Es ist schon wieder passiert. Ich habe mir selbst eine Diagnose gestellt – Agaraphobie. Und das kam so: Ich verbrachte einige Tage auf dem flachen Land. Es heißt, dort könnten die Bewohner beim Blick aus dem Fenster sehen, wer sie am nächsten Tag besucht. Vermutlich hängt es mit der dadurch gewohnheitsmäßig angestauten Vorfreude zusammen, dass sie höflich miteinander umgehen, völlig Fremde grüßen, ja sogar entgegenkommenden Passanten freiwillig ausweichen.
Ich war keine halbe Stunde wieder in Berlin und zu Fuß unterwegs, da wäre ich beinahe einem Verkehrsunfall zum Opfer gefallen. Ein Kinderwagen raste mit überhöhter Geschwindigkeit über den Gehweg, ein hochpreisiger Rammbock, energisch angetrieben von einer jungen Frau. Ich dachte mir erst nichts dabei, vermutete, dass frühkindlicher Chinesisch-Unterricht, Mutter-Kind-Lachyoga oder sonst eine wichtige Aktivität zur Eile mahnte. Wir befanden uns in Prenzlauer Berg.
Kurz darauf jedoch begegnete mir ein Mittdreißiger, der zunächst mich fixierte, dann die Hausfassaden, und scheinbar vom faszinierenden Gesamteindruck des Mauerwerks gefangen schließlich auf Kollisionskurs ging. Wir bewegten uns in Schlangenlinien aufeinander zu, bis ich mich im letzten Moment mit einem Ausfallschritt in den Rinnstein rettete. Und als mir das in den folgenden Tagen so ähnlich immer wieder passierte, mal mich ein E-Scooter auf dem Gehweg streifte („Hoppla!“), mal mir ein Fahrradfahrer an einer grünen Fußgängerampel um Haaresbreite die Füße amputiert hätte („Vorsicht!“), mal ein Jogger zum Bodycheck ansetzte („Keuch!“), überlegte ich, ob während meiner Abwesenheit ein Gesellschaftsspiel in Mode gekommen sein könnte. Neudeutsch Challenge, Gehweg-Pogo, Sideway-Crashtest, was weiß ich.
Im Internet ließ sich nichts dergleichen finden, nicht mal bei TikTok, trotz eines gewissen Überangebots an sinnlosen Darbietungen. Vielleicht war ich durch die verweichlichten Umgangsformen in der Provinz verdorben, vom Großstadtdarwinismus entwöhnt, vom Survival-of-the-Frechest, dem Unterm-Strich-zähl-ich. Nach reiflicher Überlegung verständigte ich mich mit mir selbst darauf, dass es völlig normal sei, wenn Menschen die Nähe anderer suchten, nach langer coronabedingter Isolation zumal.

Wer war hier also krank? Doch wohl nicht die Rempler, sondern ich. Eine Suchmaschine bestätigte dann auch meinen Anfangsverdacht: Agaraphobie, Angst vor Berührungen. Auf www.phobie-doc.org oder so ähnlich stand, dass es harmlos anfangen würde, wobei die Phobie-Docs nicht ausführten, was darunter zu verstehen sei: harmlos. Ein blauer Fleck? Eine Adduktorenzerrung?
Nicht Berlin, München ist die Hochburg der Trottoir-Terroristen
Irgendwann, hieß es jedenfalls, würden Betroffene oft an die vermeintliche Gefahr denken, die von menschlichen Ansammlungen ausgehe. Dieses Stadium hatte ich zum Glück noch nicht erreicht. Heilung war möglich. Durch eine Gesprächstherapie zum Beispiel. Ich versuchte es bei einer Kollegin, doch die meinte, ich solle mich mal nicht so anstellen. Kölns Innenstadt sei in dieser Hinsicht viel schlimmer, weil beengter. Und München erst, geradezu eine Hochburg der Trottoir-Terroristen.
Ich musste mich dem Problem stellen, Konfrontationstherapie, der Krankheitserreger wird zur Medizin. Eigentlich doch ganz praktisch, dieses Berlin. Inzwischen glaube ich fast, dass ich mir das mit der vorsätzlichen Rempelei nur eingebildet habe.


