Es ist schon wieder passiert. Ich habe mir selbst eine Diagnose gestellt – Misophonie. Und das kam so: Ich bestieg eine U-Bahn, nach langer Zeit mal wieder, am Frankfurter Tor, Linie 5. Kaum war der Zug angefahren, da ertönte ein Signal, merkwürdig fremd und doch irgendwie vertraut. Es erinnerte mich an frühere Kaufhausbesuche. Allerdings folgte keine geheimnisvolle Ansage im Stil von: „Die 48 bitte die 93.“
Eine Männerstimme schaltete sich per Bordlautsprecher zu, offenbar vom Band. Sie informierte über Bauarbeiten auf der Strecke und verfiel dann in eine Sprache, die sich sehr stark ans Englische anlehnte. „Dju tu Endscheniering Wörks“ und so weiter. „Tschäintsch hier, tschäintsch seer“ und so fort. Während der Fahrt stets aufs Neue, und bei jeder Wiederholung reagierte ich nervöser, aggressiver, fluchte insgeheim, wurde mir selbst unbegreiflich. Was war da los?
Als Fernreisender mit dem ICE bin ich schließlich durch das Stahlbad der Deutschen Bahn gegangen, was inglisch Pronontsiäschn anbelangt. „Ju rietsch eh Lokelträn tu Lüdenscheid weia Hagen …“ Auch zähle ich selbst nicht gerade zur Krone der fremdsprachigen Klangschöpfung; Franzosen zum Beispiel halten mich am Telefon wahlweise für einen Belgier, Niederländer oder Dänen. Änt mai Inglisch kutt bie matsch bätter tuu.
Ich sah immerhin keinerlei Anhaltspunkte für eine suboptimale Außenwirkung auf den Besuchermagneten Berlin. Obwohl es Richtung Tierpark ging, hielten sich dem ersten Augenschein nach keine Touristen in dem Waggon auf. Niemand stutzte. Für meine empfindliche Reaktion blieb also nur eine einzige Erklärung: Ich war nicht gesund.

Wieder zu Hause, tippte ich die Begriffe „schräge Töne“ und „starke Abneigung“ in eine Suchmaschine, gelangte in die virtuelle Sprechstunde von Frau Doktor Wikipedia, die mir den Befund Misophonie nahelegte. Sie teilte mir mit: „Es wird diskutiert, ob es sich um eine neurologische oder psychische Störung handelt.“
Erleichtert war ich zu erfahren, dass es sich dann doch eher um „eine klassische Konditionierung anstelle einer Anomalie im Gehirn“ handelt. Dass jedenfalls einige Forscher annehmen, Betroffene würden mit bestimmten Geräuschen unangenehme, ja traumatische Erfahrungen verbinden. Bei manchen führt das Schmatzen eines Tischnachbarn zu Misophonie oder ein Putzlappen, der über Fensterscheiben quietscht. Bei mir ist es wohl der Lokelträn tu Lüdenscheid.
Sich selbst heilen mit Frau Doktor Wikipedia
Nicht, dass ich jemals dorthin gefahren wäre, nach Lüdenscheid, aber vergleichbare Ansagen habe ich gefühlt hundertmal durchlitten. „Sänk ju for tschuusing Deutsche Bahn, goodbye!“ – Klack! Ungeduldig starrte ich dann auf die Uhr, der Puls stieg, noch 15, 10, 5 Minuten. Schon war er weg, der gebuchte Anschlusszug!
Nicht selten brachte eine solche Verspätung sportliche Herausforderungen mit sich. Neulich erst, als mich eine Bahnhofsansagerin treppauf und treppab schickte wegen wiederholter Gleiswechsel meiner nächsten Reisemöglichkeit, voll beladen, ich und die nächste Reisemöglichkeit dann natürlich auch, „dju tu Endscheniering Wörks“.



