Berlin-Allein am Freitag und Samstag vergangener Woche sind mehr als 20.000 Menschen in Berlin angekommen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind. Sie müssen in den Unterkünften nicht nur mit Lebensmitteln und Kleidung versorgt, sondern auch seelisch aufgefangen werden, sagt die Berliner Psychotherapeutin Lea Gutz. Auf welche Anzeichen von psychischem Trauma man achten sollte, welche Unterschiede es zwischen Erwachsenen und Kindern gibt, wie das Sicherheitsgefühl der Menschen wiederhergestellt werden kann und ob eine langfristige psychotherapeutische Versorgung gelingen kann – ein Gespräch.
Frau Gutz, Hunderttausende Ukrainer mussten ihr Zuhause hinter sich lassen und aus dem Land flüchten, und zwar augenblicklich. Das ist schwer vorstellbar. Wie reagiert das Hirn auf eine solche extreme Situation?
Die Tatsache, dass der Krieg in der ganzen Ukraine von einem Tag auf den anderen völlig unerwartet ausgebrochen ist und die Flucht so schnell erfolgen musste, hat die ohnehin traumatisierende Situation für viele Menschen verschlimmert. Das Hirn hat in einer solchen akuten Belastungssituation gar keine Möglichkeit, sich darauf einzustellen. Das Sicherheitsgefühl geht komplett verloren und das Hirn schaltet in eine Art Notfallmodus um: Ich muss überleben, ich muss funktionieren.
Welche Anzeichen können aus dieser Belastungssituation erfolgen?
Manche zeigen als akute Erstreaktion auf ein Trauma Übererregungssymptome wie Panik, Angstzustände, Schreien, starkes Weinen und Klagen, starke körperliche Unruhe, Erbrechen oder auch einen starken Rededrang. Es kann auch sein, dass Menschen ins Gegenteil rutschen, apathisch werden, emotional gar nicht mehr reagieren. Ihre Mimik scheint ausdruckslos oder sie berichten zwar über das Geschehene, wirken aber völlig teilnahmslos.

Wieso kommt es zu diesen beiden extremen Reaktionen?
Es ist ein Versuch des Hirns, das Unmögliche zu kontrollieren. Bei einem traumatischen Erlebnis fühlt man sich existenziell so weit bedroht, dass es die eigene Kontrollfähigkeit übersteigt. In so einem Moment übernimmt der evolutionäre Reflex: Kämpfen oder weglaufen, man reagiert mehr instinkthaft als rational. Der Körper wird einem immensen Stress ausgesetzt, das ganze Adrenalin wird auf einmal ausgeschüttet. In einem solchen Zustand kann es zu einer Übererregung kommen oder auch ganz andere, erst mal ungewöhnlich erscheinende Reaktionen treten auf wie Rückzug, Teilnahmslosigkeit oder Erstarren. Letztere Symptome können auch eine Erschöpfungsreaktion nach der Übererregung sein.
Welcher Mensch reagiert wie? Kann man das voraussagen?
Das hängt ganz davon ab, welche Ressourcen der Mensch zur Verfügung hat, oder was genau er erlebt und gesehen hat. Natürlich spielt auch das Alter eine Rolle. Kinder gehören zum Beispiel zur Risikogruppe. Ihr Kontrollgefühl ist sowieso geringer, sie begreifen und verstehen das Geschehene viel schwerer. Ihre Reaktion hängt maßgeblich von ihrer kognitiven, affektiven und sozialen Entwicklung ab.
Eine akute Belastungssituation kann auch eine lang anhaltende Traumatisierung zur Folge haben. Was sind Anzeichen dafür?
Ein typisches Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung ist das Wiedererleben. Traumatische Ereignisse laufen wie ein innerer Film immer wieder ab. In einem starken Flashback erleben die Betroffenen das Trauma mit allen Sinnen wieder und bekommen dann auch nicht mehr mit, was gerade in der Gegenwart um sie herum passiert, beispielsweise dass sie von jemandem angesprochen werden. Sie hören wieder die Bomben, riechen das Verbrannte oder das Blut und erleben auch körperliche Empfindungen wieder, als würde es in diesem Moment erneut geschehen.
Können die Sinneswahrnehmungen getriggert werden?
Ja. Ein Beispiel: Bevor die Bombe eingeschlagen hat, hat sich die Frau Kaffee gekocht. Die letzte Erinnerung, die sie hat, ist der Geruch des frisch gebrühten Kaffees. Jetzt sitzt diese Frau in einer Gemeinschaftsunterkunft und bekommt eine Tasse Kaffee, atmet den Geruch ein – und ist plötzlich nicht mehr ansprechbar oder fängt an zu schreien, weil dieser sie in ihren Erinnerungen zurückversetzt und sie das Aufschlagen der Bombe wieder erleben lässt.
Wie kommt es psychologisch betrachtet dazu?
Man kann sich einen Schrank vorstellen: Wenn ich ordentlich meine Sachen auf die Ablagen lege und die Tür verschließe, bleiben sie geordnet und die Tür zu. Wenn ich aber alles einfach reinschmeiße und die Tür gerade so zukriege, dann fallen mir die Sachen immer wieder vor die Füße, auch wenn ich nur aus Versehen gegen den Schrank stoße. So ungefähr funktioniert das Hirn unter Hochstress oder Trauma. Das Erlebte wird nicht richtig einsortiert oder verarbeitet – wie im Falle des Kaffeegeruchs, der dann ausreichen kann, dass Erinnerungen wie eine einschlagenden Bombe wieder erlebt werden.
Welche Anzeichen von seelischem Trauma gibt es noch?
Vermeidung. Wenn wir beim Kaffee-Beispiel bleiben, würde die Frau um Coffeeshops einen großen Bogen machen. Es kommt auch häufig zu Erinnerungslücken und dissoziativen Zuständen, in denen Wahrnehmungs- und Gedächtnisfunktionen gestört sein können. Menschen können im Extremfall in einem solchen Zustand nicht mal mehr sagen, wie alt sie sind, oder sich nicht erinnern, wie lange sie schon in Deutschland sind. Auch das resultiert daraus, dass das Hirn im Hochstressmodus das Erlebte nicht richtig einsortiert hat. Manche sind auch überwachsam, also die ganze Zeit in Alarmbereitschaft, sie beobachten ihre Umgebung permanent, was sehr erschöpfend sein kann. Manche entwickeln eine starke Schreckhaftigkeit, zucken beim kleinsten Geräusch zusammen. Was auch typisch ist: Ein- und Durchschlafstörungen.
Können die Symptome, wie das Wiedererleben, auch von alleine wieder aufhören – quasi ohne dass es einer professionellen Hilfe bedarf?
Posttraumatische Belastungsstörungen haben in der Mehrzahl der Fälle gute Heilungschancen, sofern rechtzeitig eine geeignete Therapie eingeleitet wird. Ob die Symptome von selbst wieder zurückgehen oder chronisch werden, hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie der Schwere der Traumatisierung. Ohne eine professionelle Therapie können die Symptome über Jahre andauern.
Wie sieht die Therapie aus?
Um das Erlebte richtig verarbeiten zu können, muss es erst mal richtig sortiert werden. Ein Mensch schafft das selten allein. Viele haben starke Angst davor, sich den traumatischen Erinnerungen wieder auszusetzen, und denken, dass sie niemals darüber sprechen können. Deshalb müssen die Gefühle therapeutisch begleitet und verarbeitet werden. Gerade beim Wiedererleben ist eine konfrontative psychotherapeutische Behandlung häufig notwendig, um es loswerden zu können. In der Therapie versucht man, die Kleidung aus dem Schrank zu holen, anzuschauen, zu sortieren und ordentlich wieder reinzulegen. Wenn die Erinnerungen und dazugehörigen Gefühle sortiert sind, können sie bewältigt werden. Sollten sie wieder hochkommen, ist das Bewusstsein da: Es ist geschehen, aber es ist Vergangenheit, jetzt bin ich in Sicherheit.
Nun sind bereits Tausende Menschen aus der Ukraine, ob jung oder alt, nach Deutschland geflüchtet. Wie können die Menschen, psychologisch betrachtet, akut aufgefangen werden?
Wir haben es mit Menschen zu tun, die sich völlig verloren fühlen. Als Allererstes müssen genau dieses verloren gegangene Sicherheits- und Kontrollgefühl und die Handlungsfähigkeit wiederhergestellt werden. Die Hilfe muss schnell erfolgen und muss gut organisiert sein. Die Menschen müssen in Unterkünften untergebracht und mit Essen und Trinken versorgt werden. Sie müssen wieder in die Gegenwart zurückgeholt werden, indem Helfer zum Beispiel immer wieder sagen: Ihr habt es rausgeschafft und seid in Sicherheit. Wenn Geflüchtete Belastungssymptome wie Erinnerungsschwierigkeiten oder Flashbacks haben, hilft es, sie darüber aufzuklären, dass das eine normale Reaktion auf ein außergewöhnliches Ereignis ist und sie keine Angst haben müssen, verrückt zu werden. Einfache Beruhigungs- und Re-Orientierungstechniken können vermittelt werden.
Es gibt viele Bürgerinnen und Bürger, die ihr eigenes Zuhause für die Menschen aus der Ukraine geöffnet haben. Neben dem Vermitteln vom Sicherheitsgefühl: Worauf sollten die Helfer noch achten?
Da sein und zuhören, was gebraucht wird, sagen, dass man für einen da ist. Allein Lebensmittel zu überreichen, kann eine hilfreiche positive Erfahrung sein nach dem traumatisierenden Erleben zuvor. Man kann sie fragen, was sie gerne essen, was man vom Markt noch für sie besorgen kann, um ihre Aufmerksamkeit umzulenken. Also so viel Normalität wie möglich schaffen. Ich würde nicht dazu raten, explizit nachzufragen, was sie zum Beispiel in der Ukraine gesehen haben, was sie auf dem Fluchtweg erlebt haben. Das kann Wiedererleben triggern, aber auch zu einer Mittraumatisierung der Ersthelfenden führen, wenn Geflüchtete plötzlich von schrecklichen Bildern erzählen. Viele werden dazu Gesprächsbedarf haben, aber das sollten Profis auffangen, Psychotherapeuten. Da können Helfer vermittelnd unterstützen. Ich würde den Helfern außerdem empfehlen, Psychohygiene zu betreiben. Also auch auf sich selbst und den eigenen Energiehaushalt gut zu achten. Um das eigene Stresslevel zu senken, ist auch empfehlenswert, nicht ständig die neuesten Nachrichten zu konsumieren, sondern zu begrenzten Zeiten, etwa zwei Mal am Tag. Mit einem gebrochenen Arm kann ich keinen aus dem Wasser ziehen: Niemandem ist geholfen, wenn die Kriegsangst alle einholt.
Wie kann man geflüchteten Kindern in der Notsituation seelisch helfen?
Auch Kinder können entweder unruhig, ängstlich, aggressiv reagieren oder sich komplett zurückziehen und aktiv keine Nähe mehr suchen. Es kann auch sein, dass sie verstärkt körperlich auf das Geschehene reagieren und Bauchschmerzen haben oder Angstzustände mit Herzrasen. Einfache Übungen, wie eine gemeinsame Atemübung, können hilfreich sein. Wenn man ruhig und tief ein- und wieder ausatmet, beruhigt sich das Herz wieder. Auch der Bauch entspannt sich. Kinder können sich ja nicht so gut ausdrücken. Deshalb kann es schwierig sein, herauszufinden, wie belastet sie wirklich sind. Manchmal malen sie entsprechende Bilder oder ahmen Szenarien im Spiel nach, wenn sie mit anderen Kindern spielen oder allein mit ihrem Spielzeug.
Es ist absehbar, dass die Situation anhalten wird und sich Langzeitfolgen bei Schutzsuchenden vermutlich auch bemerkbar machen werden, Stichwort posttraumatische Belastungsstörung. Sie werden Psychotherapie benötigen – wird das in Deutschland machbar sein?
Freie Therapieplätze sind jetzt schon schwer zu finden und die Wartezeiten lang. Darüber hinaus funktioniert Psychotherapie aber nur, wenn man sich sprachlich verständigen kann. Es braucht also nicht nur freie Psychotherapeuten, die bestenfalls Ukrainisch oder zumindest Russisch sprechen, sondern auch Dolmetscher. In der Psychotherapeutenkammer Berlin versuchen wir deshalb herauszufinden, welche Ressourcen wir haben. Zum Beispiel, wie viele Mitglieder die Sprachen beherrschen und Hilfe anbieten können. Die KV Berlin hat bereits eine Webseite eingerichtet, auf der sich Psychotherapeuten und Ärztinnen aus Berlin registrieren, die sich ein ehrenamtliches Engagement vorstellen können. Es gibt auch schon eine russische Telefonseelsorge, Doweria, die 24 Stunden erreichbar sind.
Und was wäre, wenn Berlin mit ukrainischen Psychologinnen arbeiten würde, die ebenfalls geflüchtet sind?
Auch sie haben wahrscheinlich Traumatisches erlebt. Wenn sie sich selbst im akuten Notfallmodus befinden, in dem sie einfach nur funktionieren, nicht auf sich achten und das Trauma noch verdrängt haben und dann anfangen anderen zu helfen, könnte es sein, dass sie sich selbst überlasten und die Traumafolgestörung sie später heftig einholt. Nachdem die Stresssituation abgeklungen ist. Nur weil man funktioniert, heißt es nicht, dass die Psyche unbelastet ist.
Was muss in Ihren Augen als Erstes von der Politik angegangen werden, damit Schutzsuchende künftig versorgt werden können?





