Flucht aus der Ukraine

Jüdische Kinder aus Odessa: „Meine Mutter sagte, du gehst nach Deutschland“

Erst kamen 108 jüdische Kinder, nun noch einmal 120 Kinder und Frauen. Die Chabad-Gemeinde Berlin koordiniert eine große Rettungsaktion aus der Ukraine.

Susanna und Yaroslav aus Odessa gehören zu den Kindern und Jugendlichen, die von der jüdischen Chabad-Gemeinde in Berlin aufgenommen wurden.
Susanna und Yaroslav aus Odessa gehören zu den Kindern und Jugendlichen, die von der jüdischen Chabad-Gemeinde in Berlin aufgenommen wurden.Stephan Pramme

Das jüngste Kind schläft in den Armen einer älteren Frau, in eine Decke gewickelt, ein kleiner Junge, Tuvia, geboren im Januar. Am Mittwoch hat er Odessa verlassen, die von der russischen Armee bedrohte Hafenstadt in der Ukraine, am Freitag kam er in Berlin an. Zusammen mit 107 anderen Kindern und Jugendlichen, einem Dutzend Betreuern, die dem Krieg entkommen sind und nun an langen Tischen in einem Saal im Jüdischen Bildungszentrum der Chabad-Gemeinde in Wilmersdorf sitzen. Ein paar laufen auch im Saal herum, Vorschulkinder mit Bewegungsdrang. Den Kleinen haben sie gesagt, dass sie alle zusammen auf einer Art Ausflug sind. Bisher scheint das zu funktionieren. Es ist ihr vierter Tag in Berlin, und gleich gibt es Mittagessen.

An einer Tafel in der Mitte sitzen zwei Rabbiner, Abraham Wolff, Chef der jüdischen Gemeinde von Odessa und der Südukraine, und Yehuda Teichtal, der Vorsitzende von Chabad Berlin. Wolff wollte die Kinder seiner Gemeinde vor dem russischen Angriffskrieg retten, Teichtal sagte sofort zu, sie in Berlin aufzunehmen. Wolff kümmerte sich noch um die Ausreise von weiteren 120 Frauen und Kindern seiner Gemeinde aus dem Kriegsgebiet – sie sind auf dem Weg nach Berlin – bevor er selbst herkam.

Auch ein Ehepaar aus Berlin ist zum Essen gekommen. Frank-Walter Steinmeier, der deutsche Bundespräsident, und seine Frau Elke Büdenbender. Die Kinder und Jugendlichen haben sie mit einem Lied begrüßt, als sie den Saal betraten. Draußen, vor ein paar Kameras, hatte ein Journalist den Bundespräsidenten gefragt, warum er nicht den Hauptbahnhof besuche, wo seit Tagen Tausende Flüchtlinge ankommen. Es sei ihm ein Anliegen, der Gemeinde für die Rettung dieser Kinder zu danken, hatte Steinmeier geantwortet. Nun sitzt er am Tisch, neben einem kleinen Jungen, auch Astrid-Sabine Busse ist da, die Bildungssenatorin von Berlin. Niemand hält Reden. Worüber soll man zu einem Saal voller Kinder, von denen die meisten noch nicht wissen, dass sie Kriegsflüchtlinge sind, an diesem Tag sprechen?

Die Nachrichten aus der Ukraine sind düster. Es ist der zwölfte Tag seit dem Angriff. Auch Odessa, die Heimat der Kinder, könnte in jedem Moment bombardiert werden, warnt die ukrainische Regierung, so wie die Stadt Mykolajiw, die in der Nähe liegt. Dort wird gerade um den Flughafen gekämpft, heißt es in den Nachrichten. Die von den Russen schon besetzte Stadt Cherson ist auch nur 200 Kilometer von Odessa entfernt. Die Südukraine gehört zu den Gebieten im Land, in denen sich der größte Horror des Krieges abspielt.

Im Saal wird das Essen serviert, auf den Tischen stehen Saft- und Wasserflaschen, aber auch Coca-Cola. Als in einer Ecke Geschirr herunterfällt und mit lautem Klirren zerbricht, ruft der ganze Saal: „Mazel tov!“, für einen Moment lachen alle, die Berliner Märzsonne erhellt den Raum.

Der Bundespräsident und seine guten Fragen

Einige der Kinder und Jugendlichen haben im Waisenheim der jüdischen Gemeinde Mishpacha Chabad in Odessa gelebt, dort die ersten Nächte, nachdem ihr Land überfallen wurde, im Keller ausgeharrt. Andere wurden von ihren Eltern mit auf die Reise geschickt. Auch Tuvia, das Baby, das in den Armen der älteren Frau das Mittagessen verschläft, ist kein Waisenkind. Seine Familie sei in Saporischschja, sagt Jana Erdmann von der Chabad-Gemeinde, die die Ankunft der Kinder in Berlin mit vorbereitet hat und seit Freitag kaum von der Seite der Gruppe weicht. Saporischschja ist die Stadt mit Europas größtem Atomkraftwerk, dem die Kämpfe bereits gefährlich nahe gekommen sein sollen. Die ältere Dame ist eine Oma, die mitgekommen ist, sagt Erdmann. Nicht die des Babys eigentlich. Aber jetzt ist sie es wahrscheinlich doch.

Susanna und Yaroslav im Gespräch mit Frank-Walter Steinmeier, Elke Büdenbender und Yehuda Teichtal
Susanna und Yaroslav im Gespräch mit Frank-Walter Steinmeier, Elke Büdenbender und Yehuda TeichtalStephan Pramme

„Wir sind alle eine Familie, wir sind alle Geschwister“, sagt Yaroslav. Er ist 16 Jahre alt und hat sich gerade eine ganze Weile mit dem Bundespräsidenten unterhalten, gemeinsam mit Susanna, die 18 ist. Als in der Gruppe gefragt wurde, wer Englisch spreche und sich das zutraue, haben sich die beiden gemeldet.

Sie seien erst nervös gewesen, sagen sie. „Aber als wir anfingen zu reden, habe ich eine gute Energie gefühlt“, sagt Yaroslav. Der Bundespräsident habe gute Fragen gestellt.

Sein jüdischer Name sei Daniel, sagt Yaroslav, er ist groß gewachsen, trägt einen Kapuzenpulli. Ihr jüdischer Name sei Shushana, sagt Susanna, ein schmales Mädchen mit blassem, ernstem Gesicht in einem langen Kleid.

Der Rabbiner organisierte die Ausreise

Sie wollen als Erstes über ihr Land sprechen, die Ukraine, „wir wollen frei leben“, sagt Susanna, „unsere Nation ist sehr stark“, sagt Yaroslav. Jeder helfe jedem. Die Schlangen vor den Büros, in denen sich Freiwillige für die Verteidigung der Heimat melden können, seien unfassbar lang. Er sei so stolz auf sein Land. Er habe aber auch in Odessa schon Explosionen gehört, inzwischen die Videos gesehen aus Charkiw, den anderen Städten, von den Bombenangriffen. Sie habe nicht verstanden, was passiert, sagt Susanna. Warum werden Schulen angegriffen, Wohnhäuser?

Dass sie ihr Land in wenigen Stunden verlassen würden, sich von ihren Eltern verabschieden, erfuhren beide am Dienstag vor einer Woche. „Meine Mutter sagte, du gehst nach Deutschland“, erzählt Yaroslav. Der Rabbi habe gesagt, wenn die Eltern einverstanden seien, würde man die Kinder ins Ausland bringen, in Sicherheit. Die Familien müssten die Papiere der Kinder, die mitkommen, noch an diesem Tag schicken. „Ich habe gesagt, ohne meine Schwester gehe ich auf keinen Fall“, erzählt Susanna. Zwei Stunden später habe sie entschieden, mitzufahren. Sie habe Angst gehabt, aber ihrer Gemeinschaft vertraut, vor allem Abraham Wolff, dem Rabbiner, der wie ein Vater für alle sei. Ihre Schwester kam mit.

Am Mittwochmorgen kurz nach sechs fuhren sie los. Sie trafen sich vor dem Waisenheim. Die Polizei habe ihnen geholfen, schnell über die Grenze nach Moldawien zu gelangen, einige der kleineren Kinder hätten geweint, das sei schwer auszuhalten gewesen, sagt Yaroslav, aber sie, die älteren in der Gruppe, fühlten sich für die Kleinen verantwortlich. Helft, wo ihr nur könnt, das bekamen sie von ihren Eltern vor der Reise gesagt. Sie lenkten die Kleinen ab, trösteten, es ist doch nur ein Ausflug.

Sie aßen in Kischinau, der Hauptstadt von Moldawien, zu Mittag, fuhren weiter, über Rumänien, Ungarn, Tschechien, ohne Übernachtungspause, nach zweieinhalb Tagen waren sie in Berlin.

Die Chabad-Gemeinde hat zwei Etagen in einem Hotel in Charlottenburg für die Kinder und Jugendlichen und ihre Betreuer angemietet. Die Gemeinde hat Spenden gesammelt, in Windeseile die Zimmer vorbereitet. Eine Mitarbeiterin zeigt Fotos von einem Berg, der nur aus gespendeten Windelpaketen besteht, von Kisten voller Zahnpastatuben. Die Gemeinde brauchte aber auch koschere Lebensmittel, nicht ganz so leicht zu beschaffen in Berlin, und sie hat einen Koch engagiert, der koschere Mahlzeiten zubereiten kann. Die Kinder und Jugendlichen haben nach ihrer Ankunft in Berlin gemeinsam Schabbat gefeiert. Ein vertrautes Ritual, ein Stück Heimat.

Alle fühlen sich sehr wohl im Hotel, sagen Susanna und Yaroslav, sie wollen allen Spendern und Helfern danken. Und in Berlin zu sein, sei „interessant“, sagt Susanna. Sie macht eine Pause. Yaroslav erzählt, dass sie von der Polizei begleitet werden, wenn sie in der Stadt unterwegs sind. Die Polizisten seien sehr nett, die kleineren Kinder wollten immer wissen, welcher Beamte welchen Rang habe, sie alberten mit ihnen herum. Die Polizisten hätten ihnen geraten, draußen ihre Kapuzen aufzusetzen, sagt er. Den Jungs in der Gruppe. Sie tragen Kippa, aber das solle man in Berlin auf der Straße besser nicht sehen. Wegen des Antisemitismus, den es hier gibt, sagt Yaroslav.

In seiner Heimatstadt sei sein Vater mit Kippa und langem Bart durch die Straßen spaziert, von anderen Leuten, nichtjüdischen Nachbarn, mit „Shalom, ma nishma?“ begrüßt worden. Hallo, wie geht’s, auf Hebräisch.

„Odessa ist eine jüdische Stadt, immer noch“

„Odessa ist eine besondere Stadt in der Ukraine,“ sagt Yaroslav. „Es ist eine jüdische Stadt, immer noch.“ Einst sei sogar jeder dritte Bewohner der Stadt jüdisch gewesen, sagt er. Vor dem Zweiten Weltkrieg. 1941 besetzte die Wehrmacht die Stadt, die Deutschen ermordeten fast 100.000 jüdische Bewohner von Odessa. Heute leben noch etwa 35.000 Juden in der Stadt, die knapp eine Million Einwohner hat.

Sein Rabbiner Abraham Wolff habe das jüdische Leben der Stadt mit erhalten, sagt Yaroslav, die Chabad-Gemeinde habe Synagogen gebaut, Schulen, eine neue sollte gerade entstehen. Er habe gerade noch die Baustelle gesehen. Ob sie je weitergebaut wird, er sie je fertig sehen wird?

Abraham Wolff wurde in Israel geboren, aber seine Vorfahren stammten aus Deutschland. Sein Großvater ist vor den Nazis geflohen. Nun steht er in Berlin, im Saal der Chabad-Gemeinde, und schaut auf die Kinder, die er ausgerechnet in diese Stadt gerettet hat. Das Hotel in Charlottenburg ist für zwei Wochen gebucht, es ist ein erster Zufluchtsort. Wie es weitergeht, wie lange er selbst bleiben wird, kann gerade noch niemand sagen.

Im Saal sind die Teller abgeräumt, der Bundespräsident und seine Frau nach anderthalb Stunden aufgebrochen. Ein paar Kinder rasen mit Bobbycars durch das Chabad-Zentrum. Ein Mädchen, auch um die 18 Jahre alt, erzählt von ihrer Familie, die versuche, aus Charkiw nach England zu fliehen. Ein anderes Mädchen, etwas jünger, hat sich an das Klavier gesetzt, das in einer Ecke des Saals steht. Ihre Finger fliegen über die Tasten, aber berühren sie nicht.

Yaroslav probiert ein paar Worte auf Deutsch aus. Er versteht schon einfache Sätze. Er habe im Bus nach Berlin konzentriert über seinem Handy gehangen, alle hätten ihn gefragt, was er denn da nur mache, sagt Susanna. Für einen Moment löst sich der Ernst aus ihrem Gesicht, sie lacht. Er habe im Bus angefangen, Deutsch zu lernen.

Yaroslavs Mutter ist mit seinem Bruder dem Krieg nach Kischinau in Moldawien entkommen, sein Vater sei aber zu alt für eine Flucht und deshalb noch in Odessa. Susannas Familie ist ebenfalls in Odessa geblieben. Die Eltern wollten die Großeltern nicht allein lassen. Als Susanna und Yaroslav in Berlin in Sicherheit waren, haben sie ihre Familien angerufen. Zum ersten Mal im Leben hätten die Großeltern und Eltern einen Videoanruf gemacht, laut gerufen und gewunken dabei. So sehen sie einander jetzt.

Am frühen Mittwochmorgen, kurz nach zwei, kommen die neuen Flüchtlinge am Hotel an, 120 jüdische Frauen und Kinder aus Odessa und Umgebung, sie klettern müde aus Bussen. Die Chabad-Gemeinde Berlin veröffentlicht Fotos auf Instagram, um die Nachricht zu verbreiten. Auf einem ist Susanna zu sehen, sie hält ein Kind auf dem Arm, das dem Krieg entkommen ist, fünf Tage nach ihr.

Die Berliner Chabad-Gemeinde bittet um Geldspenden, um die weitere Unterbringung der Kinder und Jugendlichen zu finanzieren. Spendenkonto: Chabad Lubawitsch Berlin, Deutsche Bank, IBAN DE47100700240505559501, Verwendungszweck: Ukraine.

Spenden sind auch direkt über die Webseite der Gemeinde und über Paypal möglich – über diesen Button:

Jetzt spenden