Berlin-Petrus ist schon da. Er wartet auf Eckhart Scheffler am Fredersdorfer Mühlenfließ wie auf einen alten Bekannten. Sie haben in den zurückliegenden Jahren viel miteinander zu tun gehabt, Petrus und der 78-Jährige. Sie begegnen sich immer noch regelmäßig, gerade hier an jener Brücke, die vom S-Bahnhof Rahnsdorf in den Wald Richtung Müggelsee führt. An diesem Nachmittag mischt sich der eine sofort in das Gespräch des anderen. „Petrus“, erklärt Scheffler nämlich, „ist bei mir das Synonym für Klimawandel.“ Petrus hat das Fredersdorfer Mühlenfließ trockengelegt.
Bis 2008 arbeitete Scheffler in der Senatsverwaltung für Umwelt. Er gehörte zu jener Abteilung, die sich mit Naturschutz und Gewässern befasst. Seit seiner Pensionierung ist er freier Mitarbeiter in einem Planungsbüro. Er berät Umweltverbände. Das Thema Wasser lässt ihn nicht los. Deswegen ist er hier an diesem Nachmittag beim Rendezvous mit Petrus an der Brücke, die aussieht, als hätte sie ein schusseliger Bauingenieur viel zu niedrig angesetzt. Ein breiter Sandstreifen führt darunter her. Scheffler müsste auf die Knie gehen, um zur anderen Seite zu gelangen. Der Sandstreifen ist kein Weg. Dort, wo Eckhart Scheffler jetzt steht, hätte er noch vor wenigen Jahren nasse Füße bekommen.
Klimawandel wurde in den 90er-Jahren bereits sichtbar
Die Welt über uns verändert sich und damit die gesamte Welt, in der wir leben. Was die breite Öffentlichkeit vor nicht allzu langer Zeit noch für eine bloße Möglichkeit hielt und wie eine Theorie diskutierte, wird inzwischen für jeden sichtbar. Klimawandel ist kein Modewort mehr, das Politiker in Parteiprogramme schreiben, weil es dazugehört, irgendwie. Klimawandel ist Realität. Nicht immer sind die Folgen so drastisch wie bei der Hochwasserkatastrophe unlängst in der Eifel, im Ahrtal, in Erftstadt, Altena oder Kamen. Und dennoch meist heftig genug, um zum Nachdenken zu zwingen und schlimme Vorahnungen zu wecken. Für Berlin ist die Vorahnung längst zu einer belastbaren Prognose geworden: Die Stadt trocknet aus.
Das Fredersdorfer Mühlenfließ ist dafür ein Beleg, Scheffler hat Beweisstücke mitgebracht: Tabellen mit verwirrend vielen Zahlen, Diagramme mit bunten Kurven und Balken. Er hat sie abgeheftet in einem Ordner, den er jetzt auf einen Baumstumpf legt und aufblättert. Fotos in Klarsichthüllen, sie sind beinah schmerzhaft schön, denn sie zeigen eine andere, eine bessere Zeit. Spiegelglatte Flächen sind zu sehen, Wasser und noch mal Wasser. Es kam aus dem nahen Brandenburg und floss von hier aus in die Spree.
Doch Petrus war auch damals schon unterwegs. Mitte der 1990er-Jahre wurde der Klimawandel spürbar im Mühlenfließ. „Seinerzeit ließ die Senatsverwaltung den Grund abdichten, damit das wenige, das hier im Urstromtal ankam, nicht versickert.“ Inzwischen kommt gar kein Wasser mehr an. Scheffler kniet sich hin, nimmt eine Handvoll Sand, lässt ihn durch die gespreizten Finger rieseln. Er sagt: „Wir hatten in den vergangenen Jahren eine deutlich höhere Verdunstung in dieser Gegend.“ Um mehr als ein Grad ist die Temperatur in Berlin während des zurückliegenden Jahrzehnts gestiegen, im Mittel auf elf Grad. „Höhere Temperaturen führen zu mehr Verdunstung“, sagt Scheffler.
Das ist die eine Seite von Petrus, die andere lässt sich ebenfalls mit einer simplen Gleichung beschreiben. 2020 war das sechste innerhalb der jüngsten sieben Jahre mit zu großer Trockenheit. Das zeigen die Daten des Deutschen Wetterdienstes (DWD). 511,2 Liter pro Quadratmeter gingen durchschnittlich über der Region Berlin nieder. Zwischen 1961 und 1990 waren es noch 556,6 Liter binnen zwölf Monaten. Zwar ist jeder Quadratmeter anders beschaffen, spielen Erdschichten, Wind und Sonne bei der Verdunstung eine Rolle, auch dort, wo Scheffler sich gerade wieder im staubigen Bachbett aufrichtet und vor der Böschung mit sattgrünen Sträuchern steht. „Das sind generalisierte Werte“, sagt der Umweltaktivist zu den Literangaben. Doch die Tendenz ist klar und fatal: „Wir haben im Durchschnitt zwischen 100 und 200 Millimeter weniger Wasser, das als Niederschlag fällt, im Vergleich zu dem Wasser, das verdunstet.“
Durchs Laubdach der Bäume wirft die Sonne kleine Lichtkleckse auf die Erde vor Schefflers Füßen. Ausflugswetter, Sommerstimmung. „In jeder Jahreszeit“, sagt Scheffler, „treten spezifische Faktoren hervor, die die Austrocknung begünstigen.“ Im Winter verdunstet zwar deutlich weniger Feuchtigkeit, es fällt allerdings auch deutlich weniger Niederschlag. „Was uns in den zurückliegenden Jahren gefehlt hat, war der Schnee.“
Doch der Winter ist nicht das größte Problem. Das Problem sind die Frühjahre, erklären die Meteorologen. Im zurückliegenden Jahrzehnt waren sie stets zu trocken. Zuletzt fielen im März und April nur 62,6 Liter pro Quadratmeter in der Region. Während der drei Jahrzehnte bis 1990 kamen in diesen Monaten noch 77,1 Liter zusammen. „Markantes Merkmal des Klimawandels“, so formulieren das die Experten.
Doch nicht nur die Menge ist entscheidend, auch die Dosierung. „Was fehlt“, sagt Scheffler, „ist der Landregen, den wir früher hatten.“ Über zwei, manchmal drei Tage verteilte sich die Feuchtigkeit fein wie aus einer Sprühflasche über die Landschaft. Die Erde war danach durchtränkt, regensatt, die natürlichen Speicher für Grundwasser wurden nachgefüllt. „Heute haben wir vor allem Starkregen-Ereignisse, teilweise unwetterartig“, erklärt Scheffler. „Was an Niederschlag herunterkommt, nimmt sich die Vegetation.“
Es würde einige Ausdauer erfordern, um sich mit einem Spaten bis zu den Reserven im Boden vorzuarbeiten. „Unter 1,80 Metern ist es immer noch trocken“, sagt Scheffler. Seit langem misst er den Stand des Grundwassers für das Landesumweltamt Brandenburg. „Im Absenktrichter des Wasserwerks Friedrichshagen.“ Drüben, hinter der Brücke, wo im Gebüsch ein metallgraues Rohr hüfthoch aus der Erde ragt. Ungefähr um einen Meter ist der Pegel während der vergangenen zwölf Jahre gesunken. „Das ist nebenan auf der Barnim-Hochfläche ähnlich.“
Ende des Tagebaus: Der Spree geht das Wasser aus
Scheffler blättert in seinem Ordner, schlägt eine Seite in Klarsichthülle auf, eine Karte des Fredersdorfer Mühlenfließes. „Pegel Rahnsdorf“ ist darauf vermerkt, „Pegel Schöneiche“, „Kleiner Spreewald“. Wasserwerke sind mit kleinen blauen Quadraten eingezeichnet, Brunnen mit blauen Punkten. Die Spree selbst hat nicht mehr auf diesen Ausschnitt im Format Din A4 gepasst, aber sie ist allgegenwärtig in dem, was Scheffler erzählt. „Die Spree“, sagt er zum Beispiel, „bringt Wasser an den Müggelsee, und am Rand des Sees hat man Brunnengalerien angelegt.“ Aufgereiht wie an einer Perlenschnur ziehen sie Oberflächenwasser aus dem Boden. Der hat zuvor die Verunreinigungen herausgefiltert, die meisten zumindest.
Die Brunnengalerien sind eine Hauptquelle für Trinkwasser, denn zwei Drittel der Fläche Berlins wurden versiegelt, bebaut, asphaltiert, plattiert. Es gibt ein Konzept, Regenwasser aufzufangen. „Schwammstadt“ ist das Schlagwort, wie ein Schwamm sollen unterirdische Auffangbecken funktionieren. „Das bezieht sich aber nur auf Starkregen-Ereignisse“, sagt Scheffler. „Deshalb nimmt man das Grundwasser aus den grünen Bereichen, zu 60 Prozent über Uferfiltrat.“ Wie am Müggelsee.

Doch auch der Spree geht langsam das Wasser aus. Früher profitierte der Fluss sehr stark vom Tagebau in der Lausitz. Um trockenen Fußes an die Braunkohle zu gelangen, wird Grundwasser abgepumpt. Doch das geschieht mit dem schrittweisen Abschied von fossilen Energieträgern bis 2038 immer weniger. Gleichzeitig füllen sich die künstlich klein gehaltenen unterirdischen Reserven wieder auf. Geflutet werden die Krater, die von Baggern in den märkischen Sand gewühlt wurden. Statt Braunkohle soll Tourismus nun für Einnahmen in der Region sorgen. „Da wird eine fantastische Landschaft entwickelt mit dem Ostsee“, sagt Scheffler über jene ehemalige große Grube bei Cottbus, die sich über 1900 Hektar erstreckt. „Allerdings verdunstet auf dieser riesigen Fläche sehr viel Wasser. Das fehlt langfristig der Spree.“
Das Umweltbundesamt hat ein Konsortium beauftragt, dem Ingenieurbüros und Wissenschaftler angehören. Es soll die Folgen des Kohleausstiegs in der Lausitz für den Wasserhaushalt zwei Jahre lang untersuchen. Die Experten gehen davon aus, dass die derzeit erhöhte Belastung der Spree mit Sulfaten zurückgehen wird. Dafür könnten Eisen und Säuren für einige Zeit stärker auftreten.
Anlieger entnehmen Wasser für ihre Gärten
„Wir haben jedoch nicht nur Schwierigkeiten mit der Qualität“, meint Scheffler. „Wir haben vor allem Schwierigkeiten mit der Quantität.“ Schon jetzt, sagt er, „existiert ein Verteilungsproblem“. Auch das wird am Fredersdorfer Mühlenfließ sichtbar. „Anlieger in Brandenburg beschleunigen das Trockenfallen“, sagt Scheffler. Sie zapfen das Fließ an, um ihre Gärten zu besprenkeln. Vor der Wende kostete der Kubikmeter lediglich 30 Pfennig, da ließen sie das Fließ in Ruhe. „Heute hat sich der Preis fast verzehnfacht. Pumpen gibt es im Baumarkt für wenig Geld.“ Ende Juni verboten einige Landkreise die gängige Praxis, unter anderem Dahme-Spreewald und Oberspreewald-Lausitz; eine Zeitlang durfte tagsüber kein Wasser mehr entnommen werden.


