Dies ist der neueste Teil der humoristischen Kolumne „Finde den Fehler“ von Anselm Neft.
Laut Kalender ist bei uns seit gestern Frühling. Meteorologisch betrachtet sogar schon seit dem 1. März. Phänologisch hingegen beginnt in Berlin der Frühling punktgenau, sobald die ersten Radfahrer bunt um die Ecke schießen. Nach langem hartem Winter blüht die Metropole nun endlich wieder auf. Ein Schauspiel, wie es schöner nicht sein könnte.
Die Tage werden länger. Und länger. Und länger. Das Licht der Frühlingssonne hat nun viel mehr Zeit, auf die Schönheiten der Stadt zu fallen: stalinistische Überwältigungsarchitektur und klobige Arbeiterdenkmäler im Osten, preußischer Prunk und steingewordene Säbelrassler hoch zu Ross im Westen. Dazwischen Alexa, der Fernsehturm und das glorreich wieder aufgebaute Berliner Schloss neben dem abgerissenen Lampenladen des Erich H. Alles erinnert hier an das, was Menschen erst so ganz zu Menschen macht, also an Krieg, Diktatur, Militarismus und völlig entgrenzten Konsum. Wie schön kann eine Stadt eigentlich sein? Jetzt im Frühling, wo man wieder etwas sieht, wird das so richtig deutlich.

Fliegen, Mücken, Bremsen, Wespen
Genauso faszinierend sind die facettenreichen Gerüche, die sich mit der wärmeren Witterung aus dem Winterschlaf erheben und in der Stadt ausbreiten. Da mischt sich das verschwenderisch aufgetragene Parfum von Diven im 88. Frühling mit dem herben Moschus morgenländischer Prinzen und der gärenden Fäulnis unentsorgten Mülls zu einer Nasen-Symphonie, die Tränen in die Augen des abgebrühtesten Berliners treibt. Die Döner duften doppelt so intensiv in der S-Bahn, die Bierbäuerchen tüchtiger Zecher ergötzen die Fahrgäste jetzt mehr als im Winter. Und das Angrillen in den Parks lässt ganztags Schwaden von Brathammelduft durch die Viertel wehen.
Auch die Natur zeigt sich im Frühling von ihrer schönsten Seite. Wolllüstig tirilieren die Vögel fast so laut und erregend wie all die Klingeltöne und Plings und Plongs, mit denen Menschen anderen Menschen sagen: Ich bin hier, hier um mit dir den Frühling zu feiern!
Allerlei frühblühende Bäume, Blumen und Gräser versprühen überschwänglich ihre Saaten, und da alles in einem großen kosmischen Verbund existiert, schnäuzt bald jede Dritte mit geröteten Augen ihre Naturverbundenheit in die Welt hinaus. Schöner noch: Fliegen, Mücken, Bremsen, Wespen und andere namenlose Freunde des Menschen stehen schon in den Startlöchern, um summend, brummend und piksend ihr Scherflein zum großen Ganzen beizutragen.
Touristen kommen in die Metropole
Oh Wonnen der Natur! Die Hormone schießen bei den Heranwachsenden wie Narzissen ins Kraut. Es röhren die Jünglinge brünftig in den Straßen. Wer ein geleastes Wägelein sein Eigen nennt, lässt gerne auch dieses röhren und brettert mit 80 km/h ab durch Mitte. Vor Erregung werden die Röcke der Mädchen kürzer, ihre Gesichter aber länger. In den Schwimmbädern dürfen sie nun oben ohne Wellen schlagen, ob Brust oder Kraul – ganz egal! Lustgreise schubbern sich an Litfaßsäulen, geile Damen besuchen das Esoterikseminar von Shanananada Wakananda, der Rest tindert sich zusammen und ghostet sich auseinander im ewigen Ringelreihen der Triebe.
Als wäre all das nicht schon beglückend genug, kommen im Frühling nun auch wieder mehr Touristen in die Metropole. Längst war den Einheimischen über die dumpfen Wintermonate etwas langweilig geworden, jetzt aber fallen sie selig den wackeren Städtereisenden aus Sevilla, Hipsterburg, Albuquerque und Bietigheim-Bissingen um den Hals, streuen ihnen Rosen auf den Weg und reichen ihnen handgemachte Leckereien aus heimischen Küchen.
Ja, es ist nicht zu viel versprochen, vom Berliner Frühling als einem berauschenden Mysterienspiel zu sprechen, einem großartigen Fest der Völker, einer unio mystica von Mensch, Natur und ausgekotzten Bowls mit Edamame. Wer es noch nicht erlebt hat, sollte sich jetzt auf die Reise machen. Auf in die prächtigste Stadt zur prächtigsten Jahreszeit! Auf, auf zum Frühling nach Berlin!






