Schönheit – so heißt es – liegt im Auge der Betrachter, und nicht alle finden alles schön. Aber es gibt wohl nur wenige, die von dieser Landschaft im äußersten Nordosten von Brandenburg nicht wenigstens beeindruckt sind. Die Grundelemente sind gar nicht so besonders: Felder, Wälder, Wege – und vor allem Hügel. Aber eben sehr viele Hügel. Die hat die Eiszeit bis vor 12.000 Jahren hier im Nirgendwo der Uckermark so eng zusammengeschoben, dass sie ein wunderbares Landschaftsgemälde ergeben. Und nicht nur eines.
Zum Dorf Mescherin schlängelt sich ein Holperweg durch Hügelketten und gibt alle 30, 40 Meter ein neues Bild frei. Mal steht eine Kiefer so einsam auf dem Hügel, dass sie ihre Äste richtig weit ausbreiten kann; mal fällt ein Hügel in drei sanften Wellen ab. Kurz daneben ein ganz anderes Bild. Zwischen sattgrünen Büschen geht es steil hinab und dort glitzert Wasser in der Sonne: eines dieser Sölle – winzige runde Teiche, die noch aus der Eiszeit stammen. Gegenüber zieht sich Gerste über weite Hügel. Manche Ähren sind schon gelb, manche noch grün. Der farbige Teppich wiegt sich sanft im Wind. Mehr Abwechslung auf engstem Raum geht nicht.
Und als Krönung fließt unten im Tal die Oder, dieser breite ruhige Fluss, der gerade wieder in den Schlagzeilen ist. Im vergangenen August starben in Polen – von wo die Oder kommt – Abertausende Fische und Millionen Muscheln und Schnecken. Die Hauptschuld an der größten Umweltkatastrophe an einem europäischen Fluss seit Jahren tragen die Menschen. Da die Oder ein Grenzfluss ist, erreichte das Fischsterben schließlich Deutschland. Vor drei Wochen nun wurden in Polen erneut tote Fische in Nebenkanälen der Oder gefunden. Nicht nur bei Umweltschützern geht die Angst um, dass sich das Desaster wiederholt.
Eine der Leidtragenden ist schon jetzt Frauke Bennett, eine der wichtigsten Botschafterinnen dieser außergewöhnlichen Landschaft. Die 55-Jährige macht das Beste, was Touristiker hier machen können: Sie ist eine der wenigen, die geführte Kanutouren anbieten – und lässt einfach die Natur sprechen. Sie steht in Mescherin am Ufer und schaut zum mächtigen Schilfgürtel auf der anderen Flussseite. „Es ist eine sehr spezielle Landschaft“, sagt sie. „So schön. Hier kann man den ganzen Tag unterwegs sein und trifft niemanden.“

Die Landschaft mit den weitgefächerten Armen der Oder ist der einzige Auennationalpark in Deutschland. Es gibt eine riesige Kernzone, in die Menschen nicht eingreifen dürfen, auch Landwirtschaft ist verboten. Wilde Natur, die nicht nur in Europa rar ist. „Es gibt weltweit nur sehr wenige Flussdeltas, die nicht zugebaut sind und die nur so schonend wie hier befahren werden dürfen“, sagt Frauke Bennett. Hier darf kein Motorboot durchbrettern. Das Naturerlebnis ist nur per Kanu erlaubt.
Bennett erzählt von Menschen aus aller Welt, aus Kanada, Australien oder Kasachstan, die Fernsehdokumentationen über das Odertal gesehen haben und die auf ihrer Europareise extra eine Tour bei ihr buchen. „Und alle sind begeistert“, sagt sie, schaut am Himmel einer Flussseeschwalbe hinterher und lächelt.
„Können wir überhaupt zu euch kommen?“
Dabei ist die Lage ernst – gerade für sie. Es ist absurd: Die toten Fische in den Nachbarkanälen der Oder wurden zwar fast 600 Kilometer entfernt gefunden. Tief in Polen. „Trotzdem ist die vermeintliche Katastrophe gefühlt längst bei uns angekommen.“ Ständig berichten Medien über tote Fische im Flusssystem. Deshalb vergehe kein Tag, ohne dass Leute anrufen, die bei ihr eine Tour gebucht haben. „Und spätestens die dritte Frage lautet: Wie sieht es aus bei euch? Können wir überhaupt noch kommen?“ – „Ich sage dann immer: Es sieht wunderschön aus: Die Fische schwimmen, die Vögel singen, die Frösche quaken. Ihr könnt kommen.“
Es ist ein Dilemma, einerseits kämpft sie für eine saubere Natur, weil das ihre wirtschaftliche Lebensgrundlage ist, andererseits schadet Alarmismus ihrem Geschäft, auch wenn er helfen könnte, dass die Politik irgendwann härter durchgreift.
Nun soll es im Kanu hinausgehen ins deutsch-polnische Zwischenland, in diese wilde Welt aus Wasser, Schilf und endlosem Himmel. Hinaus zu den Adlern und Bibern. Frauke Bennet holt zwei Paddel aus dem Auto und legt Babette, ihrer Hündin, eine Schwimmweste an. „Babette ist meine Mitarbeiterin“, sagt sie. Babette könne sehr gut schwimmen und macht es auch gern. „Aber am Henkel der Schwimmweste kann ich sie wunderbar ins Boot heben.“ Die Hündin rennt sofort los, steht knietief im Wasser und wedelt mit dem Schwanz.
Bevor der schönste Teil dieser Erkundungsreise beginnen kann, muss erst der schlechte Teil erledigt werden –die Erklärung für die Zusammenhänge der Katastrophe. Das Hauptproblem ist, dass es nicht einfach einen Bösewicht gibt, einen Umweltfrevler, der illegal handelt und der nur ermittelt werden muss. In diesem Fall geht es um eine Art des Denkens, bei dem die Wirtschaft klar die Priorität hat.

Die Sachlage ist kompliziert und lässt Wissenschaftler dicke Studien füllen. Kurz zusammengefasst wurde das große Sterben in der Oder vom Gift der Goldalge verursacht. Die ist im Süßwasser der Flüsse eigentlich nicht überlebensfähig, weil sie in salzigem Brackwasser heimisch ist, etwa dort, wo die Oder in die Ostsee mündet. Sie konnte sich aber mitten in Polen ansiedeln, weil dort massenhaft Salze aus der Industrie und dem Bergbau mit dem Abwasser in die Oder geleitet werden. Manches illegal, aber vieles wohl auch genehmigt.
Die Folgen: 400 Tonnen tote Fische
Die Folgen fielen so lange nicht weiter ins Gewicht, wie die Oder genug Wasser führte. Nun häufen sich die Hitzesommer, und das sorgt immer wieder für Niedrigwasser. Dadurch wird das viele Salz zum Wirkbeschleuniger: Das sommerwarme Süßwasser ist nun salzig genug, sodass sich Goldalgen explosionsartig vermehren und ihr Gift produzieren.
Die Folge: 400 Tonnen tote Fische. Trotzdem werden in Polen weiterhin massenhaft Salze eingeleitet, und nicht nur Bundesumweltministerin Steffi Lemke von den Grünen zeigt sich „alarmiert“, auch Umweltverbände fordern die polnische Regierung auf, wenigstens im Sommer die Salzeinleitungen zu stoppen. Bisher ohne Erfolg. Nun hoffen viele, dass der Regen die Salzfracht möglichst stark verdünnt.
Frauke Bennett schiebt das Kanu ins Wasser, und los geht’s. Der leichte Wind lässt das Schilf laut rauschen, Schwalben fliegen zwitschernd über die gelben Blüten der Teichrosen und weißen Seerosen. „Sollte sich das Fischsterben wiederholen, geht viel Tourismuswirtschaft unwiederbringlich verloren“, sagt sie. Im Vorjahr trieben an den Ufern überall stinkende tote Fische. Und selbst als die eingesammelt waren, kamen deutlich weniger Besucher. „Ich hatte 60 Prozent weniger Gäste. Das war existenzbedrohend.“ Nicht nur für sie.
Sie zeigt zum Parkrestaurant neben der Wiese. „Dort essen nicht nur meine Gäste.“ Im vergangenen Jahr hing an der Tür ein Zettel: Wegen Fischkatastrophe geschlossen. Nicht mal die Einheimischen kamen mehr, um am Ufer zu sitzen. Bennett zeigt zum benachbarten Campingplatz, der ebenfalls leer stand. So war es überall am Fluss. „Dabei sorgt der Tourismus hier in der Uckermark für die meiste Wirtschaftsleistung, noch vor der Landwirtschaft und der Industrie.“
Auf dem Wasser zirpt ganz laut eine Grille. Als Frauke Bennett an ihr Handy geht, wird klar, dass das keine echte Grille war, sondern ihr Klingelton. Der passt perfekt in die Gegend, aber derzeit kann jeder Anruf eine Absage sein. Trotzdem freut sie sich über alle, die wenigstens anrufen. „Die kann ich beruhigen und aufklären.“ Doch die Schlagzeilen sorgen eben auch dafür, dass viele erst gar keine Tour buchen. „Manche haben erzählt, dass bei ihnen seit Jahren ein Artikel über uns am Kühlschrank hängt, und als sie dann endlich buchen wollten, war nur vom Fischsterben die Rede.“
Riesige Muschelbänke abgestorben
Links am Ufer sind vor Jahren riesige Weiden umgestürzt, deren kahle Äste übers Wasser ragen, rechts liegt ein leerer Lastkahn schräg am Ufer, der vor Jahrzehnten auf Grund gelaufen ist und seither vor sich hin rostet. Für Laien ist nicht zu erkennen, dass hier im Vorjahr 80 Prozent der Fische verendet sind. Dass weit mehr als die Hälfte aller Muscheln fehlt, ist für alle sichtbar, die sich auskennen. Muscheln sind natürliche Klärwerke. Sie leben von den Schwebeteilchen im Wasser und filtern auch die Hinterlassenschaften der Menschen heraus. Im Vorjahr starben uralte, riesige Muschelbänke ab. Nun reinigt niemand mehr das Wasser.
„Es ist trüber als früher“, sagt Frauke Bennett. Aber sie kann auch Positives zeigen, paddelt nah ans Schilf. Dort wimmelt es im Wasser – viele winzige Fische. „Daran ist zu sehen, dass es noch einige Altfische gibt, die für Nachwuchs sorgen.“

Frauke Bennett, gebürtige Heilbronnerin, hat in Heidelberg Geografie studiert, kennt die Welt und hat lange als Reiseleiterin im südlichen Afrika gelebt, vor 30 Jahren war sie erstmals im Odertal. Nach dem Ende der DDR halfen Freunde von ihr im Osten, die alten Parks der Gutshöfe zu retten. Auch den Lenné-Park in Criewen. Sie war begeistert. Nachdem sie ihren Sohn geboren hat, musste sie sich entscheiden: Afrika oder Uckermark. „Ich bin geblieben, weil die Landschaft so schön ist, weil ich mich hier sofort zu Hause fühlte.“
Das Kanu fährt weiter durch eine Wildnis aus Wasserläufen, aus breiten Schilfgürteln, uralten Bäumen und einem unendlichen Himmel. Ein Ort der perfekten Entschleunigung. Die Gegend ist so einsam, dass kein Geräusch der Zivilisation zu hören ist. Mal das laute Quaken eines dicken Frosches, der nur träge ein Stück weiter schwimmt, als sich das Kanu nähert. Mal der Ruf eines Vogels namens Zilpzalp, der genauso heißt, wie sein Gesang klingt. Manchmal ist auch das kaum hörbare Hecheln von Babette das lauteste Geräusch.
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Sogar Seeadler gibt es hier
Das Kanu gleitet mit der langsamen Strömung dahin. Frauke Bennett sagt, dass es nicht nur um die Oder gehe, sondern auch um die Ostsee, in die die Oder mündet. „Die Ostsee ist ein ziemlich kranker Patient.“ Entscheidend sei, dass das Untere Odertal eine wichtige „Ökosystemleistung“ erledigt. Hier werden riesige Mengen an Schadstoffen zurückgehalten, von Bakterien, Algen und irgendwann auch wieder Muscheln. „Sonst wären die Probleme an der Ostsee viel dramatischer. Und dort geht es im Tourismus um ganz andere Dimensionen, wenn die Gäste wegbleiben, weil überall im Meer riesige Algenteppiche treiben.“
Ihre Formel ist ganz simpel: ohne intakte Natur und sauberes Wasser kein Tourismus. Sie plädiert für „regenerativen Tourismus“. Gemeint ist, dass der Natur mehr gegeben wird als genommen. Das heißt: Es muss so investiert werden, dass das Odertal weiterhin viel Wasser reinigen kann. Davon profitiert zuerst die Natur, aber auch die kleine Gruppe der Touristen, dazu alle Bewohner am Ufer und eben auch die Ostsee.
Bei Frauke Bennett verbinden sich wirtschaftliche und ökologische Interessen perfekt. Und sie hat noch Hoffnung, denn die Uno hat gerade beschlossen, die Meere besser schützen zu wollen. „Das geht nur, wenn auch die Flüsse geschützt werden.“ Denn 80 Prozent der Verschmutzung der Meere entsteht an Land und wird meist über Flüsse eingeleitet – etwa Chemikalien der Industrie oder Pestizide der Landwirtschaft. „Wir müssen nicht auf andere zeigen, sondern bei uns selbst anfangen.“
Hier im Odertal wird die Natur sich selbst überlassen. Hier gibt es sogar Seeadler, die in Deutschland äußerst selten sind. Einer steigt gerade auf und schwingt sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Höhe. Frauke Bennett sagt: „Ein Jungtier aus dem vergangenen Jahr.“ Sie erzählt, dass er sich von den Eltern getrennt habe, dass er nun sein eigenes Revier suche und eine Partnerin. „Aber er hat noch Zeit: Seeadler werden erst mit sechs Jahren geschlechtsreif.“











