Letzte Generation

„Wir haben keine Wahl“: Klimaaktivisten behindern stundenlang Berlins Verkehr

Die Großaktion sollte die Stadt lahmlegen. Sie führte auf jeden Fall zu viel Stress – für Autofahrer und Polizisten, aber auch für die Aktivisten selbst.

Ein Aktivist der Protestbewegung Letzte Generation wird von der Polizei nach einer Klebeaktion am Ernst-Reuter-Platz aus der Straße geschnitten.
Ein Aktivist der Protestbewegung Letzte Generation wird von der Polizei nach einer Klebeaktion am Ernst-Reuter-Platz aus der Straße geschnitten.Florian Gärtner/imago

Die losgelösten Aktivistinnen und Aktivisten sitzen am Straßenrand, ihre Hände sind verklebt und schmutzig, teilweise blutig. Um sie herum stehen rund zehn Polizistinnen und Polizisten, auf jeden Demonstranten kommt ungefähr eine Einsatzkraft. „Ihr zwei, aufstehen“, sagt ein Polizist und deutet auf Fabio G. und Laura B. Sie erhalten einen Platzverweis, die anderen müssen sitzen bleiben. Wer angekündigt hat, mit dem Protestieren nicht aufzuhören, befindet sich in einer polizeilichen Maßnahme, die nicht verlassen werden darf. Fabio G. und Laura B. dürfen unter der Prämisse gehen, dass sie den Verkehr nicht weiter stören.

Die beiden wenden sich ab, dann rennen sie auf die Fahrbahn der Frankfurter Allee. Ankleben können sie sich nicht mehr, der Sekundenkleber wurde längst von den Behörden beschlagnahmt. Trotzdem versuchen sie, sich auf die Straße zu setzen, werden aber sofort wieder von der Polizei gegriffen und weggetragen. 

Es ist Montagmorgen, 11 Uhr, die Rushhour des Berufsverkehrs ist vorbei. Es war wohl einer der stressigsten Montagmorgen überhaupt auf den Berliner Straßen, und bis zum Nachmittag blieb die Situation angespannt. Die Letzte Generation, die schon zuvor angekündigt hatte, die Stadt lahmzulegen, hat sich an rund 30 Stellen auf die Straßen geklebt. Betroffen sind etliche Verkehrsknotenpunkte: etwa die A100, die Bundesallee, der Ernst-Reuter-Platz oder die Danziger Straße. 

Die Polizei Berlin meldet auf Twitter, mit circa 500 Leuten und einem Hubschrauber im Einsatz zu sein, die Letzte Generation spricht von 800 Aktivistinnen und Aktivisten, die aus ganz Deutschland in die Hauptstadt gekommen sind. Zudem bekam die Organisation Unterstützung von Scientist Rebellion, einer Vereinigung von 1400 Wissenschaftlern, die aus Solidarität bei den Straßenblockaden mitwirkten. Auch Einzelpersonen von Parents4Future, Ende Gelände und Extinction Rebellion beteiligten sich. 


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Angst vor Reaktionen der Autofahrer und Polizeigewalt

Fabio G. und Laura B. sitzen wieder bei den anderen, auch sie müssen jetzt warten, bis sie in die sogenannte Gefangenensammelstelle abtransportiert werden. „Wir haben den Platzverweis absichtlich missachtet“, sagt Laura B. Sie ist erst 16 Jahre alt. Fabio G., 20, sagt: „Da das Problem in unseren Augen nicht aus der Welt ist, haben wir nicht vor, zu gehen, sondern so lange zu bleiben, bis wir in Gewahrsam kommen.“ Als man sie weiter befragen möchte, unterbricht ein anderes Mitglied der Letzten Generation: Fragen sollen bitte ausschließlich an sie, die „Pressebiene“, gestellt werden.

Hände von Aktivisten der Letzten Generation
Hände von Aktivisten der Letzten GenerationJochen Eckel/imago

Sie heißt Nina J. und kommt aus Kiel, für die Letzte Generation arbeitet die 51-Jährige erst seit zweieinhalb Monaten, davor war sie bei Extinction Rebellion. „Als die Kriminalisierung der Letzten Generation begonnen hat, habe ich mich ihnen angeschlossen“, sagt sie, „es geht einfach nicht, dass man, weil man sich für die Klimakrise einsetzt, wie ein Verbrecher behandelt wird.“

Jedes Mal, wenn sie sich auf die Straße klebt, habe sie Angst. „Ich bin eigentlich gar nicht der Typ für solche Störungen.“ Auch heute sei es hier an der Frankfurter Allee teilweise „echt bedrohlich“ gewesen. „Wenn hinter dir ein riesengroßer LKW steht und man nicht weiß, ob der Fahrer die Nerven behält, dann kriegt man es mit der Angst zu tun.“ Insgesamt sei die Stimmung der Autofahrer sehr aufgebracht gewesen, es kam zu einigen Übergriffen. „Wir waren schon festgeklebt, und die Autofahrer haben an uns gezerrt.“

Die Polizei war nach Angaben von Nina J. am heutigen Tage „moderat“ zu den Aktivistinnen und Aktivisten, es kam jedoch zu einem Schmerzgriff. Erst am Donnerstag vergangener Woche ging ein Video auf Twitter viral, in dem zu sehen ist, wie ein Polizist einen jungen Mann am Hals hochzieht und ihm anschließend den Arm auf den Rücken dreht. Der Aktivist schreit unter Schmerzen laut auf.

Die Veröffentlichung des Videos brachte die Debatte über die Frage in Gang, ob solche Maßnahmen notwendig oder unnötige Gewalt sind. Bezüglich des Polizeibeamten aus dem Video ermittelt die Polizei nun wegen Verdachts auf Körperverletzung. Die Frau, bei der heute der Schmerzgriff angewandt wurde, möchte nicht darüber sprechen.

Viele Polizisten kommen auf wenige Aktivisten: Die Polizei ist mit vielen Beamten im Einsatz. 
Viele Polizisten kommen auf wenige Aktivisten: Die Polizei ist mit vielen Beamten im Einsatz. Franka Klaproth

Auch im Westen der Stadt kam es zu mehreren Blockaden

Auch am Ernst-Reuter-Platz in Charlottenburg klebten Aktivisten sich am Montagmorgen fest, es war eine der größeren Gruppen. Umringt von der Polizei sitzen ungefähr zwanzig Mitglieder da, ihre Personalien werden aufgenommen. Sie unterhalten sich leise, die Stimmung ist ruhig. Die Autos fahren wieder, der angekündigte Stillstand ist zumindest hier wieder vorbei.

An drei Stellen waren jeweils sieben Mitglieder der Gruppe auf die Fahrbahn um den Ernst-Reuter-Platz gerannt. Sie setzten sich hin und breiteten ihre mitgebrachten Banner aus, einige klebten sich auch in gewohnter Manier auf der Straße fest. Einen der Aktivisten konnte die Polizei zuerst nicht von der Fahrbahn lösen. So musste man die Straße um ihn herum aufstemmen. Als Polizeibeamte ihn von der Fahrbahn brachten, blieb ein quadratischer Asphaltblock an seiner Hand.

Ungefähr zwei Kilometer entfernt vom Ernst-Reuter-Platz, auf der Kantstraße Höhe Stuttgarter Platz, sitzen fünf Mitglieder der Letzten Generation auf dem Bürgersteig neben der Straße, einige tragen Handschellen. Sie sind umringt von Polizisten, ein rot-weiß gestreiftes Absperrband zwingt Passanten dazu, vom Bürgersteig auf die Straße auszuweichen. Die fünf Festgeklebten unterhalten sich nicht, einige haben sogar Kopfhörer im Ohr. Einer schließt die Augen, lehnt seinen Kopf zurück an die Wand hinter ihm. Es ist 11:42 Uhr, er sitzt hier seit fast vier Stunden. Auch auf der Kantstraße startete die Gruppe ihre Blockade um 7:30 Uhr.

Einige Meter weiter stehen zwei junge Frauen ebenfalls umringt von Polizisten, ihre Hände haben sie aneinandergeklebt. Zwei Rettungssanitäter versuchen, die Hände zu trennen. Als sie voneinander gelöst sind, darf eine der beiden Frauen gehen. Von der Polizei erhält sie einen Platzverweis und geht über die Kantstraße in Richtung S-Bahn. Ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter werden in einen Polizeiwagen gebracht. 

Gutes Verhältnis zwischen Polizei und Aktivisten auf der Danziger Straße

Noch entspannter ist die Situation auf der Danziger Straße, Ecke Greifswalder. Die Aktivisten sitzen am Rand, jeder vor einer auf den Boden gesprühten Nummer. Maximilian Hassolt sitzt vor der Eins, er war der Erste, der sich auf der Straße festgeklebt hat. Jetzt pult er sich den Kleber von den Händen.

Maximilian Hassolt, 19, saß vor einer Woche noch am Elbtunnel.
Maximilian Hassolt, 19, saß vor einer Woche noch am Elbtunnel.Franka Klaproth

Es dauere ungefähr einen Tag bis alle klebrigen Überreste weg seien. „Das Lösen von der Straße tut immer ein wenig weh, es kommt aber vor allem darauf an, an welchen Polizist man gelangt“, sagt der 19-Jährige aus dem Allgäu, der vor einer Woche noch am Elbtunnel in Hamburg klebte. Auf die Nachfrage, wie es war, am Elbtunnel auf der Autobahn zu kleben, antwortet er nur knapp: „Hart.“ Dann fügt er hinzu: „Ich hatte Angst, aber meine Angst vor der Zukunft ist größer.“

Die Situation heute hingegen beschreibt er als „sehr ruhig“. Es habe kleinere Zwischenfälle mit Autofahrern gegeben, aber insgesamt sei alles sehr friedlich verlaufen. Für ungefähr eine Stunde haben sie aktiv die Straße blockiert, bis alle Aktivisten von der Polizei gelöst wurden. Jetzt befinden auch sie sich, wie ihre Mitstreiter auf der Frankfurter Allee, in polizeilicher Maßnahme. 

Allerdings haben sie nicht vor, heute wieder auf die Straße zu gehen. „Wir haben ein sehr gutes Verhältnis mit unserem Einsatzleiter von der Polizei“, sagt Hassolt, das wollen sie nicht gefährden. „Die Stimmung bei uns ist sehr gelassen und wir kommen auf einen gemeinsamen Punkt.“

Laut Nina J. auf der Frankfurter Allee gibt es große Unterschiede bei den Verhaltensweisen der Polizistenteams. Den Schmerzgriff von vorhin kann sie überhaupt nicht nachvollziehen. „Ich finde, es ist unnötig, es war auch genügend Polizei vor Ort, um uns gewaltfrei wegzutragen. Das wirft kein gutes Licht auf die Polizei.“ Die Reaktion der Autofahrer sei ebenfalls jedes Mal eine Blackbox, sie habe allerdings das Gefühl, dass sich die Menschen durch Videos und Zuspruch im Internet zunehmend dazu berechtigt fühlten, Gewalt anzuwenden.

Aktivisten an der Danziger Straße
Aktivisten an der Danziger StraßeFranka Klaproth

Beschwerde von Taxibetrieben beim Senat

Diese „größer werdende Taktzahl von moralischen Verurteilungen durch die Bürger“ greift auch ein Schreiben von Taxiverbänden an die Senatsverwaltung auf. Schon im Vorlauf der Proteste verfassten vier Vorsitzende stellvertretend für das Berliner Taxigewerbe eine E-Mail, in der sie um Amtshilfe baten, um den „Blockierern die Stilllegung des Verkehrs unmöglich zu machen“.

Die Taxibetriebe beklagen einen wirtschaftlichen Schaden von mehreren Millionen Euro pro Tag. „Die Berliner Taxis als Teil des ÖPNV können unter diesen Bedingungen ihren Teil der Daseinsvorsorge für die Bürger Berlins nicht mehr leisten“, schreiben die Taxibetriebe in einer E-Mail an die Berliner Zeitung. Insbesondere ärgert die Fahrer, dass auch die Fahrten mit Alten, Kranken und Menschen mit Behinderung stundenlang im Verkehr stecken bleiben. Krankenhäuser und Arztpraxen könnten nicht schnell genug erreicht werden. In einigen Fällen habe dies schwere gesundheitliche Folgen für die Fahrgäste.

Außerdem wurde laut Berliner Feuerwehr am heutigen Tag eine zweistellige Zahl von Einsatzfahrzeugen behindert, teilweise hätten andere Fahrzeuge rausgeschickt werden müssen, weil einige nicht weiterkamen, meldete das ZDF. Die Berliner Polizei sprach auf Anfrage von mindestens 20 aufgehaltenen Rettungswagen.

Nina J. und auch andere Aktivistinnen, die an diesem Tag auf den Straßen anzutreffen sind, fällt das Ankleben auf die Straße alles andere als leicht. Ihnen sind die Störungen und Konsequenzen ihres Handelns durchaus bewusst. „Wüssten wir eine bessere Maßnahme, würden wir uns nicht mehr auf die Straße kleben“, so Nina J. Oder natürlich, wenn die Regierung ihren Forderungen zustimmen würde. „Aber so haben wir bis auf’s Weitere keine andere Wahl.“