Wiedervereinigung

Ich bin 19 Jahre alt und fühle mich trotzdem als Ossi: Warum ist das so?

Unsere Autorin wurde 14 Jahre nach dem Mauerfall geboren. Doch die Geschichten aus dem untergegangenen Land, sie sind noch immer sehr lebendig.

Sommerurlaub im Wohnzimmer: Solche Erinnerungen an ihr Leben in der DDR haben viele Menschen. Das Gemeinschaftsgefühl war stark. (Symbolbild)
Sommerurlaub im Wohnzimmer: Solche Erinnerungen an ihr Leben in der DDR haben viele Menschen. Das Gemeinschaftsgefühl war stark. (Symbolbild)Serienlicht/imago

Meine älteste Schwester kam im Frühjahr 1989 in der Charité in Berlin-Mitte zur Welt. Meine Mutter erzählt noch heute gerne die Geschichte, dass der Vater ihres sechs Monate alten Babys an einem Donnerstag im November anrief und in den Hörer schrie: „Ich stehe im Westen!“ Meine Mutter dachte: Der hat sie nicht mehr alle. Ein knappes Jahr später, am 3. Oktober 1990, war es dann offiziell: Wir waren wieder ein Land.

In diesem neuen Land wurde ich geboren, in der Charité, 14 Jahre später. Schon allein deshalb hätte ich mit Ost und West nichts mehr zu tun haben sollen. Trotzdem war mir seit meiner Kindheit bewusst, dass ich beim Besuch bei den Großeltern in Marzahn ein paar Themen lieber nicht ansprechen sollte. Der Untergang der DDR war für meine Oma und meinen Opa, deren politische Überzeugung bis heute tiefrot ist, nur schwer zu verkraften.

Berliner Mietpreise zwingen die Großeltern zum Umzug

Ihre Wohnung in der Sredzkistraße wurde für sie schnell unbezahlbar, als die Leute aus dem Westen über den frisch eröffneten Immobilienmarkt im Osten herfielen. Also ging es nach Marzahn, wo ich sie jedes Wochenende besuchte, ohne ihnen je Geschichten aus dem Osten entlocken zu können. Mein wortkarger Opa hatte mit seinen nun 95 Jahren vier verschiedene Regierungen miterlebt, doch das Einzige, was ich ihm je entlocken konnte, war ein karges „Jede Regierung hat ihre Fehler“.

Unsere Autorin Mia Conrads als Kleinkind mit ihrer Großmutter
Unsere Autorin Mia Conrads als Kleinkind mit ihrer Großmutterprivat

Meine Mutter heiratete einen Wessi, mein Vater kam aus einer strikt CDU-orientierten Familie in Solingen. Wir wohnten weiter in Prenzlauer Berg. Als ich acht war, ging mein Weg zur Schule am Mauerstreifen die Bernauer Straße entlang. Der doppelte Kopfsteinpflaster-Streifen eignete sich perfekt dafür, auf einem Bein zu balancieren und drüberzuhüpfen. Das Wort Todesstreifen kannte ich nicht. Der Mauerpark war für mich eine Touristenattraktion mit einem bunten Markt am Sonntag. Das Brandenburger Tor war das Symbol, das auf dem deutschen „Siedler von Catan“-Spielbrett Berlin darstellte. Aus Mauerfall und Wiedervereinigung machte ich mir lange nichts.

Mia Conrads mit ihrer Mutter
Mia Conrads mit ihrer Mutterprivat

Aber ein Thema blieb es in meinem Umfeld die ganze Zeit. Neulich war ich bei einer Freundin eingeladen. Auf die Frage ihres Vater, woher ich komme, antwortet sie: „Mia ist eine waschechte Ost-Berlinerin!“ Ich musste lächeln. Plötzlich bin ich die „Ost-Berlinerin“ und freue mich irgendwie darüber. Vielleicht ist es, weil die meisten meiner zugezogenen Freunde die alten DDR-Bezirke hassen und man sie oft nicht weiter in den Osten bitten darf als bis nach Friedrichshain oder Prenzlauer Berg.

Vielleicht freue ich mich aber auch deshalb, weil es noch immer kaum Ossis in der deutschen Regierung gibt oder weil es in Marzahn-Hellersdorf mehr Kinderarmut gibt als sonst irgendwo in Berlin. Irgendetwas in mir will stolz darauf sein, aus dem ehemaligen Osten zu kommen, obwohl ich von der DDR nichts miterlebt hatte, sie nur aus Erzählungen und aus Büchern kenne.

„Wie war es eigentlich für dich damals in der DDR?“

Die tatsächliche Ost-Berlinerin, das ist meine Mutter. Nach jenem Essen bei der Freundin fuhr ich zu meiner Mutter nach Hause. Von dem Balkon ihrer Wohnung in Prenzlauer Berg aus kann man den Fernsehturm in der Ferne funkeln sehen. „Wie war es eigentlich für dich damals in der DDR?“, fragte ich sie etwas schüchtern. Sie lachte und sagte dann: „Schwierig.“

Die DDR, das war das Leben meiner Großeltern. Meine Mutter und mein Onkel wurden fein zur FDJ geschickt, um dort Teil des „Kollektivs“ zu werden. Micha, mein Onkel, fand dort Freunde und seinen Zweck im Leben. Meine Mutter war anders. Sie wollte von Kind auf Ärztin werden, was sich in der DDR jedoch schwierig darstellte, vor allem da sie nicht aus einer Arbeiter- oder Bauernfamilie kam. Also fing sie stattdessen eine Ausbildung als Chemikerin an.

Ihre schönsten Erinnerungen, erzählte sie, waren von den Reisen außerhalb Deutschlands, die sie mit ihren Eltern unternahm. Da meine Großeltern als parteikonform galten, wurde ihnen das Reisen durch die Ostblockländer erlaubt. Während einer dieser Reisen nach Polen verliebte sich meine Mutter in einen Holländer. „Als wir dann nach Berlin zurückkamen, hatte ich natürlich unfassbaren Liebeskummer, den ich dann auch noch vor deinen Großeltern verstecken musste.“

Nach einem Monat wurde meine Mutter dann auf einmal aufgefordert, sich bei der Zentrale in Berlin Lichtenberg zu melden. Das war damals das noch voll funktionierende Stasi-Hauptquartier. Ich kenne es nur als Museum. Der Holländer hatte versucht, ihr mehrere Briefe nach Hause zu schicken. Er schrieb: „Ich vermisse dich“ und „Wann kann ich dich wiedersehen?“. Beides kam bei den Stasi-Offizieren nicht gut an.

Meine Mutter wurde in einen Keller geführt, sie saß dann in einer Gefängniszelle und wurde befragt, mehrere Stunden lang. Sie haben sie dann wohl irgendwann gehen lassen. Aber als sie nach Hause kam, haben ihre Eltern sie empfangen, und das war ebenfalls schwierig. „Ich hatte sie enttäuscht und betrogen. Für sie war klar, dass ich nicht mehr ihre Tochter bin“, sagt meine Mutter, „weil ich plötzlich ‚unrein‘ war.“ Als meine Mutter Jahre nach der Wiedervereinigung ihre Stasi-Akte abholte, sah sie unter anderem, wer die Briefe der Stasi weitergeleitet hatte. Es war mein Onkel Micha. Ich mag meinen Onkel noch immer sehr.

Keiner meiner westdeutschen Freunde kennt solche Konflikte

Solche Erinnerungen gibt es viele in meiner Familie, und nicht nur in meiner. Sie halten dieses Land, das doch eigentlich vor 33 Jahren untergegangen ist, weiter am Leben. Sie erhalten die Konflikte, die in Akten festgeschrieben wurden, am Leben. Sie betreffen mich nur indirekt, aber sie beschäftigen mich auch. Keiner meiner westdeutschen Freunde kennt solche Konflikte, sie machen mich eben zu einer Ostdeutschen.

In der 8. Klasse ging ich mit meiner Schulklasse in den Tränenpalast. Wir hatten gerade im Unterricht Eva-Maria Neumanns Buch „Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit“ gelesen. Die Bilder der Ausstellung im Tränenpalast werde ich nie vergessen: Die DDR musste der schlimmste Ort aller Zeiten gewesen sein. Familien, die auseinandergerissen wurden, die Kontakte aufgeben mussten, denen Rechte weggenommen wurden. All das hatte meine Familie am eigenen Leib erfahren. Die Frage, ob das wirklich noch etwas mit mir zu tun hatte, blieb jedoch. Ich rannte in Tränen aus dem Tränenpalast heraus. Für den Rest des Schuljahres war mein Spitzname „Heulsuse“.

Am Ende muss ich vielleicht zugeben, dass ich nicht einmal wirklich weiß, ob ich mich Ost-Berlinerin nennen darf. Ich habe das Gefühl, dass Begriffe wie „Wessi“ und „Ossi“ wirklich altmodisch sind, aber die Erzählungen, die manchmal dahinterstehen, die bleiben relevant, egal, ob in Berlin oder deutschlandweit. Sie werden auch in meine Biografie eingeprägt bleiben, wie die Mauer irgendwie noch sichtbar ist in Berlin, entweder durch Steine in der Straße oder durch die Fassaden der Häuser.

Unsere Autorin wurde 14 Jahre nach dem Mauerfall geboren. Doch die Geschichten aus dem untergegangenen Land DDR, sie sind noch immer sehr lebendig.
Unsere Autorin wurde 14 Jahre nach dem Mauerfall geboren. Doch die Geschichten aus dem untergegangenen Land DDR, sie sind noch immer sehr lebendig.privat

Neulich, in der Schlange zu einem Berliner Club, stand ich vor einem tätowierten Türsteher. Ich hatte meine Hausaufgaben gemacht und kannte die Setlist auswendig. Doch er fragte nur: „Aha, und woher kommt ihr?“ Auf unsere Antwort „Ost-Berlin“ hin trat er zur Seite: „Gott sei Dank, endlich, der ganze Schuppen ist voller Amis.“ Vielleicht ist es manchmal auch vollkommen egal, Hauptsache, man ist kein Touri in Berlin.