Strandbad Wannsee

Retter statt Rentner: Warum ein Berliner mit 59 Jahren Rettungsschwimmer wurde

Daimler schickte ihn in den Vorruhestand. Zu Hause fiel ihm die Decke auf den Kopf. Dann las Klaus Urbanek eine Stellenanzeige. Und fing noch einmal neu an.

Klaus Urbanek, 61, Rettungsschwimmer im Strandbad Wannsee.
Klaus Urbanek, 61, Rettungsschwimmer im Strandbad Wannsee.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Berlin-Klaus Urbanek ist ein zufriedener Mensch. Und das ausgerechnet in Berlin, der heimlichen Hauptstadt der notorischen Nörgelei. Urbanek ist nicht nur zufrieden, er sagt: „Ich bin glücklich.“ Und das zeigt er auch. 

Am letzten richtig heißen Tag im August 2022 geht er im Strandband Wannsee die große Treppe hinunter, die auch einem mondänen französischen Seebad alle Ehre machen würde. Zu allen, die er trifft, sagt er: „Hallo und guten Tag“ oder „Viel Spaß“. Er lächelt mit dem Mund und den Augen.

Am Fuß der Treppe schaut er über die Strandkörbe, den See, die weißen Segel und breitet die Arme aus. „Die Arbeit hier ist wie Urlaub und ich bekomme auch noch Geld dafür“, sagt er und schiebt die Sonnenbrille in die Stirn.

Klaus Urbanek ist 61 Jahre alt und gehört zu den ältesten der 146 Rettungsschwimmer der Berliner Bäderbetriebe. Gleichzeitig ist er einer der dienstjüngsten: Es ist erst seine zweite Sommersaison.

Stellenabbau, Abfindung, Vorruhestand

Urbanek hat etwas geschafft, das nur wenigen gelingt: In einem Alter, in dem viele aus dem Arbeitsleben aussortiert werden, stieg er in eine völlig andere Branche ein und stellte sich auch noch einer echten sportlichen Herausforderung.

Gleich neben der Treppe ist der Strandkorbverleih. „Da hat alles angefangen“, sagt er. Und das kam so: Jahrzehntelang hat Urbanek bei Daimler in Berlin gearbeitet. Doch dann, mit 55 Jahren, das übliche Spiel: Rationalisierung, Stellenabbau, Abfindung, Vorruhestand. „Ich dachte, ich komme mit der Abfindung über die Runden und auch mit der vielen freien Zeit“, sagt er ernst. Aber das sei nicht leicht gewesen. Die alte Routine war weg, die Kollegen, der gewohnte Alltag. Sein Sohn studiert und wohnt nicht mehr bei den Eltern. Seine Frau hat noch 15 Jahre bis zur Rente. Die Tage allein zu Hause können lang werden, die Wochen, die Monate.

Am Wannsee ist reichlich Platz, da kommt es seltener zu konfliktreichem Gedränge.
Am Wannsee ist reichlich Platz, da kommt es seltener zu konfliktreichem Gedränge.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Urbanek läuft über den breiten Sandstrand durch ein Spalier aus künstlichen Palmen zum Rettungsschwimmer-Steg, der knapp 100 Meter in den Wannsee ragt. Nach zwei Jahren, erzählt er, wurde ihm die Zeit zu lang. Ihm fiel ein, dass er als Kind mal Leistungsschwimmer war und sogar bei einer Junioren-EM mitmachte. Im Internet fand er das Angebot einer Zeitarbeitsfirma: Strandkorbvermietung. Am Wannsee. Sechs Kilometer Radweg von seiner Wohnung entfernt. „Ich dachte: Perfekt.“

Freibäder sind generell Orte mit Konfliktpotenzial

Soziologen sagen, dass Freibäder Orte mit Konfliktpotenzial sind. Denn die Stadtgesellschaft driftet auseinander. In der Oper bleiben die kulturinteressierten Bildungsbürger unter sich, genau wie die Fußballfans in der Union-Kneipe oder die Zocker in der Spielhalle.

Anders im Freibad. Kaum jemand hat einen eigenen Pool. Deshalb pilgert die halbe Stadt zum Wasser, sobald die Sonne glüht. Freibäder gehören zu den wenigen Orten, an denen sich noch höchst ungleiche Gruppen begegnen: unterschiedliche Altersgruppen und Geschlechter, aber auch verschiedene Einkommen, Herkunftsländer und Temperamente. Fachleute sagen: Je größer die Unterschiede, desto größer die Möglichkeit von Konflikten. Gerade in einer Stadt wie Berlin.

Da liegen dann Familien, die ihre Ruhe suchen, drei Meter neben Jugendlichen, die für wenig Eintrittsgeld hier einen ganzen Ferientag verbringen können. In den Freibädern ist es wie auf der Straße: Je näher an der City, desto rauer der Ton. In der City gibt viel weniger Strandbäder, dafür mehr Bäder mit Schwimmbecken. Und am Beckenrand eskaliert die Lage schneller. Denn dort gehört es seit jeher zum Ritual, andere ins Wasser zu schubsen. Doch heute weiten sich kleine Konflikte auch schnell mal zur Massenschlägerei aus.

Hier regiert die Gelassenheit der Vorstädte

Am Wannsee gibt es allerdings einen großen Vorteil: Das 1907 eröffnete Bad hat einen 50 Meter breiten und 1275 Meter langen Stand. Der Sand wurde mit Güterwaggons vom Timmendorfer Strand geholt. Die etwa 200 weißen Strandkörbe stehen recht weit auseinander. Das größte Freibad Europas ist ein Familienbad, aber auch Touristen kommen gern hierher. Hier regiert die Gelassenheit der Vorstädte. Die Gäste sind meist älter. Gerade läuft eine weißhaarige Frau mit Nordic-Walking-Stöcken vorbei, mehr als braun gebrannt. Urbanek kennt sie. Aus dem FKK-Bereich. Ein Stammgast, seit 30 Jahren, mindestens.

Das Strandbad Wannsee ist das größte Bad an einem Binnensee in ganz Europa.
Das Strandbad Wannsee ist das größte Bad an einem Binnensee in ganz Europa.Berliner Zeitung/Markus Wächter

An richtig heißen Tagen kommen 6000 Gäste, dann wird es auch am Wannsee eng, dann stehen die Leute fast zwei Stunden am Imbiss an. „Aber hier“, weiß der Rettungsschwimmer, „bleiben alle friedlich.“ Einen Notarzteinsatz gebe es höchstens mal wegen eines Sonnenstichs.

Am Steg öffnet Urbanek die blaue Gittertür mit dem Schild „Nur für Bedienstete“ und erzählt, wie er Rettungsschwimmer wurde. Nach der Saison als Standkorb-Vermieter machte er zunächst einen Kurs, um an der Kasse zu arbeiten. „Dann kam Corona und damit auch die Kündigung von der Zeitarbeitsfirma.“ Wieder saß Urbanek zu Hause. Nach ein paar Monaten rief ein Kollege an: Es werden Rettungsschwimmer gesucht.

Das Retten ist gar nicht die wichtigste Aufgabe

Der Rest ist Geschichte: Urbanek meldete sich an, ging, ohne zu trainieren, zum Vorschwimmen, durfte in die nächste Runde und wurde für die Ausbildung zugelassen. Da war er 59.

Streifenpolizisten werden gern mit „Herr Wachtmeister“ angesprochen, Urbanek wird oft als „Bademeister“ bezeichnet, dabei hat er gar keine dreijährige Ausbildung zum Fachangestellten für Bäderbetriebe absolviert, sondern eine zweiwöchige Ausbildung zum Rettungsschwimmer. „Ich war der Älteste“, sagt er. „Aber das Alter spielte keine Rolle, nur die Fitness, das Können.“ Mit seinem roten Shirt, dem Drei-Tage-Bart und der Sonnenbrille sieht er cool aus. Er sagt: „Wir haben eine ernsthafte Aufgabe zu erledigen. Es geht um Menschenleben.“

Sonnenbrille und Fernglas sind wichtige Arbeitsutensilien für Rettungsschwimmer.
Sonnenbrille und Fernglas sind wichtige Arbeitsutensilien für Rettungsschwimmer.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Urbanek erklärt, dass das Retten nur das letzte Mittel ist. „Wichtiger ist es, die Gefahr im Vorfeld zu erkennen, so dass gar keine Rettung nötig ist.“ Er geht den Steg entlang und schaut nach links und rechts, zu den Badegästen, die gemächlich durchs Wasser waten. Er sagt, dass er am Gang erkennt, ob sie schwimmen können. Nichtschwimmer nähern sich der Uferlinie vorsichtig. Prüfender Blick, unsicherer Schritt. „Schwimmer rennen gern mal mit Anlauf in die Fluten“, sagt er. „Wichtig ist der Blick auf die potenziellen Problemfälle.“

Er zeigt auf einen jungen Vater, der ein Kind mit Windeln durchs Wasser führt. Vor ihm gehen noch zwei kleine Kinder. „Was ist, wenn der Vater einen Hitzschlag bekommt und umfällt?“ Oder wenn ein Kind ins Wasser fällt und der Vater keine Augen mehr für die anderen hat? Dann greift Klaus Urbanek ein. Er schaut genau hin.

Rettungsschwimmer sind für Problemfälle im Wasser zuständig. Für die Probleme an Land gibt es in Berlin die Streitschlichter des Gewaltpräventionsprojekts „Bleib cool am Pool“. Außerdem sind jeden Tag fast 180 Sicherheitsleute in den Bädern unterwegs, vor allem in denen, wo es zu Massenschlägereien kommt, wo unterschiedliche Nationalitäten und Kulturen aufeinandertreffen. Fremdenfeindlichkeit gibt es nicht nur bei Deutschen. Außerdem werden die Konflikte der Welt nicht nur auf den Straßen Berlins ausgetragen, sondern manchmal auch im Freibad.

Eine Sache eint alle Täter

Doch da gibt es noch eine andere Sache. Wer am Wannsee sitzt, fragt sich: Warum ist es hier so viel friedlicher? Ganz einfach: Die Gewalt geht eben nicht von dem Pärchen aus, das dort vorn auf der Decke knutscht, nicht von dem Vater, der seinem Sohn ein Eis holt und nicht von der Mutter, die ihrem Fünfjährigen vorliest. Die Gewalt geht nie von Frauen aus.

Es sind immer Männer, junge Männer. Das Internetvideo aus dem Columbiabad zeigt, dass sich nur Männer prügeln – gewaltbereite und gewalterfahrene Jugendliche mit wenig Respekt vor Ordnungshütern und viel Freude an der Provokation und am Mackertum. Dazu die Hitze, die Enge, halbnackte Körper, Alkohol.

Meist fängt es harmlos an: ein blöder Spruch, ein Schuss aus einer Wasserpistole in das Gesicht einer jungen Frau. Wenn es zu einer Kettenreaktion kommt, wenn die Sache eskaliert, folgen die Schlagzeilen. Bei Freibädern ist das Interesse groß. Anders als bei den 8000 Polizeieinsätzen an Berliner Krankenhäusern. Am Wannsee ist an diesem Tag nur einer aggressiv, ein kleiner Junge, der immer wieder versucht, am Strand eine Ente zu verjagen.

Klaus Urbanek im Boot der Rettungsschwimmer.
Klaus Urbanek im Boot der Rettungsschwimmer.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Klaus Urbanek steht jetzt am Ende des Stegs unter dem Wachturm, wo drei Männer und eine Frau Dienst haben. Braungebrannt, witzig, aufmerksam. Der Blick mit dem Fernglas von hier, wo Unfälle im tiefen Wasser passieren können, ist viel besser als vom Land.

Ein Körper leblos im Wasser

Urbanek sagt: „Da“, zeigt auf einen schwarzen Punkt zwischen zwei Bojen, bestimmt 300 Meter entfernt, greift zum Fernglas. „Alles in Ordnung“, sagt er dann, setzt das Fernglas ab, lässt den Blick weiter schweifen. Plötzlich springt er auf. Er hat gesehen, wie jemand mit ausgebreiteten Armen auf dem Wasser treibt, Rücken nach oben, bewegungslos. Ein Retter läuft schon zum Boot, da bewegt sich der Mann im Wasser. Urbanek atmet auf: „Es ist ihm wohl zu langweilig geworden, toter Mann zu spielen.“

Kurz danach tuckert er mit einem Kollegen im Boot los. Ihr Ziel: Ein paar Jungs, die sich im seichten Wasser mit Sand bewerfen. Der Rettungsschwimmer ruft: „Jungs, hört auf. Da können Steine drin sein. Nehmt doch einfach einen Ball.“

Die Jungs nicken, das Boot fährt weiter. Plötzlich rumort es im Funkgerät. Der Mann am Steuer gibt Gas. Der Motor jault, das Boot hebt sich vorn aus dem Wasser und jagt los, zu einer Frau, die außerhalb der Bojen schwimmt – mitten in der Fahrrinne der Schiffe.

Die Frau erschreckt sich, als sie das Boot sieht, sagt, dass sie gar nicht zu den Gästen des Bades gehöre, sondern selbst mit dem Boot gekommen sei. Die Retter klären sie über die Lebensgefahr in der Fahrrinne auf. Sie nickt und schwimmt schnell zurück zu ihrer Jacht.

Er muss niemandem mehr etwas beweisen

Klaus Urbanek fährt mit seinem Kollegen zurück zum Steg. Dort greifen sie wieder zu den Ferngläsern, plaudern und scherzen, den Blick immer auf die Badegäste gerichtet. Klaus Urbanek, der Älteste, mittendrin. Ein Mann, der weiß, dass er niemandem mehr etwas beweisen muss, außer sich selbst.

Die Sommersaison ist bald vorbei. Dann wechselt er in die Schwimmhalle in der Finckensteinallee. Seiner Winterstation. Nächsten Sommer ist er 62 Jahre alt und wieder hier, am Wannsee. Seinen neuen Job will er bis zur Rente durchziehen. Mindestens.