Mitten im Wald lehnt eine sehr auffällige Leiter an einem Baum. Sie gehört definitiv nicht zu einem Jäger, der auf einen Hochstand will. Denn sie ist nicht aus Holz und stünde damit gut getarnt zwischen all den Baumstämmen. Die Leiter ist aus Aluminium, glänzt und funkelt auffällig in der Sonne.
Der Baum steht in einem schönen Buchenwald in der Uckermark, ganz in der Nähe der Flößerstadt Lychen, die von endlosen Wäldern und vielen Seen umgeben ist. Der Blick wandert den Baumstamm hinauf – und oberhalb der Leiter sind noch mehr eigentümliche Dinge zu sehen. An drei Ästen des Baumes sind lange dünne Seile befestigt. Unten dran hängen schwarze Eimer. „Das sind Mückenfallen“, sagt Doreen Werner. Die promovierte Insektenforscherin ist die wohl bekannteste Mückenexpertin Deutschlands, quasi die Herrin der Mücken.
Und die alljährliche Mückensaison geht jetzt so richtig los – und sie wird von einer Angstdebatte begleitet, weil zu uns inzwischen auch die Asiatische Tigermücke eingeschleppt wurde, die 27 gefährliche Krankheiten übertragen kann.
Die 54-Jährige arbeitet im ostbrandenburgischen ZALF-Institut (Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung) in Müncheberg und sammelt überall im Land Mücken. In der Uckermark will sie erforschen, welche Mückenarten es hier gibt. Sie will wissen, welche Lebensbedingungen gut oder schlecht für sie sind. Dabei helfen ihr die Fallen.
„Wofür sind wir Menschen gut?“
Ihr Faible für Mücken teilen nur die wenigsten Menschen. Die meisten haben eine eindeutige Meinung, wenn es um Mücken geht: Die kleinen Biester stechen, sie nerven, sie sind lästig, sie sind unnütz. Das sieht die Kennerin ganz anders. Auf die Fragen: „Warum sind Mücken überhaupt auf der Welt? Wozu sind sie eigentlich gut?“, antwortet sie mit Gegenfragen: „Wofür sind wir Menschen gut? Und wozu sind Sie ganz persönlich auf dieser Welt?“ – Hm.
Die Expertin erklärt erst mal, dass Mücken sehr viel harmloser sind als ihr Ruf. Denn nur die wenigsten Mücken stechen. „Es gibt bei uns 28 Mückenfamilien und nur drei davon stechen: die Stechmücken, die Kriebelmücken und die Gnitzen“, sagt sie. „Und von denen auch nur die Weibchen.“
Sie schweigt kurz und schaut auf ihren Arm, denn der wird von einer großen Mücke umschwirrt. „Auch ich lasse mich nicht gern stechen“, sagt sie und schlägt zu. Zu langsam. „Aber bevor ich zuschlage, schaue ich immer, welche Mückenart es ist, ob sie überhaupt stechen kann. Ich würde niemals ein Insekt einfach so töten.“ Nun ist wieder eine Mücke da. Doreen Werner schaut, schlägt und trifft.

Wie heißt es so schön in dem Kinderlied „Mücken nerven Leute“ über diese surrenden Tierchen: „Ihr Kopf ist so klein, da passt nur ein Gedanke rein. Sie wollen nur wissen: Hab ich dich schon gebissen?“ Mediziner sagen, dass Mückenstiche durchaus auch positive Effekte haben: Die Stiche halten unser Immunsystem auf Trab. Wäre unsere Abwehr unterfordert, würden sich Allergien häufen. Die meisten Menschen hätten in unseren Breiten nach einem Stich ohnehin keine gravierenden Probleme.
„Klingt nach einer flotten Theorie“, sagt Doreen Werner. „Doch Medizin ist nicht mein Fachgebiet.“ Sie kann aber erklären, warum Mücken so wichtig für die Natur sind und damit für das Überleben der Menschheit.
Die Männchen faulenzen in den Bäumen
Sie klettert auf die Leiter. „Wir wollen wissen, wie viele der Mücken hier eher in der Nähe des Bodens herumfliegen und wie viele oben in den Bäumen sind“, sagt die Biologin, die an der Berliner Humboldt-Uni studiert hat. Deshalb hängt eine der Fallen in etwa zwei Metern Höhe, eine bei etwa zehn Metern und eine bei fast 20 Metern. Ringsum in diesem Laubwald sind an fünf Bäumen jeweils drei Fallen installiert. Das Ganze wiederholt sich noch an vier weiteren Orten in der Uckermark: in einem Nadelwald, auf einem Feld, auf einer Weide und einem Bauernhof.
„Und überall ernten wir einmal pro Woche die Mücken“, sagt Doreen Werner, die dafür heute Morgen extra um 5 Uhr aufgestanden ist. Sie öffnet die erste Falle, schaut hinein und nickt. In dem Napf sind nur recht wenige Mücken. Es ist die Falle, die am niedrigsten hängt. Da sind sicher vor allem Weibchen drin, sagt sie. Denn die sind viel aktiver als die Männchen, die meist oben in den Baumkronen sitzen, die von dort aber nur ab und an losfliegen auf der Suche nach Blütensaft. Denn das ist die bevorzugte Nahrung der Mücken – auch der Weibchen.
Aber die müssen eben auch noch hier unten umherfliegen auf der Suche nach einer Blutmahlzeit, weil sie das Eiweiß aus dem Blut benötigen, um überhaupt ihre Eier bilden zu können. Deshalb suchen sie hier unten nach Rehen oder anderen Säugetieren und treffen heute Menschen.
Mücken – die Helfer der Evolution
Mücken können grundsätzlich Krankheiten auf Tiere und Menschen übertragen. Wenn die tödlich verlaufen, ist das tragisch, aber im Laufe der Evolution hatte das auch einen positiven Nebeneffekt, weil dadurch jene Individuen überlebten und ihr Erbgut weitergaben, die mit Krankheiten besser klarkamen. Mücken waren also Helfer der Evolution.
Mückenstiche können aber bis heute tödlich sein. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation gehen weltweit jedes Jahr 725.000 Todesfälle auf Stiche und so übertragene Krankheiten wie Malaria, Dengue-Fieber oder Japanische Enzephalitis zurück, meist in ärmeren Ländern. Aber das West-Nil-Fieber hat es auch schon nach Deutschland geschafft. Das ist tragisch, andererseits ist zu bedenken, dass weltweit auch jedes Jahr fast 1,4 Millionen Menschen im Straßenverkehr sterben – ohne dass gefordert wird, alle Autos zu verbieten. Mücken hingegen halten viele für verzichtbar.
„Das ist eine typisch arrogante Haltung des Menschen“, sagt Doreen Werner. Die Menschen verstehen sich als Krone der Schöpfung und nehmen sich das Recht heraus, die Natur nach dem Nutzen für sich selbst einzuteilen. Mücken sortieren sie auf der Negativ-Seite ein, genau wie Wölfe, obwohl sie deren Nachfahren, also die Hunde, lieben. Nutztiere wie Hühner, Rinder oder Schweine sind gut. Forellen sind gut, Haie böse. Ebenso läuft es bei Pflanzen: Erdbeeren sind lecker, also gut. Da Brennnesseln aber jucken, werden sie als Unkraut eingestuft, obwohl sie fast 40 Schmetterlingsarten als Futterquelle dienen, und die meisten Menschen Schmetterlinge wiederum toll finden.

Doreen Werner steigt mit einem neuen Becher von der Leiter und sagt, dass Mücken auch Pflanzen bestäuben, genau wie Bienen und auch Fliegen. Sie sorgen also mit dafür, dass unser Essen auf den Feldern wächst. Und sie sind immer Nahrungsgrundlage. Doreen Werner erklärt es am Beispiel der Fische. „Die meisten Menschen finden Mücken schlecht und Fische gut. Dabei wird oft vergessen, dass Mücken in bestimmten Regionen 90 Prozent der Nahrung von Fischen ausmachen. Ohne Mücken keine Fische.“ Sie sind auch das Futter für Raubinsekten, Singvögel oder Fledermäuse.
„Das ist alles komplett miteinander verzahnt“, sagt sie mit ernstem Blick und schlägt nebenbei mal wieder zu. So schnell, dass Zweifel aufkommen, ob sie vor dem Schlag die Art erkannt hat. „Natürlich“, sagt sie, „Waldmücke aus der Annulipes-Gruppe.“ Sie lacht und wird wieder ernsthaft: „Wenn es keine Mücken gäbe, würde die Natur nicht so funktionieren, wie sie derzeit funktioniert. Wir hätten kein ausgeglichenes Ökosystem mehr.“ Das gelte aber nicht nur für Mücken. „Jede einzelne Art vollbringt in ihrem Lebensraum eine ganz wichtige Ökosystem-Leistung“, sagt sie. Diese Funktion sei den Menschen oft gar nicht bekannt. „Deshalb ist Grundlagenforschung so wichtig. Deshalb sammeln wir Mücken.“
Doch die Ignoranz der Menschen hat immer wieder zu Katastrophen geführt. Das zeigt ein Beispiel mit Millionen von toten Tieren und später auch toten Menschen. Im Jahr 1958 erklärte der chinesische KP-Chef Mao Zedong die Ratten, Spatzen, Fliegen und Stechmücken, zu den „vier großen Plagen“, die angeblich nur Krankheiten bringen und den Menschen die Nahrung stehlen. Die Chinesen begannen zuerst einen Krieg gegen die Spatzen. Vier Tage lang machten die Genossen zum Beispiel in Peking so viel Lärm, dass die Vögel immer wieder aufflogen und verängstig in der Luft blieben, bis vier Millionen von ihnen erschöpft vom Himmel fielen. So lief es landesweit und die Population brach zusammen. Der vermeintliche Sieg führte im Jahr danach zu einer Heuschreckenplage, da Spatzen am liebsten Insekten fressen, es aber keine Spatzen mehr gab. Die Folge: Missernten, Hungersnöte, Millionen Tote in China.
Nicht das „süße Blut“ lockt Mücken an
Doreen Werner öffnet die Falle und erklärt ihre Funktionsweise: oben im schwarzen Eimer ist Trockeneis drin. „Das produziert Kohlendioxid“, sagt sie. Das ist ein wesentlicher Lockstoff für Mücken auch bei Menschen. Sie reagieren nicht etwa auf unser „süßes Blut“, sondern auf den Kohlendioxidgehalt, den wir ausatmen. Als weiterer Lockstoff komme beim Menschen noch spezielle Düfte im Schweiß dazu. „Also unser Stinkstank“, wie Doreen Werner es so schön nennt.

Da stellt sich der Laie doch gleich die Frage, ob Touristen anders riechen, denn im Urlaub laufen nur sie mit dicken Quaddeln herum, aber nicht die Einheimischen. Werden die nicht gestochen? Doch, sagt die Expertin, aber ihr Immunsystem hat sich bereits an die dortigen Mücken gewöhnt, für Urlauber aber sind diese Mücken neu, deshalb reagieren sie heftiger.
Doreen Werner ist eine fleißige Sammlerin vor allem in Brandenburg. Aber sie kartiert mit Kollegen auch die Verbreitung aller Mückenarten für ganz Deutschland. „Dafür setzen wir auf die Hilfe der Bevölkerung.“ Über die Internetseite namens mueckenatlas.com sammelt sie Mücken. Bisher haben 33.251 Menschen ihr bereits geholfen. Sie folgten der Fang-Anleitung auf der Internetseite. „Das Wichtigste: Nicht draufhauen auf die Mücke“, sagt sie. Die Leute sollen ein verschließbares Glas über die Mücke stülpen, dann den Behälter mit dem noch lebenden Tierchen über Nacht ins Tiefkühlfach. Dann sind die Tiere tot, können aber von Doreen Werner noch untersucht werden. Dann stecken die Leute die Mücken in eine Streichholzschachtel und senden sie per Brief an Doreen Werner nach Müncheberg. So kamen etwa 180.000 Mücken an.
Gefahr der Tigermücke
Die Einsendungen sind auch wichtig, weil durch den Klimawandel etwa die Asiatische Tigermücke bei uns heimisch geworden ist, die für Schlagzeilen sorgt, weil sie gefährliche Krankheiten wie Dengue-Fieber übertragen kann. Doreen Werner trägt auch die Tigermückenfunde in ihren Atlas ein.
In dem Buchenwald geht sie nun mit ihrem Käscher umher, schwingt das Netz zehnmal über dem Boden entlang und fängt Dutzende Insekten. Mit einem Drei-Sekunden-Blick erkennt sie, dass keine Mücken dabei sind und lässt die Insekten wieder frei.

„Grundsätzlich sind Mücken frei von Krankheitserregern“, sagt sie. Sie tragen also die Krankheit nicht immer in sich. „Sie sind nur Überträger.“ Das heißt: Auch die neuen Tigermücken haben kein Dengue, aber sie gehören zu den speziellen Mückenarten, die die Krankheit übertragen können. Unsere Hausmücken können das nicht. Die Tigermücken hier müssen aber auch erst bei uns jemanden stechen, der in Asien war und sich dort mit der gefährlichen Krankheit infiziert hat. Erst dann kann die Mücke beim nächsten Stich die Krankheit weitertragen. „Damit ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering, auch wenn es möglich ist“, sagt Doreen Werner.



