Innere Sicherheit

Verfassungsschutzbericht: Berlin im Ziel von Spionage, Cyberangriffen und Extremismus

Der Ukraine-Krieg verändert alles. Der neue Verfassungsschutzbericht für Berlin sieht Gefahren durch russische Geheimdienste, Desinformation und Extremisten.

Solidaritätsdemonstration für die verurteilte Linksextremistin Lina E. in Berlin-Kreuzberg am 31. Mai 2023
Solidaritätsdemonstration für die verurteilte Linksextremistin Lina E. in Berlin-Kreuzberg am 31. Mai 2023A. Friedrichs/imago

Spionage, Cyberangriffe und das Streuen von Falschinformationen – das sind die neuen großen Themen, die den Berliner Verfassungsschutz beschäftigen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Sicherheitslage in Deutschland und der deutschen Hauptstadt grundlegend verändert.

Die potenzielle Gefährdung von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft habe sich durch mögliche russische Spionageaktivitäten erhöht, heißt es im aktuellen Berliner Verfassungsschutzbericht, der am Dienstag veröffentlicht wurde. „Das Aktionsrepertoire russischer Nachrichtendienste reicht dabei von klassischen Spionageaktivitäten über Cyberangriffe bis hin zu Desinformationskampagnen“, heißt es darin.

„Viele von uns haben nach den coronabedingten Ausnahmejahren auf ein wenig mehr Normalität gehofft. Diese Hoffnung wurde allerdings durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine enttäuscht“, sagte Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) nach der Senatspressekonferenz, als sie den Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2022 vorstellte. „Aus Verfassungsschutz-Perspektive hat der Angriffskrieg direkte Auswirkungen auf die innere Sicherheit, und vor allem auch in Berlin“, so Spranger. Das betreffe zum einen den Bereich der Spionageabwehr und zum anderen die Aktivitäten von Verfassungsfeinden.

Als potenzielle Ziele russischer Cyberspionage- und auch Cybersabotageaktivitäten kommen laut Verfassungsschutz vor allem Organisationen und Einrichtungen in Betracht, die zur sogenannten kritischen Infrastruktur zählen – wie etwa die Energieversorgung oder das Gesundheitswesen. Mit Cyberattacken werde gezielt gegen IT-Systeme vorgegangen, um Informationen abzuziehen und um direkten Schaden zu verursachen und Systeme lahmzulegen.

Die Behörde warnt zudem vor Desinformationskampagnen, die Russland in Deutschland betreibe, um die politische und öffentliche Meinung in seinem Sinne zu beeinflussen. Mit gezielt eingesetzten falschen oder irreführenden Informationen solle das Vertrauen in staatliche Stellen untergraben und gesellschaftliche Konfliktlinien sollen durch polarisierende Darstellungen verstärkt werden. Die russische Einflussnahme erfolge über soziale Netzwerke, staatlich geförderte und private Institute und russische Staatsmedien. Die Desinformationskampagnen fallen nach Einschätzung der Behörde auch in Berlin auf fruchtbaren Boden: In verschiedenen verfassungsfeindlichen Spektren würden entsprechende prorussische Narrative genutzt.

Partei Der III. Weg ist bei den Rechtsextremisten der dominierende Akteur

Aus der Lektüre des Berichts lässt sich schließen, dass der Ukraine-Krieg Extremisten jeglicher Couleur befeuert. So instrumentalisierten Rechtsextremisten den Krieg für ihre Ziele – unabhängig davon, ob sie proukrainisch oder prorussisch eingestellt seien. Während sich große Teile der sogenannten Neuen Rechten mit Russland solidarisierten, positionierte sich die Neonazi-Partei Der III. Weg proukrainisch.

Auch die linksextremistische Szene, die keine einheitliche Position zum Krieg entwickeln konnte, versuche, den Krieg für ihre Zwecke zu nutzen: mit einigen Demonstrationen, deren Teilnehmerzahlen unter den Erwartungen blieben, oder auch mit Sabotageaktionen, wie etwa einer Brandstiftung im September an einem Kabelschacht der Bahn.

Im traditionellen rechtsextremistischen Spektrum Berlins bleibt laut Bericht Der III. Weg der dominierende Akteur. Der Berliner Ableger konnte die Zahl seiner Mitglieder und Unterstützer weiter steigern – von 60 auf 80. Dies geschah auch wegen des Übertrittes von ehemaligen Mitgliedern und Funktionären der NPD-Jugendorganisation Junge Nationalisten zum III. Weg. Die Mitgliederzahl der NPD sank von 180 im Vorjahr auf 170. Das Personenpotenzial bei den Rechtsextremisten in Berlin beziffert der Verfassungsschutz auf 1450.

Reichsbürger sind solidarisch mit Russland

Als große Gefahr sieht der Inlandsnachrichtendienst auch die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter. Bei diesen handele es sich um Gruppierungen und Einzelpersonen, die die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem leugneten und ablehnten. Nach ihrer Vorstellung werde Deutschland von einer „BRD GmbH“ verwaltet oder sei weiterhin von den Alliierten besetzt. Das Personenpotenzial in dieser Szene habe sich von 670 auf 700 erhöht.

Als Beleg für „die anhaltend hohe Gefährdung“, die vom Spektrum der Reichsbürger und Selbstverwalter ausgehe, zieht die Behörde das Ermittlungsverfahren heran, das die Bundesanwaltschaft gegen eine entsprechende Gruppierung führt. Bei der bundesweiten Großrazzia im Dezember wurde auch in Berlin eine Beschuldigte verhaftet. Sie sollen eine terroristische Vereinigung gegründet haben, um die Regierung zu stürzen.

In den öffentlichen Aktivitäten habe der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine das Handeln eines Großteils der Berliner Reichsbürger-Szene dominiert, heißt es in dem Bericht. Das Gros der Berliner Reichsbürger habe sich dabei klar prorussisch positioniert. Mit staatenlos.info Comedian e.V. („staatenlos.info“), „Gelbe Westen Berlin“ und „Die Deutschlandfrage“ organisierten Reichsbürger-Gruppierungen regelmäßig Veranstaltungen, bei denen sie ihre Solidarität mit Russland bekundeten, gegen die Nato agitierten und russische Desinformationen und Falschmeldungen verbreiteten.

Corona-Proteste: Gefahren durch „Staatsdelegitimierer“

Ein weiteres Kapitel in dem Bericht bildet das wegen der Corona-Proteste eingeführte Beobachtungsspektrum der sogenannten Staatsdelegitimierer. Dabei handelt es sich laut Bericht „um verfassungsfeindliche netzwerkartige Strukturen von Gruppierungen und Einzelpersonen, die sich im Zuge des Protestgeschehens gegen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen zunehmend radikalisiert haben“. Diese zielten darauf ab, die repräsentative Demokratie zu überwinden. „Mit ihrer Neigung zu Verschwörungserzählungen sowie antisemitischen, reichsbürgertypischen, rechtsextremistischen und antikapitalistischen Narrativen sind sie anschlussfähig in andere extremistische Milieus“, heißt es.

Die Corona-Pandemie war zum Jahreswechsel 2021/2022 weiterhin das bestimmende Thema in diesem Spektrum. Im Verlauf des Jahres wurden aber auch andere Themen, wie etwa die Kritik an einer vermeintlichen „Kriegspropaganda“ des Westens und die Verbreitung prorussischer Falsch- und Desinformationen in die Propaganda der Szene integriert. Das Potenzial der hier aktiven Personen schätzt der Berliner Verfassungsschutz auf 150.

Stagnation bei der autonomen Szene

Gefahren für die freiheitlich demokratische Grundordnung drohen laut Bericht auch von links. Zwar steht dieses Kapitel im Berliner Verfassungsschutzbericht – wie in den früheren Jahren – ziemlich weit hinten. Allerdings beziffert die Behörde die Zahl der Linksextremisten weit größer als die der Rechtsextremisten, nämlich auf 3700 Personen. Davon werden 850 als gewaltbereit eingeschätzt. Insgesamt ist das Personenpotenzial der Linksextremisten rückläufig.

Die Behörde konstatiert eine „momentane Stagnation der autonomen Szene in Berlin“. Das Aktionsniveau sei niedrig und das Personenpotenzial habe sich weiter verringert. „Hintergrund dieser Entwicklungen dürfte die seit langem anhaltende strukturelle Schwächung des autonomen Spektrums sein“, heißt es im Bericht.

Mit der inoffiziellen Auflösung der ehemals führenden Gruppierung im autonomen Spektrum, „Radikale Linke Berlin“, fehle ein richtungsgebender Akteur. Darüber hinaus seien mit der Räumung diverser Szeneobjekte in den Jahren 2020 und 2021 Identifikations- und Vernetzungsorte für die autonome Szene verloren gegangen.

„TikTokisierung des Salafismus“ in Berlin

Unverändert hoch ist aus Sicht des Verfassungsschutzes die Gefährdung durch den islamistischen Terrorismus. Insbesondere Jugendliche stünden verstärkt im Zielspektrum salafistischer Propaganda. 2270 Personen gehören laut Verfassungsschutz der islamistischen Szene Berlins an. Davon werden 520 Islamisten als gewaltorientiert eingeschätzt.

Dschihad-salafistisches Gedankengut und die Propaganda des sogenannten Islamischen Staates (IS) würden vor allem in den sozialen Medien unter den Anhängerinnen und Anhängern der salafistischen Szene in Berlin verbreitet.

Die Behörde spricht hier von einer „TikTokisierung des Salafismus“ in Berlin. Gemeint ist die Verlagerung salafistischer Propaganda in soziale Medien und Online-Plattformen. Regelmäßig werden vor allem in Videos salafistischer Predigten minuten- oder sogar stundenlang Details der salafistischen Ideologie dargelegt. Die Videos werden zunehmend durch Propagandaformate ergänzt, die sich an Jugendliche richteten und über die von ihnen genutzten Medien verbreitet werden. Dabei habe sich das soziale Netzwerk TikTok zu einer relevanten Plattform entwickelt, auf der auch national und international bekannte Salafisten eigene Kanäle unterhalten.

PKK und „Graue Wölfe“ in Berlin zahlreich vertreten

Auch salafistische Moscheen in Berlin spielten weiterhin eine wichtige Rolle für die Szene, und zwar als Vernetzungs- und Trefforte. Der Verfassungsschutz hebt hier zwei Einrichtungen hervor, die von Salafisten dominiert seien: das Furkan-Zentrum und den Furkan e.V. in Neukölln.

Die Verschärfung des israelisch-palästinensischen Konflikts führte, wie schon im Vorjahr, erneut zu Demonstrationen in Berlin. Dabei wurden unter anderem Parolen gerufen, die die Vernichtung Israels forderten.

„Es eint Extremisten, dass sie politische Krisen für sich nutzen und mit den Ängsten der Menschen spielen, um unsere Demokratie zu destabilisieren“, erklärte der stellvertretende Landeschef der Gewerkschaft der Polizei, Stephan Kelm. „Mitten in Europa herrscht ein Krieg. Dieser stellt uns als Gesellschaft durch die wachsende Inflation neben der ohnehin schon präsenten Migration nach Deutschland vor Aufgaben, auf die es selten schnelle und einfache Antworten gibt.“ Auch, wenn Extremisten sich oft als Wolf im Schafspelz tarnten, blieben sie gefährlich, so Kelm. „Deshalb brauchen wir die bestmögliche technische Vernetzung der Sicherheitsbehörden, rechtsstaatliche Grundlagen für notwendige Maßnahmen wie die Ausweitung der Quellen-TKÜ sowie eine Harmonisierung der Polizeigesetze und Versammlungsrechte.“