Stadtgeschichte

Berliner Sommerträume: Die vergessenen Seebäder

Erholungssuche in der Großstadt damals wie heute: zwischen „anständigen Leuten“ , wilden Kerlen, Wächtern mit Knüppel und anrückender Polizei.

„Seebad Mariendorf“ im Jahr 1908: rechts vom Steg der Teil für Schwimmer, hinten Mitte der Sprungturm.
„Seebad Mariendorf“ im Jahr 1908: rechts vom Steg der Teil für Schwimmer, hinten Mitte der Sprungturm.Kunstamt Wilmersdorf

Berlin-Carl Pieper hatte ein Problem: Tätowierte Burschen, „ebenso dunkel im Ruf wie im Aussehen“, bevölkerten seine Badeanstalt. „Seebad Ostende“ hatte er sie genannt, in Anspielung auf den mondänen belgischen Kurort an der Nordsee. Ob es an diesem Werbegag lag? Jedenfalls pilgerten die Badegäste zu Hunderten zu ihm an den Tegeler See, darunter angeblich auch Prominente wie Operettendiva Fritzi Massary. Aber dann, im Sommer 1900, als die elektrische Straßenbahn nach Tegel fuhr, machten plötzlich böse Buben das „Seebad Ostende“ unsicher. Acht Polizisten rückten an, konnten aber nichts ausrichten.

Es wurde so schlimm, „dass ein anständiger Mensch die Badeanstalt nicht mehr betreten konnte“, berichtet die Tegel-Hermsdorfer Zeitung. Pieper stellte daraufhin zwölf „stabile“ Bauarbeiter ein und stattete sie mit Gummiknüppeln aus. Eine Woche lang gab es „Wichse und nochmals Wichse“. Das wirkte. Es sprach sich herum, dass hier „Keile“ verteilt wurde; die schweren Jungs blieben fern, nun konnten wieder die „anständigen Menschen“ zum Baden kommen – in Piepers Bad mit dem großspurigen Namen.

Heute Prädikat für Kurort am Meer

„Seebad“ dürfte sich heute streng genommen kein Bad mehr nennen, das lediglich an einem See liegt. Heutzutage ist dieses Prädikat den am Meer gelegenen Kurorten vorbehalten. Im 19. und 20. Jahrhundert war das vermutlich noch nicht so streng geregelt. Denn Seebäder gab es damals reichlich in der Region, aus der 1920 Groß-Berlin wurde und die reich an natürlichen Gewässern ist. Vielleicht wollten sich die Betreiber, oft Gastronomen, auch einfach nur von den noch häufigeren Strandbädern absetzen.

Allein in Reinickendorf gab es neben dem Seebad von Carl Pieper vier weitere, wie man dem lesenswerten Buch „Bäderbau in Berlin“ von Uta Maria Bräuer und Jost Lehne entnehmen kann. Darunter das 1906 gegründete „Seebad Heiligensee“, das unter diesem Namen sogar bis heute fortbesteht. Auch Pankow hatte offenbar zwei Seebäder vorzuweisen, beide am Wilhelmsruher See gelegen.

Auf einem historischen Foto sind Dutzende leicht bekleideter Menschen zu sehen, die an einem befestigten Seeufer sitzen. Am Müggelsee existierten zwei – am Westufer das Müggelschlößchen (ab 1878 bis etwa 1913) und das Bellevue am Nordufer (mindestens ab 1887 bis in die 30er-Jahre). Die auch „Bad Bellevue“ genannte Anlage gehörte zu einem gleichnamigen Hotel und ähnelte den in damals üblichen Flussbadeanstalten – ein fortähnlicher Holzbau mit Türmchen auf Stelzen im Wasser stehend.

Gefahr für Gesundheit und Leben

Die in Berlin weitverbreiteten Flussbadeanstalten bekamen in den 20er-Jahren ein Problem: Das Wasser der Spree sowie der anderen innerstädtischen Flüsse und Kanäle wurde immer schmutziger – bedingt durch die Abwässer der stark wachsenden Großstadt. Die (im besten Fall) unter der Wasseroberfläche gespannten Netze der Badeanstalten konnten nur die groben Verunreinigungen abfangen, nicht aber die fäkalen Keime. Eine andere Gefahrenquelle war der zunehmende Schiffsverkehrs. Die Gewässeraufsicht sah die Besucher der Flussbadeanstalten jedenfalls an mindestens einem Abschnitt „erheblichen Gefahren an Gesundheit und Leben ausgesetzt“ und hielt eine Benutzung für nicht mehr verantwortbar.

Aber auch Berlins Seebäder blieben von Problemen nicht verschont: Der Wilmersdorfer See etwa verschmutzte und verlandete zusehends, was das Aus für das dortige Seebad samt Tanzpalast, Kegelbahn und Biergarten bedeutete. Letztendlich war dem See schlicht das Wasser, sprich der Zufluss abgegraben worden: Um das sumpfige Gelände Wilmersdorfs trockenzulegen, damit dort die Hobrecht’sche Kanalisation verlegt und das Gelände bebaut werden konnte, wurde der Graben zugeschüttet, aus dem sich der See speiste. Das Areal wurde aufgefüllt, es ist heute Teil des Volksparks Wilmersdorf.

Nichts mehr zu sehen ist auch vom „Seebad Königstal“ (vermutlich 1906 bis 1924), in Mahlsdorf zeugt nur noch die Seebadstraße von seiner einstigen Existenz. 1978 soll auf dem Gelände die Kleingartenanlage Werbellinbecken angelegt worden sein.

Mariendorf: das Seebad ohne See

Lustigerweise lag das angeblich „größte und schönste“ (Eigenwerbung der Betreiber) der verschwundenen Seebäder Berlins, das in Mariendorf nämlich, überhaupt nicht an einem See. Adolf Lewissohn schuf es auf sumpfigen Wiesen an der Ullsteinstraße, dazu ließ er ab 1872 die dortigen Tümpel ausbaggern und an den Seiten befestigen, das Wasser für den „ständigen Zu- und Abfluss“ kam aus einem extra gegrabenen Brunnen. Nach der Eröffnung der Badeanstalt 1876 baute er sie immer weiter aus: Es gab ein „Freiwildaquarium“ mit Karpfen und Goldfischen, eine Grotte mit Wasserfall und natürlich Gastronomie. In den Becken erhielten Kinder Schwimmunterricht, trainierten Vereinssportler und verlustierten sich Erholungssuchende.

Erinnerung an untergegangene Bäder
  • Katalog zur Ausstellung: Das Tempelhof Museum hat dem Seebad Mariendorf im vergangenen Jahr eine Ausstellung gewidmet. Der Ausstellungskatalog ist noch bei den Museen Tempelhof-Schöneberg erhältlich. Preis: 15 Euro.
  • Führung: Zu wenig ist vom Seebad Mariendorf übrig, dass es Stoff genug böte für eine ganze Führung. Aber bei der Familienführung „Von Rittern, Nachtwandlern und Badegästen“ am 8. Oktober um 15 Uhr geht es zumindest ein wenig um die Badeanstalt. Anmeldung unter Tel. 030/ 902 77 61 63.
  • Blogs: Bianca Tchinda schreibt auf Ihrem Schwimmblog über Berlins aktuelle Bäderlandschaft, aber auch das Seebad Mariendorf. Sehr informativ ist Dirk Frankes Veröffentlichung zum Deutschen Stadion.   Das Geschichtsforum Tegel hat den Bericht vom Seebad Ostende ausfindig gemacht.

Der letzte Umbau erfolgte 1910, damals entstand ein neues, 130 Meter langes, wettkampftaugliches Becken. 1911 wurden dort die Deutschen Meisterschaften ausgetragen und im Sommer 1912 die Ausscheidungswettkämpfe für die Olympischen Sommerspiele in Stockholm. Sportjournalisten sollen damals ganz begeistert über die neuartigen, mit Betonwänden ausgestatteten Becken berichtet haben.

Das „Seebad Mariendorf“ – dieser Hybrid aus natürlichen Gewässer und künstlicher Anlage – markiert vermutlich den Übergang zu den Freibädern, wie wir sie heute kennen. Ein erstes Freibad mit gänzlich künstlich angelegtem Bassin im heutigen Großraum Berlin entstand übrigens 1913 auf dem Gelände der Pferderennbahn Grunewald – das Deutsche Stadion, das dann später den für die Olympischen Spiele 1936 errichteten Anlagen weichen musste. Vom Deutschen Stadion zeugt einzig noch eine Säulenreihe, die ein Baggerfahrer 2009 bei Bauarbeiten gefunden hatte. Sie wurde restauriert und schmückt als Erinnerungsstück das Olympiastadiongelände.



Die sichtbaren Reste: die Grotte der Badeanstalt

Auch vom „Seebad Mariendorf“ gibt es ein winziges Überbleibsel, das als solches aber nur von Kundigen zu identifizieren ist. Es handelt sich um einen aus Feldsteinen gemauerten, dick mit Efeu überwucherten Tunnel. Das etwa vier Meter lange Gemäuer steht im Park eines Seniorenheims in der Ullsteinstraße in Tempelhof. Früher war es Teil der Grotte der Badeanlage, die die Familie Lewissohn – Adolf Lewissohn bis zu seinem Tod 1927, danach seine Tochter Helene – erfolgreich führte. In der Nazizeit wurde das Seebad „arisiert“, Helene Lewissohn wurde gezwungen, die Anlage zu verkaufen. 151,25 Mark bekam sie dafür, hat Bianca Tchinda für ihren Schwimmblog Berlin recherchiert.

Dieser efeubewachsene Tunnel ist der einzige Überrest des Seebads Mariendorf, er war früher Teil der Grotte. Heute steht das Bauwerk aus Findlingen  im Park eines Altenheims an der Ullsteinstraße.
Dieser efeubewachsene Tunnel ist der einzige Überrest des Seebads Mariendorf, er war früher Teil der Grotte. Heute steht das Bauwerk aus Findlingen im Park eines Altenheims an der Ullsteinstraße.Susanne Rost

Das Schicksal der Familie Lewissohn, insbesondere das der 1957 völlig verarmt gestorbenen Helene Lewissohn, hat Bianca Tchinda berührt. Seit Jahren setzt sie sich dafür ein, dass des einstigen Seebads und seiner Gründerfamilie gedacht wird. „Viele Jahre habe ich damit kein Gehör gefunden“, erinnert sich die passionierte Schwimmerin. Aber dann tat sich doch etwas: Im vergangenen Jahr war im Tempelhof-Museum eine aufwendig recherchierte Ausstellung zu der vergessenen Mariendorfer Attraktion zu sehen.

Ehrung für Badbetreiberin Helene Lewissohn

Bezirksverordnetenversammlung (BVV) und Berliner Bäderbetrieben griffen auch ihre Idee auf, den geplanten Schwimmbad-Neubau in Mariendorf nach Helene Lewissohn zu benennen. Doch die Freude darüber währte nicht lange: Im März wurde das Projekt storniert, weil man merkte, dass das zur Verfügung stehende Geld nur für ein Neubauprojekt reicht und nicht für zwei wie ursprünglich geplant.

Trotzdem werden die Lewissohns nicht ganz vergessen sein: Auf Tchindas Initiative stimmte die BVV für den Vorschlag, einem Grünzug in der Nähe des 1950 geschlossenen und später abgerissenen Schwimmbads den Namen „Familie-Lewissohn-Park“ zu geben. Und eine Straße dort könnte bald „Am Seebad“ heißen.