Rolling Stones

Konzert in Berlin: Wie mich die Rolling Stones immer wieder voll erwischen

Am Mittwoch spielen die Stones in der Berliner Waldbühne. Wir wissen schon jetzt: Nie war das Weiße-Männer-Rock-Museum so schön wie heute. Fünf Standpunkte.

Die Rolling Stones mit ihrem Frontmann Mick Jagger: Angriff auf Anstand und Manieren?
Die Rolling Stones mit ihrem Frontmann Mick Jagger: Angriff auf Anstand und Manieren?AFP/Bertrand Guay

Die Rolling Stones sind eine Glaubenssache, ihre Konzerte gleichen Wallfahrten. Auch wenn das nicht immer so war, die Band lebt aus der Vergangenheit – immer noch steht sie, obwohl steinalt, für den räudigen Exzess, für gesellschaftliche Gefährdungen aller Art, für den Angriff auf Anstand und Manieren. Wie gesagt, dass es so war, wenn es denn so war, ist sehr lange her und verweist auf ihre Gründerzeit in den 1960ern.

Dennoch verstehen sich die Briten wie sonst kaum jemand darauf, ihren Rock ’n’ Roll, diese nach wie vor wie geschmiert laufende Unterhaltungsmaschine, als Ausbund eines rotzig-revolutionären Elans erscheinen zu lassen. So, als wären der Ungehorsam oder das Unangepasste einfach so zu konservieren: Ist das nur eine Fitnessübung für Senioren, die sich partout erinnern wollen an eine bessere Zukunft, die sie nie hatten?

Quatsch! Es gibt gute Gründe, die Stones beim Wort zu nehmen. Immer noch. Welche, das wollen wir hier in fünf Anläufen erkunden. Der Anlass ist klar: An diesem Mittwoch werden die Stones in der Berliner Waldbühne auftreten.


Jenseits der Ordnungsnormen

Die Rolling Stones hatten ihren die Politmassen bewegenden Hit „Street Fighting Man“ noch nicht veröffentlicht, als es am 15. September 1965 in Berlin in der Nähe des Olympiastadions zu Straßenschlachten mit der Polizei kam. Einer der Gründe für die entfesselten Riots, bei denen die robusten Sitzreihen und einige S-Bahn-Waggons zu Bruch gingen, war wohl die kurze Konzertdauer. Nach nur 20 Minuten war Schluss. In der hitzigen Atmosphäre – die entsetzte Tagespresse schrieb über Massenhysterie und Alkoholexzesse – hatten Mick Jagger, Keith Richards, Brian Jones, Bill Wyman und Charlie Watts es mit der Angst bekommen und die Bühne schnell verlassen.

Ein Foto zeigt den in einem weißen Anzug gekleideten Brian Jones dicht umringt von Fans, die die Bühne bereits erstürmt hatten. Im Polizeibericht hieß es dazu: „Jene langmähnigen Schlakse lassen sofort erkennen, dass es für sie bei ,ihrer Show‘ keine Ordnungsnormen gibt.“ Innensenator Heinrich Albertz hatte indes gehofft, dass es an der frischen Luft schon nicht so schlimm kommen werde.

Das kreative Potenzial solch demonstrativer Unangepasstheit aber passte ins Konzept des Filmemachers Volker Schlöndorff. Für seinen zweiten Film „Mord und Totschlag“, eine Beziehungs- und Trennungsgeschichte, hatte er für die weibliche Hauptrolle Anita Pallenberg engagiert, den Soundtrack steuerte deren Freund Brian Jones bei. Kurz nach der Premiere in Cannes aber kam es für den genialischen Gitarristen ganz dicke. Während Pallenberg sich von ihm trennte, um fortan mit Keith Richards zusammen zu sein, wurde Jones wegen seiner fortwährenden Drogen-Eskapaden aus der Band geworfen.

Was 1965 rund um die Waldbühne in West-Berlin geschah, wurde übrigens auch von der DDR-Regierung aufmerksam registriert. Ein paar Wochen später war es in Leipzig zu Protesten der sogenannten Beatbewegung gekommen, die gegen das Verbot zahlreicher Leipziger Bands gerichtet war. Hier wie da schien man begriffen zu haben, was die Stones sangen: „Time Is On My Side“ – und wollte genau das aufhalten. Harry Nutt


Weniger Töne, mehr Musik

Keith Richards war nie ein auffälliger oder auftrumpfender Spieler. Der Gitarrist der Rolling Stones interessierte sich immer mehr für Groove und Timing, mithin also die Kunst des Weglassens: Jedes überflüssige Element fliegt raus, alles muss einfach sein. Irgendwann in den späten 1960ern wurde ihm auch sein Instrument zu kompliziert. Auf den immer noch erstaunlich hörenswerten Alben „Their Satanic Majesties Request“ und „Between the Buttons“ hatte Richards eher experimentelle Töne angeschlagen und die Gitarre für seine Verhältnisse voll ausgereizt. Etwas Neues musste her und damit etwas Altes weg: Das war die tiefe E-Saite.

Zugleich hatte Richards über den Slide-Gitarristen Ry Cooder auch nähere Bekanntschaft mit offenen Stimmungen gemacht, wie sehr gut bei den Stones-Songs „Love In Vain“ und „Sister Morphine“ zu hören ist. Und so geschah es: Aus der „normalen“ Gitarren-Stimmung, also der Leersaitenfolge EADGHE wurde ein offenes G-Tuning – DGDGHD – und sodann ein fünfsaitiges GDGHD. Erst damit bekam die Band ihren ganz eigenen, vom Blues zwar durchdrungenen, doch immer durchlässigen, eben offenen Sound. Er sollte die bekanntesten Songs der Stones prägen: „Start Me Up“, „Brown Sugar“, „Happy“, „Honky Tonk Women“ oder „Before They Make Me Run“.

In Richards’ eigenen Worten: „Ende 1968 oder Anfang ’69 machte ich eine ungeheure Entdeckung, als ich mit der offenen Stimmung mit fünf Saiten zu spielen begann. Das hat mein Leben verändert.“ Die ultimative Formel: Weniger Töne = mehr Musik. So geht wahre Rock-’n’-Roll-Geschichte. Christian Schlüter


Zwei in einem Jahr

1998 mussten die Stones ihr Berlin-Konzert verschieben. Lag damals aber nicht an Corona. Keith Richards soll in seiner Bibliothek von der Leiter gefallen sein und sich am Kopf verletzt haben. Das war die offizielle Begründung.  Als spät berufener Stones-Fan fuhr einem der Schock der Erkenntnis in die Glieder: Die Jungs leben womöglich nicht ewig. Daher war die Erleichterung groß, als sie im August dann endlich im Olympiastadion auf der Bühne standen. Es war die „Bridges to Babylon“-Tour. Zum Glück haben sie von der Platte nicht allzu viel gespielt.

Großartiger Abend: Sommersonnenuntergang, das noch nicht sanierte Stadion bot den sanften, eleganten Schwung des Unterrings zum Innenraum, meine Frau hatte am Vormittag ihre Facharztprüfung bestanden und dann „Brown Sugar“. Geht nicht besser? Es geht.

Denn zwei Wochen später waren die Rolling Stones wieder in der Stadt. Überraschend hatten sie die Waldbühne gebucht. 200 Mark (ja, so lange ist das her). Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie, aber ich kam an eine Karte. Selbe Band, selbe Tour, aber zwei Konzerte wie Tag und Nacht. Die Waldbühne bot nicht den Platz für die Stadion-Monster-Bühne. Verstärker, zwei kleine Videoleinwände, bisschen Licht: die Stones ohne Schnickschnack. Und man hatte das Gefühl, dass die Musiker ohne diesen Ballast befreiter, fröhlicher, gelassener aufspielten. Die Playlist orientierte sich nicht am neuen Material, sondern an dem, was man hören wollte.

Und die vier lieferten zuverlässig ab. Mick Jagger hielt für seine Verhältnisse lange, gut gelaunte Ansprachen. Keith Richards grinste staunend ins Publikum. Charlie Watts brauchte ein Jäckchen gegen den Wind und Ron Wood machte das, was er am besten kann. Und obwohl 20.000 Menschen im Halbrund mitsangen, tanzten, sich freuten, gelang es den Musikern, eine enge, clubartige, ja fast intime Atmosphäre zu schaffen. So nah war ich der Band bisher nie mehr. Und wenn ich mich ganz toll auf Richards konzentrierte, hatte ich für einen kurzen Moment das Gefühl, er spielt nur für mich. Die Karte war jeden Pfennig (!) wert. Tobias Miller 


Die Hand-Hirn-Schranke

Wenn ich was nicht leiden kann, dann sind das diese Leute, die bei Konzerten sofort ihre Handys in Anschlag bringen, sobald nur der erste Scheinwerfer auf der Bühne angeht. Schlimm genug, dass sie einem die Sicht nehmen. Indem sie ihre Aufnahmen dann gleich herausposten müssen, zerstören sie auch die Illusion der Unmittelbarkeit des Ereignisses. Noch ehe der Abend vorbei ist, haben sich die Videoschnipsel schon über die halbe Welt verteilt. Bei der Besprechung eines Bob-Dylan-Konzerts habe ich mal angeregt, diesen Banausen die Hand abzuhacken, was mir seinerzeit den Vorwurf einbrachte, mit dem Islamischen Staat zu sympathisieren. Kann schon sein, dass ich in meinem Furor etwas überreagiert habe.

Und nun stand ich da vor ein paar Jahren beim Auftritt der Rolling Stones im Publikum der Waldbühne, sehr weit vorne, wie ich sagen darf. Ich habe bestimmt ein Dutzend Mal den Stones-Zirkus besucht, aber so nah dran an der Manege war ich noch nie. Allerdings hatte das Ticket auf dem Schwarzmarkt auch ungefähr so viel wie ein Kleinwagen gekostet. Kurz vor neun wurde es unruhig im Rund. Die Erwartung kribbelte auf der Haut, eine Adrenalinwelle schwappte durchs Auditorium und dann passierte es: Ich spürte, wie sich die Hand-Hirn-Schranke in meinem Körper löste, wie meine Finger nach dem Endgerät in der linken Hosentasche nestelten. Und schon betrachtete ich Mick Jagger, der vielleicht fünf Meter vor mir leibhaftig herumtänzelte, durch das winzige Display meines Telefons.

Heute muss ich ziemlich lange suchen, um die Aufnahme von damals zu finden. Zwischen Clips mit Eichhörnchen, Kleinkindern und Hundewelpen taucht dann irgendwann ein Männchen auf, das wie ein Ertrinkender mit den Armen rudert und ein paar Sekunden lang „You, you – you make a grown man cryyyy“ quäkt. Du machst einen erwachsenen Mann weinen. Kann man so sagen. Frank Junghänel


Fünf Noten, die die Welt erschüttern

Haben die sich vertan, damals, bei der Newsweek, als sie die Schlagzeile von den „Fünf Noten, die die Welt erschüttern“ machten? Ist das eine Anspielung auf die gekappte tiefe E-Saite (siehe weiter oben) von Keith Richards? Oder begriffen sie tatsächlich nur die ersten fünf Noten als das Eingangsriff von „(I Can’t Get No) Satisfaction“, einem der ersten eigenen Titel der Rolling Stones aus dem Jahr 1965? Aber wie kann man das Däm-däm-dädädäm des Aufstiegs ohne das Dädähäm des Abrutschens gelten lassen, das mit Schwung zum nächsten Däm-däm-dädädäm überleitet, dem wiederum ein Dädähäm folgt und immer so weiter, bis man die Schnauze gestrichen voll hat.

Meiner Zählung nach kommt man hierbei mit drei verschiedenen Tönen aus, nämlich mit H, Cis und D. Stampfend zu spielen, solange es in fünf Schritten drei Stufen aufwärtsgeht, um dann locker in den Gelenken und die Stufen verschleifend der Schwerkraft hinunter zu folgen an den Ausgangspunkt aller Gipfelstürme. Und fertig ist das Glück des unermüdlichen Sisyphos. Keith Richards soll, so gehen Riff-Inspirationslegenden, die Eingebung in einem Hotelzimmer ereilt haben. Und zwar in der Nacht zum 7. Mai 1965, nach dem fünften Konzert der dritten US-Tournee der Band, die in Clearwater, Florida, eingecheckt hatte, Hotel, Zimmernummer und Stand der Planeten sind gerade nicht zur Hand. Auch die Textzeile von der ausbleibenden Befriedigung soll von Richards stammen, Mick Jagger war begeistert und hat den Song konsumkritisch aufgefüllt.

Eigentlich schwebten Richards für das unzählige Male wiederholte kurze Gipfelsturm-und-Absturz-Riff Bläser vor, was der Nummer sicher mehr Funk gegeben und einiges von ihrer trotzigen Square-Dance-Bodenständigkeit genommen hätte. Um die Idee zu demonstrieren, setzte er seinen gerade neu auf den E-Gitarren-Markt gekommenen Nebelhorn-Zerrer ein. Mööp-mööp-mömömööp ... Davon war die Band so begeistert, dass der Song so aufgenommen und zum Chartbreaker wurde. Generationen von Diskobesuchern gingen dem Song in die Falle. Denn dieses Riff reißt einen auf die Tanzfläche, aber dann hat man das Prinzip (des Songs und des Lebens) verstanden und merkt, wie man auf der Stelle tritt. Fast wie Sisyphos: dauerunbefriedigt, aber ermüdlich. Ulrich Seidler