Dirk Treichel ist ein ausgesprochener Kenner der Natur an der Oder, dem großen, noch immer recht naturnahen Grenzfluss zwischen Polen und Deutschland. Treichel ist der Chef des Nationalparks Unteres Odertal. Auf die Frage, wie er angesichts des aktuellen Fischsterbens in Polen die Lage einschätzt, benutzt er bewusst den Begriff, den auch Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) gewählt hat: Dramatisch. „Wir sind extrem besorgt, weil viele Rahmenbedingungen an den vergangenen Sommer erinnern“, sagt er am Donnerstag der Berliner Zeitung.
Im vergangenen August waren massenhaft Fische in der Oder verendet. Geschätzt etwa 400 Tonnen, dazu Millionen von Muscheln, die das Flusswasser normalerweise auf natürliche Weise reinigen. Experten warnen seither davor, dass sich das große Fischsterben in diesem Jahr wiederholen könnte, weil vor allem auf polnischer Seite kaum etwas an den Ursachen geändert wurde.
Denn die Fische und Muscheln und Schnecken sterben am Gift der Goldalge, die in der Oder weiterhin vorhanden ist. Die ist eigentlich nicht im Süßwasser heimisch und kann nur deshalb in der Oder so gut gedeihen, weil weiterhin massenhaft Salz aus der polnischen Industrie in den Fluss geleitet wird.
Keine toten Fische auf deutscher Seite
Anfang der Woche wurden in zwei Kanälen, die zur Oder führen, insgesamt 450 Kilo tote Fische entdeckt. Nach Angaben der polnischen Regierung wurden aber noch keine toten Fische in der Oder selbst entdeckt.
Auch Dirk Treichel kann bestätigen, dass die Probleme offenbar noch nicht im Hauptstrom angekommen sind. „Mit Stand vom Donnerstag haben wir im Gebiet des Nationalparks keinerlei Nachweise von toten Fischen“, sagte er. Alle Mitarbeiter seien aber angehalten, die Lage am Fluss genau zu beobachten. „Sie sind derzeit sehr intensiv unterwegs.“

Treichel spricht von besorgniserregenden Werten, die an der Oder gemessen wurden. Grundsätzlich wird der Salzgehalt von der elektrischen Leitfähigkeit im Wasser abgeleitet. Und die Werte sind eindeutig: Trinkwasser hat etwa 600 Mikrosiemens pro Zentimeter, an der Oder lag der Wert am Donnerstag bei 2088. Das sind für die giftige Goldalge optimale Bedingungen, denn sie wächst ab dem Wert 1400 besonders gut. „Die Situation ist so dramatisch, weil der Fluss auch noch Niedrigwasser führt.“
Und eines ist klar: Die Goldalge ist auch weiterhin in der Oder vorhanden. Aktuelle Messungen würden zeigen, dass 400 bis 800 Zellteile pro Milliliter Wasser vorhanden sind. „Auf dem Höhepunkt des Fischsterbens lag der Wert bei 65.000“, sagte Treichel.
Weniger Salzeinleitung gefordert
Das heißt: Der aktuelle Wert ist im Vergleich noch sehr niedrig, aber das Problem ist, dass die giftige Goldalge überhaupt nachweisbar ist, denn die kann eigentlich im Süßwasser nicht leben. Außerdem ist die giftige Alge auch deshalb ein solch großes Problem, weil sie sich am Tag auch noch viele Mal teilen kann. Die Werte können also schnell steigen. „Das ist die Quelle unserer Sorgen“, sagte Treichel.
Um das Algenwachstum zu stoppen, müssten auf polnischer Seite nicht mehr so viele Salze aus der Industrie über das Abwasser in den Fluss geleitet werden. Das fordert nicht nur die Bundesumweltministerin, auch Umweltschützer auf breiter Front.
Doch Polen will das Problem anders angehen, hat ein dichtes Kontrollnetz aufgebaut und will erst reagieren, wenn die Messwerte zu hoch sind. „Aber dann ist es meist schon zu spät, weil das Problem trotzdem schon lange da ist“, sagte Axel Kruschat, Geschäftsführer vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) in Brandenburg.
Auch das Einleiten von Chemikalien, um die Alge zu töten, lehnen Umweltschützer ab. „Das ist nur ein Herumdoktern an den Symptomen“, sagte er. Das Algenwachstum habe verschiedene Ursachen: Hitze, Niedrigwasser und zu viel Salz müssen zusammenkommen. „Aber die Hitze und der niedrige Wasserstand liegen am Wetter, und das können wir nicht ändern“, sagte er. „Wohl aber die Salzfracht in der Oder.“
Klagen gegen grünen Umweltminister Vogel
Ganz klar richten sich die Hauptvorwürfe der Umweltschützer gegen die polnische Seite, weil dort am leichtesten die Ursachen bekämpft werden könnten. Aber es gibt auch Vorwürfe gegen die deutsche Seite, im konkreten Fall gegen die Brandenburger Landesregierung. Sieben Umweltverbände unter Führung des BUND haben eine Klage gegen das Umweltministerium eingereicht. Die Klage hat nicht unmittelbar mit dem Fischsterben zu tun, sondern mit dem sogenannten Bewirtschaftungsplan der Oder. „Der ist aus unserer Sicht nicht ausreichend und deshalb rechtswidrig“, sagte Kruschat.
Das Land Brandenburg – aber auch Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen – seien eigentlich verpflichtet gewesen, bis 2015 einen „guten ökologischen Zustand“ an der Oder wieder herzustellen. Dafür gibt es bestimmte Kriterien. „Das ist aber nicht geschehen“, sagte Kruschat. Nur in Ausnahmefällen durften die Maßnahmen bis 2027 geschoben werden. „Jetzt haben wir 2023, und es ist absehbar, dass die Ziele nicht erreicht werden können. Oder nur, wenn sofort begonnen wird, alle nötigen Maßnahmen umzusetzen.“




