Landgericht Berlin

Mutter der getöteten Anissa weint im Prozess: „Warum dieses Kind?“

Vor sechs Monaten verschwand in Berlin ein Kind von einem Spielplatz. Seit Dienstag muss sich ein Freund der Familie wegen Totschlags vor Gericht verantworten.

Nach der Tat trauerten Menschen im Bürgerpark um die kleine Anissa.
Nach der Tat trauerten Menschen im Bürgerpark um die kleine Anissa.Volkmar Otto

„Warum? Warum dieses Kind? Warum sie? Habe ich dir einmal was Schlechtes getan?“, ruft Sibel C. an diesem Dienstag und schaut den Angeklagten an, der hinter Panzerglas sitzt. Die 25-Jährige bricht in Tränen aus, als sie die Frage im großen Schwurgerichtssaal des Moabiter Kriminalgerichts stellt und auf die sie bis heute keine Antwort bekam. Dann atmet sie tief durch, knetet zur Beruhigung einen kleinen orangefarbenen Ball in ihrer linken Hand, gewinnt ihre Fassung wieder, um dann im nächsten Augenblick erneut zu schluchzen.

Es sind die Tränen einer Mutter, die auf unfassbare Weise ihre fünfjährige Tochter Anissa verlor – durch ein Gewaltverbrechen, das über die Stadtgrenzen hinaus für Schlagzeilen sorgte. Eine Tat, die mutmaßlich von Gökdeniz A., dem Angeklagten, begangen wurde. Am helllichten Tag, mitten in einem belebten Park, mitten in Berlin.

Sibel C., eine kleine, schmale Frau mit schwarzem Kopftuch und schwarzer Tunika, wechselt an diesem ersten Verhandlungstag von der Rolle der Nebenklägerin in diesem Prozess in die Rolle der Zeugin. Ihr Anwalt sitzt neben ihr, ebenso wie eine psychosoziale Prozessbegleiterin.

Anissas Mutter kennt den 20-jährigen Angeklagten „schon sehr, sehr lange“ – seit der Grundschule. Damals, so erzählt sie, sei sie mit dem älteren Bruder von Gökdeniz A. in eine Klasse gegangen. In den letzten Monaten sei er immer öfter bei ihr gewesen, habe Hilfe gesucht. Er habe ihr Leid getan. Zu Hause habe er „Scheiße gebaut“, sei geschlagen und eingesperrt worden, habe ihr der Angeklagte erzählt. „Er war wie mein kleiner Bruder, quasi“, berichtet die Zeugin. Ihre vier Töchter, darunter Zwillinge, hätten ihn Tante genannt, weil er mit ihren Kindern immer auch mit Puppen gespielt habe.

Angeklagter war noch bei Eltern gemeldet

Gökdeniz A., der Angeklagte, verfolgt die Aussage der Zeugin mit offenem Mund, quittiert selbst die drängende Frage der Mutter an ihn nach dem Warum ohne emotionale Regung. Der 20-Jährige war bis zur Tat noch bei seinen Eltern gemeldet. Als Heranwachsender muss er sich vor einer Jugendkammer wegen des gewaltsamen Todes des kleinen Mädchens verantworten.

Am 21. Februar dieses Jahres soll er im Bürgerpark Pankow mit einem Messer siebenmal auf die älteste Tochter von Sibel C. eingestochen haben. Das fünfjährige Mädchen starb wenig später in einem Krankenhaus. Ein Motiv für die Tat nennt die Staatsanwaltschaft nicht. Der Anklagesatz, den die Oberstaatsanwältin Henrike Hillmann verlesen hat, ist ungewöhnlich kurz. Er besteht aus gerade einmal sechs Zeilen.

Gökdeniz A. wird Totschlag, nicht Mord vorgeworfen. Auch, weil die Mordmerkmale bisher fehlen und Gökdeniz A. bis heute zu den Vorwürfen schweigt, so begründet es die Staatsanwaltschaft. „Der Einzige, der dazu etwas sagen könnte, ist der Angeklagte“, sagt auch der Anwalt von Anissas Mutter in einer Verhandlungspause. Er denke, dass das letzte Wort darüber, ob es Totschlag oder Mord war, noch nicht gesprochen sei.

Sibel C. erzählt im Prozess, dass Gökdeniz A. schon wenige Male allein auf die Kinder aufgepasst habe – auch am Tattag. An jenem Dienstag sei Sibel C. mit ihren Kindern und dem Angeklagten auf einen nahen Spielplatz gegangen. Die Kinder hätten sich „extrem gefreut“. „Bis auf Anissa“, sagt die Mutter. Das Mädchen habe nicht mitkommen wollen und geweint. „Ich habe sie noch überredet“, erzählt Sibel C. schluchzend.

Auf dem Spielplatz seien die Zwillinge im Kinderwagen eingeschlafen, Anissa habe geschaukelt, erinnert sich die Mutter. Als die Kinder Hunger bekamen, ging Sibel C. nach eigenen Worten nach Hause, um Essen zu kochen. Gökdeniz A. habe sich bereit erklärt, auf die Mädchen aufzupassen und später nachzukommen.

Die Mutter des getöteten Mädchens (r.) ist im Prozess Nebenklägerin.
Die Mutter des getöteten Mädchens (r.) ist im Prozess Nebenklägerin.Katrin Bischoff

Dann sei sie informiert worden, dass ihre älteste Tochter verschwunden sei. Sie sei zum Spielplatz gerannt, wo auch schon Polizisten waren. Zeugen schilderten, dass Anissa zur Toilette musste, und Gökdeniz A. mit der Kleinen weggegangen und ohne das Kind wiedergekommen sei.

Ich hatte dieses Messer in der Hand. Ich hätte es ihm wegnehmen können.

Die Mutter erzählt, dass der Angeklagte so getan habe, als würde er bei der Suche nach Anissa helfen. „Er hat uns in die Irre geführt, uns verscheißert“, sagt Sibel C. nun. Er habe dabei genau gewusst, was er tat, ist sich die Mutter sicher. „Er wollte, dass wir sie nicht finden“, bringt die Zeugin anklagend hervor.

Das Mädchen wurde am späten Nachmittag mit mehreren Stichverletzungen in einem Gebüsch im Bürgerpark gefunden. Es verstarb laut Anklage durch inneres Verbluten.

Vor Gericht macht sich Anissas Mutter immer wieder Vorwürfe, ihre Kinder dem Angeklagten anvertraut zu haben. Nur einen Tag vor der Tat habe sie die Kleidung des Angeklagten waschen wollen und dabei in der Jacke ein Küchenmesser gefunden. Auf das Messer angesprochen, soll Gökdeniz A. geantwortet haben, er habe es gebraucht, um zu Hause abhauen zu können. „Ich hatte dieses Messer in der Hand. Ich hätte es ihm wegnehmen können“, sagt die Zeugin. Heute wisse sie, dass es ein großer Fehler gewesen sei, dem Angeklagten ihre Kinder anzuvertrauen, sagt Anissas Mutter.

Einige Tage nach der Bluttat fand die Polizei das Tatmesser. Darauf soll DNA des Angeklagten gefunden worden sein. Es ist ein Messer mit einer etwa 15 Zentimeter langen Klinge, das Uwe Nötzel, der Vorsitzende Richter, Anissas Mutter zeigt. Ob sie das Messer wiedererkenne, will er von Sibel C. wissen. Die Zeugin zögert, geht dann langsam an den Richtertisch. Leise sagt sie, dass sie das Messer, das sie bei Gökdeniz A. sah, etwas anders in Erinnerung habe.

Der Angeklagte wurde noch am Tattag festgenommen, einen Tag später Haftbefehl erlassen. Ihm werden in dem Prozess, der nach derzeitiger Planung bis Mitte November gehen wird, noch weitere Delikte vorgeworfen. Unter anderem sollen sich Gökdeniz A. und sein noch strafunmündiger Bruder in einer S-Bahn vor einer Frau entblößt haben. Zudem wird dem Angeklagten Fahren ohne Führerschein und Unfallflucht vorgeworfen.

Am Donnerstag wird der Prozess fortgesetzt. Dann soll die Schwester von Sibel C., die Tante des getöteten Kindes, als Zeugin gehört werden. Sie soll ihre Schwester mehrfach aufgefordert haben, den Kontakt zu Gökdeniz A. abzubrechen.

Warum sie das nicht getan habe, will eine Schöffin von Anissas Mutter wissen. Sie habe darüber nachgedacht, antwortet Sibel C. „Ich habe es nicht übers Herz gebracht.“ Sie habe Gökdeniz helfen wollen, auf die Beine zu kommen. „Ich habe ein krasses Helfersyndrom“, sagt Anissas Mutter dann mit tränenerstickter Stimme.

Am Abend des Tattages sollte Gökdeniz A. eigentlich in eine Art Kriseneinrichtung für Heranwachsende ziehen.