Verkehr

Das Berliner Straßenbahnnetz wächst: Umweltverband kritisiert „Realsatire“

Die Neubaustrecke zwischen der Wissenschaftsstadt Adlershof und Schöneweide schafft zahlreiche neue Direktverbindungen. Doch weiterhin gibt es Kritik.

Eine neue Kampagne der BVG macht auf den Straßenbahnausbau aufmerksam. Allerdings wächst das Netz langsam: Die jüngste Streckeneröffnung – in der Invalidenstraße – liegt sechs Jahre zurück.
Eine neue Kampagne der BVG macht auf den Straßenbahnausbau aufmerksam. Allerdings wächst das Netz langsam: Die jüngste Streckeneröffnung – in der Invalidenstraße – liegt sechs Jahre zurück.Berliner Zeitung/Peter Neumann

Berlin-Die Marketingexperten der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) sind mal wieder kreativ tätig geworden. „Die BVG fährt jetzt auf der Wissenschaftsschiene“: So wirbt das Landesunternehmen für die neue Straßenbahnstrecke, die an diesem Sonnabend im Südosten Berlins für den Fahrgastverkehr freigegeben wird. 

Die scheidende Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne), Treptow-Köpenicks Bezirksbürgermeister Oliver Igel (SPD) und andere Gäste werden die Neubautrasse am Vormittag in der Wissenschaftsstadt Adlershof eröffnen. Die 2,7 Kilometer lange Strecke, die von der bisherigen Endstelle in der Karl-Ziegler-Straße über den Groß-Berliner Damm nach Schönweide führt, eröffnet viele neue Direktverbindungen. Auch der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) freut sich, dass das Berliner Straßenbahnnetz weiter wächst. Ein wichtiger Aspekt komme ihm aber wie eine „Realsatire“ vor, sagte Martin Schlegel, der im Landesverband Berlin für Verkehr zuständig ist.

Mit Forschungseinrichtungen, innovativen Unternehmen und Universitätsinstituten sei die Wissenschaftsstadt Adlershof zweifelsohne ein zukunftsträchtiger Standort, so Schlegel. „Doch dazu passt einfach nicht, dass die Bahnen auf der Neubaustrecke an den Ampeln aufgehalten werden“, sagte der Verkehrsexperte.

Straßenbahn ist länger unterwegs als der Bus

Die Linksabbieger haben keine separate Ampelphase, bestätigte Hartmut Gröschke, der sich als Vorstand des Denkmalpflege-Vereins Nahverkehr Berlin mit der Straßenbahn auskennt. „Würde die Straßenbahn zeitgleich zum parallel fließenden Verkehr fahren dürfen, könnten Abbieger vor dem Passieren der Gegenfahrbahn auf den Gleisen stehen“, so Gröschke. Das könnte zu Unfällen führen. „Deshalb gibt es für die Straßenbahn eine eigene Phase, bei der der Individualverkehr Rot hat. Wenn diese rechtzeitig angemeldet und eingetaktet würde, sollte es keine Verzögerungen geben.“

Doch eine  Bevorrechtigung sei nicht erkennbar, heißt es beim Fahrgastverband IGEB. Die Folge: lange zusätzliche Standzeiten. Auf der neuen Straßenbahnstrecke sind die Reisenden länger unterwegs als mit dem Bus 163, der bislang auf dem Groß-Berliner Damm unterwegs war. Wie berichtet kann die Differenz bis zu vier Minuten betragen.

Senat: Reisezeit kann sich in der Praxis noch ändern

Jan Thomsen, Sprecher von Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne), stellt das nicht in Abrede. Doch es gebe einen wichtigen Grund: die Verkehrssicherheit. „Der komplette Groß-Berliner Damm ist umgebaut worden. In diesem Zuge sind allein auf der Strecke Sterndamm bis Landschaftspark Johannisthal, die auch der Bus 163 befuhr, vier Ampelanlagen neu gebaut und drei erweitert worden“, erklärte Thomsen. Er betonte, dass sich die Reisezeit noch ändern könne. Denn der Fahrplan, mit dem die BVG auf der neuen Straßenbahnstrecke jetzt ins Rennen geht, sei „konservativ gerechnet“. „Im Praxisbetrieb wird sich erweisen, ob und wie viel man noch herausholen kann, sei es via Ampelschaltung, sei es via Verkehrsführung“, teilte der Behördensprecher mit.

Bei allen Diskussionen dürften die Verbesserungen, die auch diese Neubaustrecke bringt, nicht ins Hintertreffen gerate, mahnte er. „Dass hier eine Straßenbahn hingehört, mit allen Vorteilen bei Kapazität, Taktdichte, Verlässlichkeit und Netzanbindung, und dass der Bus künftig überfordert gewesen wäre, brauche ich sicher nicht zu erklären“, sagte Thomsen. Jens Wieseke vom Fahrgastverband würdigte, dass die Gleise gelegt wurden, bevor links und rechts des Groß-Berliner Damms die Lücken in der Bebauung geschlossen werden. Erst die Infrastruktur, dann neue Gewerbestandorte, Büros und Wohnungen: „Das ist grundsätzlich richtig.“

BUND sieht Verstoß gegen das Berliner Mobilitätsgesetz

Die Neubaustrecke wird auf ganzer Länge von zwei Straßenbahnlinien befahren. Die M17 aus Falkenberg fährt über Schöneweide hinaus zum S-Bahnhof Adlershof. Die 61 fährt montags bis freitags von Schöneweide über den S-Bahnhof Adlershof nach Rahnsdorf. Die 63 aus Mahlsdorf und Köpenick wird zum Landschaftspark Johannisthal verlängert. Der Bus 163 zum Flughafen BER fährt nicht mehr über den Groß-Berliner Damm, sondern erhält zwischen Schöneweide und dem S-Bahnhof Adlershof eine neue Führung.

Die jetzigen Ampelschaltungen widersprächen dem Berliner Mobilitätsgesetz, das die Qualität des Nahverkehrs erhöhen soll, sagte Martin Schlegel vom BUND. In Paragraf 26, Absatz 5, werde ihm Vorrang vor dem motorisierten Individualverkehr eingeräumt. Möglichkeiten zu einer Klage sieht Schlegel mangels Klagebefugnis inzwischen nicht mehr, doch er hofft, dass unter einer neuen Verkehrssenatorin oder einem neuen Verkehrssenator eine bessere Lösung gelingt. Grundsätzlich wäre es möglich gewesen, die Ampelschaltungen besser zu gestalten und der Tram eine grüne Welle zu bahnen, so der BUND-Mitarbeiter. Außerhalb der Innenstadt könne die Straßenbahn zeigen, dass sie schnell sein kann. Streckeneröffnungen sind eine Chance, auf dieses Verkehrsmittel aufmerksam machen. Berlin sollte diese Chance nutzen.