Das ist dann die große Reform, die wir dringend angehen müssen. Wir müssen die Grenzen zwischen stationärer und ambulanter Versorgung aufheben. Kassenärzte und Krankenhäuser wachen eifersüchtig über ihre jeweiligen Bereiche. Ich bin ein großer Fan von Medizinischen Versorgungszentren, Polikliniken nannte man sie in der DDR: Ärztehäuser mit verschiedenen Fachrichtungen. Schwer zu begreifen, warum die nach der Wende abgeschafft wurden.

Was ist mit Medikamenten?

Das ist auch so ein Punkt. Die Krankenkassen müssen mehr Entscheidungsfreiheit bekommen, welche Therapie sie für finanzierenswert halten und welche sehr teuer sind und keinen medizinischen Mehrwert bringen. Derzeit legt das der Gemeinsame Bundesausschuss fest, der GBA, was ins Finanzierungssystem kommt und was nicht. Dessen Entscheidungen sind quasi gottgegeben. Ich würde den GBA abschaffen.

So eine große Reform kostet viel Geld. Wird sich Nina Warken gegen Finanzminister Lars Klingbeil durchsetzen können?

Ich würde es mir wünschen. Große Hoffnungen mache ich mir allerdings nicht.


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