Schwimmen, baden, planschen

„Im Freibad herrscht schonungslose Offenheit“

Experte Matthias Oloew über die revolutionierende Idee des Strandbads Wannsee, die klassenlose Gesellschaft in Badehose und deutsch-deutsche Bädergeschichte.

Schwimmen mit Pudelmütze: Am 30. April öffnen die ersten Freibäder in Berlin.
Schwimmen mit Pudelmütze: Am 30. April öffnen die ersten Freibäder in Berlin.dpa/Friso Gentsch

Der Historiker Matthias Oloew, Sprecher der Berliner Bäder-Betriebe, hat für seine Doktorarbeit die Geschichte des öffentlichen Bades in Deutschland untersucht. Ein Interview über anfängliche Debatten um Brausen und das Schwimmen, Wasserturnen in der Spree und die besondere Welt des Freibads – zum Saisonstart der Berliner Sommerbäder am Wochenende.

Strandbad seit Karfreitag geöffnet

Von Stella Tringali

11.04.2022

Herr Oloew, nach britischem Vorbild öffnete in Magdeburg 1830 die erste neuzeitliche Badeanstalt hierzulande. Wie kommt es zur Renaissance des öffentlichen Bades im 19. Jahrhundert?

Es war eine schiere Notwendigkeit. Im Zuge der Industrialisierung und der größer werdenden Städte stellte sich die Frage nach besseren hygienischen Verhältnissen – auch in Deutschland. Es ging darum, gesunde Lebensverhältnisse zu schaffen. Heute nennen wir das Daseinsvorsorge. Dafür waren schon damals die Kommunen zuständig. Die sollten in den Städten für gesunde Lebensbedingungen sorgen, durch Kanalisation, ordentliche Markthallen, gute Schulen – aber auch ein System öffentlicher Bäder. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden dann in Rom die antiken Caracalla-Thermen freigelegt. Ganz Europa staunte über die Leistung, die in der Antike erbracht worden war. Nicht allein aus technischer, sondern auch aus hydrologischer Sicht. Große Schwimmbecken, in denen sich Menschen beiderlei Geschlechts bewegten. Das war sensationell.

Freizügigkeit und Hygiene

Es bilden sich zwei Schulen. Der Arzt Oscar Lassar tritt mit der Maxime „Wöchentlich ein Bad“ für das öffentliche Bad als Reinigungsanstalt ein. Andere wie der Architekt Josef Stübben propagieren das Schwimmen mit Bewegung – durchaus auch zum Vergnügen. Was kennzeichnete diese Debatte?

Der Dermatologe Lassar arbeitete unter anderem an der Berliner Charité, ihm ging es vorrangig um Hygiene. Das Volksbad war für ihn ein Brausebad. Lassars Credo lautete: Das Bad muss baulich einfach sein, damit es eine große Verbreitung findet. Zur Berliner Hygieneausstellung 1882 präsentierte er eine Wellblechkonstruktion, die 10.000 Menschen innerhalb von zwei Wochen zum Duschen nutzten. Für ihn ein Riesenerfolg.

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Berliner Bäder-Betriebe
Zur Person
Matthias Oloew, 53, wuchs in Niedersachsen auf. An der FU Berlin studierte er Geschichte, Politikwissenschaften und Publizistik.

Der Journalist arbeitet seit 2009 als Pressesprecher der Berliner Bäder-Betriebe. In seiner Promotion hat er sich mit der Bädergeschichte befasst: „Schwimmbäder. 200 Jahre Architekturgeschichte des öffentlichen Bades“.

Sauber reicht nicht. Andere verstehen das Bad weniger als Bedürfnisanstalt, sondern unter dem Blick der Versorgungsanstalt. Wer sind die Vorreiter?

Der Architekt und Stadtplaner Josef Stübben zum Beispiel vertrat die Auffassung: Das Baden sollte nicht allein aus Pflicht geschehen, sondern mit Freude wahrgenommen werden. Wie das aussehen könnte, zeigte er bei seinem Entwurf für das Hohenstaufenbad in Köln. Stübben war auch der Auffassung, dass das gemeinschaftlich erlebte Baden in einem Schwimmbecken wesentlicher Teil der Attraktivität des öffentlichen Bades ist. Und nicht das Sauberwerden in spartanischen Dusch-Zellen. So kam es zum Schwimmbad, architektonisch ausladend gestaltet und zudem auch effizienter. In ein Schwimmbecken passen mehr Menschen gleichzeitig, anders als Lassars Brausebad muss es nicht nach jedem Duschvorgang geschrubbt werden. Damit war auch das Diktum Lassars, das Brausebad sei das wahre Volksbad, weil es das kostengünstigste sei, weitgehend entkräftet.

Dennoch kennt das Kaiserreich Vorbehalte gegen zu viel Freizügigkeit. Warum?

Man fürchtete Sittenlosigkeit und spätrömische Dekadenz. Es herrschte die irrige Vorstellung, der zügellose Umgang in den Thermen habe zum Untergang Roms geführt. Das 1871 ausgerufene Deutsche Kaiserreich wollten die Pioniere – viele von ihnen waren nationalistisch gesinnt – auch durch Badedisziplin und nicht zu luxuriöser Architektur der öffentlichen Bäder vor einem solchen Schicksal bewahren.

Stadtbad Berlin-Charlottenburg
Stadtbad Berlin-CharlottenburgImago/Joachim Schulz

Sie verstehen das Schwimmbad immer auch als Spiegel der Gesellschaft. Die Brausebäder trennen damals nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern kennen auch Tickets erster, zweiter und dritter Klasse – wie das preußische Wahlrecht. Inwiefern war das öffentliche Bad Spiegelbild der wilhelminischen Klassengesellschaft?

Man muss unterscheiden: Bei den Reinigungsbädern, also Dusch- oder Wannenbädern, wurde recht häufig in Klassen unterteilt. Das geschah auch, um eine zahlungskräftige Klientel zu gewinnen, die bereit war, für die Bäder mehr zu bezahlen und somit einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierung des Badewesens beizutragen. Das Schwimmbad galt den Bäder-Pionieren des 19. Jahrhunderts jedoch von Anfang an als ein Instrument, die Klassenschranken im wilhelminischen Deutschland zu mildern. Zwar gab es auch hierzulande einzelne Stadtbäder, die Schwimmbecken erster und zweiter Klasse vorhielten – Frankfurt am Main, Hannover oder Mannheim etwa – das war jedoch, im Gegensatz zu England etwa, nicht der Standard. Interessanterweise wurden die öffentlichen Bäder immer als Beleg der Klassentrennung gesehen. Ich komme daher zu einer anderen Beurteilung: Das gemeinschaftliche Baden und die Bewegung im Wasser machte die Anziehungskraft des öffentlichen Bades aus.

Die entscheidende Wende vollzieht sich 1907 am Berliner Wannsee. Das erste Familienbad in Deutschland öffnet. Was ist das spektakulär Neue?

Ich spreche gern von einer Baderevolution, eine Art Schabowski-Moment der deutschen Bädergeschichte, in der Form nicht intendiert wie beim Fall der Mauer. Der Wannsee gehörte damals noch zum Landkreis Teltow. Die Menschen gingen dort ohnehin Baden.

Deshalb fragte der Landrat bei den Behörden offiziell um eine Genehmigung für eine Badestelle. Die Polizei in Potsdam verwies an die Forstverwaltung, die verwies auf die Polizei. So schaffte es Landrat Ernst von Stubenrauch, beide zum Einlenken zu bewegen. Am 8. Mai 1907 erfolgte die Eröffnung, in der deutschen Bädergeschichte ein Tag der Befreiung.

Inwiefern?

Statt der erwarteten Handvoll Naturburschen folgten Tausende dem Lockruf des freien Badens. Frei hieß: Männer und Frauen badeten gemeinsam und das öffentlich. Schon das war unerhört. Und das ganze Treiben ließ sich von bekleideten Spaziergängern auch noch vom Ufer beobachten. Das war völlig neu und wirklich revolutionär. Und: Der Eintritt war frei. Danach setzte sich dieses Familienbad mehr und mehr durch – nicht nur in Preußen.

Der nächste emanzipatorische Schritt folgt nach 1918 in der Weimarer Republik. Der Bäderfachmann Georg Bennecke preist die Schwimmbäder der Zeit als „sozialste und liberalste Einrichtung“. Dort herrsche „wirklich Freiheit, wenn der Gast, ob Geheimrat oder Arbeiter nur mit der Badehose bekleidet die Auskleidezelle verlässt“. Inwiefern ist das Schwimmbad ein Ort der Gleichheit?

Im Schwimmbad galten für alle die gleichen Rechte. Statussymbole spielten keine Rolle. Frauen und Männer waren nicht nur nach der neuen Verfassung gleichberechtigt, es gab auch mehr und mehr Bäder, die die Geschlechtertrennung aufhoben. Bei Hallenbädern war man zunächst noch etwas zurückhaltender. Aber andere Länder wie die Niederlande und Österreich haben gezeigt, dass das Familienbad mehr Menschen anzieht. Deshalb zog man auch in Deutschland nach. Und es kommt das 50-Meter-Becken. Die getrennten Becken für Männer und Frauen wurden zu einem Becken zusammengefasst. Damit wurde man dem Sport eher gerecht. Und Männer und Frauen schwammen zusammen. Das ist ja auch schön.

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dpa/Paul Zinken
Eine Begriffsdefinition:
Das Sommerbad ist ein Ort, der ausschließlich in den Sommermonaten genutzt wird. Umgangssprachlich auch oft als Freibad bezeichnet – als Kontrapunkt zum Hallenbad.
Das Kombibad vereint Hallen- und Freibad.
Als Familienbad werden Bäder bezeichnet, die von Eltern und Kindern gemeinsam genutzt werden können.
Die Kampfbahn bezeichnet die durch Trennlinien abgetrennte Wettkampfbahn.

In der jungen Bundesrepublik beginnt mit dem Tullabad Karlsruhe, der Alster-Schwimmhalle in Hamburg und der Schwimmoper in Wuppertal die Ära der Schwimmpaläste. Was kennzeichnet diese Bäder?

Im Vordergrund dieser Bauten steht die Nutzung als Sport-Arena mit Sprungturm, großen Becken und Tribünen. Das Tullabad in Karlsruhe war dabei zunächst nicht als Schwimmpalast, sondern als klassisches Versorgungsbauwerk gedacht. Dann meldete der Sport seine Bedürfnisse an: Ein Zehn-Meter-Turm sollte her. So musste ein Kompromiss gefunden werden zwischen einer Raumhöhe für den Sprungturm und einem möglichst kleinen Rauminhalt, der zu beheizen war. Die Lösung fand die Baufirma Dywidag mit einer gebogenen Spannriegelkonstruktion, die eine große Raumhöhe nur auf der Seite des Sprungturms erlaubte. Dadurch entstand eine Schwimmhallenform, die durch ihre Weite einen unglaublichen Eindruck erzeugte.

Das Freibad am Pankower Schlosspark, etwa 1935
Das Freibad am Pankower Schlosspark, etwa 1935imago stock&people

Der Karlsruher Zoo nutzt das Tullabad heute als Exotenhaus. Damals setzte es weltweit Standards, selbst für die DDR. Gibt es weitere Beispiele deutsch-deutscher Schwimmgeschichte?

Das Tullabad diente als Vorlage für die Elbeschwimmhalle in Magdeburg. Die wird übrigens noch heute als Bad genutzt. Architekt Roland Korn war wie alle anderen überzeugt von der weitläufigen und lichtdurchfluteten Schwimmhalle in Karlsruhe. Er wählte für Magdeburg aber eine einfachere Konstruktion mit einem Pult-Dach.
Interessanterweise diente Magdeburg wiederum als Vorlage für den Bau einer Schwimmhalle in Lübeck. Das ist ein gutes Beispiel für den Ost-West-Wissenstransfer beim Schwimmhallenbau. Im Vordergrund steht dabei immer das Ziel, in einer Schwimmhalle Weite erfahrbar zu machen.

Die DDR setzt ansonsten auf die Volksschwimmhalle. Welche Charakteristika dominieren dort?

Grundsätzlich war die DDR-Architektur beim Hallenbadbau später dran als in der Bundesrepublik. Das flächendeckende Programm setzte erst Ende der 60er-Jahre ein. Es dominierte das serielle Bauen. Wie beim Plattenbau ging es darum, effektiv möglichst viele vorgefertigte Industrieteile zu verwenden. Ein sehr beliebter Typ ist das Modell Berlin, zum Beispiel Berlin C wie auf der Berliner Fischerinsel: Geringes Raumvolumen, vorgefertigte Bauteile, kurze Leitungswege – das ist ökonomisch beispiellos und funktioniert auch heute wunderbar. So wirtschaftlich haben westdeutsche Städte das nicht hinbekommen.

Zurück zum Schwimmbad als Spiegel der Gesellschaft. Der Soziologe Andreas Reckwitz ruft die „Gesellschaft der Singularitäten“ aus, sein Kollege Gerhard Schulze spricht von der „Erlebnisgesellschaft“. Begünstigt die Individualisierung die Tendenz zum Spaßbad?

Beim reinen Spaßbad ja. Aber das hat sich nicht als Aufgabe des kommunalen Badewesens durchgesetzt. Bewegung im Wasser ist letztlich doch Sport. Und Bewegung im Wasser ist das Gesündeste, das man machen kann. Das gilt für alle Altersstufen.

Das bedeutet für die Anforderungen an das öffentliche Bad von heute?

Es bedarf einer hybriden Form zwischen Erlebnis und Sport. Ein Umdenken setzte bereits nach den Olympischen Spielen 1972 in München ein. Damals gingen die Besucherzahlen in westdeutschen Bädern zurück, mit all den finanziellen Folgen für die Kommunen. Das Konzept des reinen Sportbades war überholt. Es folgte der Trend zum Freizeitbad, der aber zu sehr den Eventcharakter betonte. Insofern stellte sich die alte Debatte aus der Kaiserzeit neu: Was muss ein öffentliches Bad leisten? Badebedürfnisse erschöpfen sich nicht darin, nur Bahnen zu ziehen. Deshalb bevorzugen wir heute eine Mischform: Mehrzweckbecken für Schwimmkurse und Aquatraining, daneben Sportbecken für Leistungsbewusste. Gegebenenfalls auch Sauna. Das öffentliche Bad hat sich stets den Bedürfnissen der Besucher angepasst.

Hat die Pandemie die Rolle des Schwimmbades als klassenübergreifenden Ort untergraben?

So weit würde ich nicht gehen. In der Pandemie waren sicherlich die Menschen im Vorteil, für die der Eintrittskartenkauf im Internet und das Baden in Zeitfenstern keine große Hürde darstellte. Aber in den Bädern trafen sich dann wieder alle Schichten der Bevölkerung.

Der Autor John von Düffel, ein bekennender Seeschwimmer, sagt: „Ein See ist ein Biotop, das Freibad ein Soziotop.“ Wie sehen Sie das?

Genauso. Das Biotop bezieht sich auf das Gefühl, in einem See allein mit sich und dem Element Wasser zu sein. Ein Freibad hat einen anderen Charakter. Nirgendwo lässt sich ein Mensch so gut beobachten wie in einem Freibad. Dort herrscht schonungslose Offenheit.

Haben Sie eigentlich ein Bad, das Sie persönlich besonders schätzen?

Ich bin für das Buch viel gereist und habe neue Lieblingsbäder kennengelernt, zum Beispiel das Terrassenschwimmbad in Bad Kissingen, ein sensationelles Freibad. Als Hallenbad mochte ich eines ganz besonders, das inzwischen leider abgerissen ist: das Hauptbad in Essen von Peter Friedrich Schneider. Ein 50er-Jahre Bau mit einer im stumpfen Winkel geknickten Schwimmhalle, voll verglast an einer Seite, ein tolles Bauwerk. Emotional bleibt man jedoch seinem Stammbad treu. Das ist bei mir das Prinzenbad in Kreuzberg. Da habe ich mir im Mehrzweckbecken selbst das Kraulschwimmen beigebracht. Das verbindet, da kann kommen was will: Man bleibt diesem Bad so verbunden wie ein Baby dem Fruchtwasser der Gebärmutter.

Das Gespräch führte Peter Riesbeck.