Alle Verkehrswege unterbrochen, mehr als zwei Millionen Berliner von der Außenwelt abgeschnitten, ohne Lebensmittel, ohne Kohlen in verzweifelter Lage. So ungefähr stellen sich die meisten die Lage in den drei Westsektoren Berlins in der Zeit der Blockade vor. Sie begann vor 75 Jahren am 24. Juni 1948 und dauerte 13 Monate.
Doch von einer Abriegelung der Stadt kann keine Rede sein. Die sowjetische Besatzungsmacht in Ostdeutschland hatte zwar die Verkehrsverbindungen zwischen West-Berlin und den drei Besatzungszonen in Westdeutschland unterbrochen, also den Güter- und Personentransport, aber die Grenzen von West-Berlin in den Ostteil der Stadt und in das Umland waren offen.
110.000 West-Berliner arbeiteten im Osten, 106.000 Ost-Berliner im Westen. Die S-Bahnen fuhren, Züge nach Brandenburg oder nach Mecklenburg ebenso – die Versorgung von dort lief auf zeitübliche Weise durch massenhafte Hamsterfahrten, privat und im geschäftlichen Maßstab. Es war eine goldene Zeit für Schieber und Spekulanten in Ost wie West.
Ergänzungen zum Geschichtsbild
Die Berliner Zeitung jener Monate erlaubt Blicke auf die Lage, die sich stark vom heute vorherrschenden Geschichtsbild unterscheiden. Das liegt einerseits daran, dass die Zeitung die Version der sowjetischen Besatzungsmacht verbreitete, aber auch an den Legenden über die abgeschnürte Heldenstadt West-Berlin und ihre selbstlosen Retter, vor allem die Amis. Darin mischten sich menschlich-anrührende Geschichten wie die von den Schokoladenabwürfen der Luftbrückenpiloten und knallharte Ost-West-Konfrontation des heißlaufenden Kalten Krieges.
Was also berichtete die seinerzeit in der ganzen Stadt erscheinende Zeitung, als die sowjetische Verwaltung „die schon seit Monaten angeordneten Kontrollmaßnahmen an der Zonengrenze“ durchsetzte? So hatte man die Sperre der Verkehrswege stark verharmlosend genannt. Zitierte die Zeitung offizielle Verlautbarungen, ist von „einschränkenden Maßnahmen für die Verkehrsverbindungen“ oder „Störungen im normalen Eisenbahn- und Wasserstraßenverkehr aus den Westzonen nach Berlin“ die Rede.
Die von den Westalliierten eingerichtete Luftbrücke überschüttete das Blatt mit Spott: Erst hieß es: „Das kann nicht funktionieren“, weil die Flugkapazitäten nicht ausreichten, dann: „Das ist viel zu teuer“, also nicht durchzuhalten. Es folgten Berichte, wie eingeflogene, „abgezweigte“ Güter von Spekulanten gebunkert und zu „Irrsinnspreisen“ weiterverkauft wurden.
Von der Luftbrücke auf den Schwarzmarkt
Demnach landete auch „Luftbrückenkohle“ auf dem Schwarzmarkt. Wurde ein Funktionieren der Luftbrücke eingeräumt, dann so wie am 3. Juli 1948: „Die AEG erhielt von einem Vertreter der britischen Militärregierung die Anordnung, 40 Elektromotoren abzumontieren. Sie wurden noch am gleichen Tage mit Dakota-Transportflugzeugen aus Berlin abtransportiert.“
Als die West-Berliner Zeitungen meldeten, die 6000-Tonnen-Grenze der Luftbrückenversorgung sei überschritten, enthüllte die Berliner Zeitung am 10. Februar 1949, dass nur etwa ein Drittel des Transportguts für die Berliner Bevölkerung bestimmt sei, der Rest diene der Eigenversorgung der Alliierten: rund 34 Prozent gingen an die französische Besatzungsmacht, 17 Prozent war für die Amerikaner, fünf Prozent für die Briten, und: „Die nach Berlin eingeflogenen Treibstoffmengen waren fast restlos für die Besatzungsmächte bestimmt.“ Man weiß um die propagandistische Absicht solcher Meldungen und doch gehören auch sie zum vollständigen Bild.
Der Ärger der gleichfalls mangelgeplagten Ost-Bevölkerung ließ sich gut auf das täglich erlebbare Schieber-, Spekulanten- und Schwarzmarkttreiben lenken: Im Winter 1948/49 ging es vor allem um Kohle. In der Ausgabe vom 31. Dezember bekam die Leserschaft Antwort auf die Frage „Wie funktioniert das Schieberwesen?“: „Über öffentlichen Nahverkehr, da Straßen für Lkw ja gesperrt.“ Da kauften Schieber im Ostsektor Kohlen billig auf und verkauften sie im Westen. Eine Leserin berichtete: „Um die Weihnachtszeit gab es in den Westsektoren wunderbare Karpfen zu kaufen. Allerdings für Westgeld. Die Karpfen waren dieselben, die es im Ostsektor auf Zuteilung gab. Wie kamen sie in die Westsektoren?“ Ja, wie wohl? „Sie nahmen ihren Weg über die öffentlichen Verkehrsmittel.“
Am 15. Januar 1949 schildet die Zeitung unter der Überschrift „Kohlenzüge für Westberlin“, wie „in ganzen Karawanen“ Säcke und Kisten mit Kohlen zum Bahnhof in Potsdam geschleppt wurden und „halbwüchsige Jungen mit Handwagen und findige Fuhrunternehmer mit Pferd und Wagen“ dieses Geschäft erkannt hätten und „Sammeltransporte“ organisierten. „Mit jedem Zug kommen auf diese Weise einige Tonnen Briketts nach Berlin W., von wo die Käufer ausnahmslos stammen.“
Die Kohlen stammten aus den ab November 1948 im Osten eingerichteten Läden der staatlichen HO (Handelsorganisation), wo ohne Marken, dafür teurer, eingekauft werden konnte. Das stand Ost- wie West-Berlinern frei. Außerdem konnten seit 1. August 1948 alle Einwohner von Groß-Berlin, also auch die West-Berliner, in einem ihnen zugeordneten Stadtteil des sowjetischen Sektors Lebensmittelkarten beantragen zur „Belieferung durch Lebensmittelgeschäfte des sowjetischen Sektors“.
Die sowjetische Besatzungsmacht begründete die Blockade mit der Einführung einer neuen Währung in den Westzonen Deutschlands am 20. Juni 1948 – ein Schritt hin zur Schaffung eines neuen Staates und damit zur Spaltung Deutschlands. Die Sowjets reagierten drei Tage später, in dem sie auch in ihrer Besatzungszone eine Währungsreform durchführten. Der Versuch, diese Währung auf Gesamtberlin auszudehnen, scheiterte an den West-Alliierten. Am 24. Juni begann die Blockade. Die Sowjetunion erklärte die Vier-Mächte-Verwaltung Groß-Berlins für „praktisch beendet“.
Währungsreform: erst West, dann Ost
Folgt man der Berliner Zeitung, war die „Clay-Mark“ gänzlich unbeliebt, weshalb eine „Völkerwanderung nach dem Berliner Osten“ (so eine Schlagzeile vom 26. Juni) einsetzte: „Das Ziel dieser Massenbewegung, die sich über U-Bahn, S-Bahn und Straßenbahn in Richtung Berlin O vollzog, waren die Geldumtauschstellen, in denen man für alte Reichsmark die neue Währung bekam.“ Damit waren die von der Sowjetadministration in der Eile mit Coupons beklebten alten Scheine gemeint. Doch erwies sich die DM bald als überlegen, man konnte einfach mehr dafür kaufen.
Im Juni sprach die sowjetische Administration die Garantie aus, ganz Berlin zu versorgen. Der Tagesspiegel nannte die Angaben aus den sowjetischen Verlautbarungen „Ziffern aus Tausend und einer Nacht“, der Telegraf appellierte an die Einsicht der „Klardenkenden“, die Sowjets könnten nicht zwei Millionen Berliner zusätzlich ernähren.

Die gängige Geschichtserzählung West glättet die Ereignisse gefällig und feiert im Rückblick einfach den Triumph der Freiheit in der unbeugsamen Halb-Stadt. 2,5 Millionen Tonnen Fracht hatten die Luftbrückenflieger herbeigebracht. Der Sozialdemokrat Ernst Reuter hatte den Sound gesetzt: Die Stadtverordnetenversammlung hatte ihn im Juni 1947 zum Oberbürgermeister für ganz Berlin gewählt. Das Veto der Sowjetadministration verhinderte den Amtsantritt. Kein Wunder, dass am 9. September 1948, nach 77 Blockade- und 76 Luftbrückentagen, 300.000 Menschen in die Trümmerkulisse am Reichstag zu der Kundgebung strömten, auf der Ernst Reuter an die „Völker der Welt“ appellierte, „diese Stadt, dieses Volk“ nicht preiszugeben.
Nun konnten Deutsche wieder Opfer sein
Die Leute kamen aus Ost und West, die Stimmung war antikommunistisch und antisowjetisch. Drei Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft hatte sich die einst noch Millionen zählende nationalsozialistische Gefolgschaft auf wundersame Weise verflüchtigt. Man war nun Opfer – Opfer der Sowjets. Das Vorgehen der Besatzungsmacht gegen alle, die sich ihrer Politik nicht beugten, und schließlich die Blockade konnten als erstklassige Beweise für das Opferdasein gelten. Umso überzeugender ließ sich nach Freiheit und Demokratie verlangen. Als der Berliner SPD-Vorsitzende Franz Neumann zu einer Schweigeminute für die „Opfer von 1933 bis 1948“ aufrief, NS-Herrschaft und Sowjetmacht also in eine Linie setzte, erhob sich kein Protest.
Ernst Reuters Botschaft lautete: Haltet durch! Und so geschah es. Hatte die Stalin’sche Führung gehofft, in West-Berlin würden Hungerrevolten frierender, vom Westen Enttäuschter ausbrechen, gefolgt von innerem Zerfall und Kapitulation – so trat das Gegenteil ein: Die Zuneigung zu den Rettern wuchs.
Im Osten hätte man es wissen können: Die 1946 in ganz Berlin durchgeführten freien Wahlen hatten keinen Zweifel gelassen, von wem man sich das bessere Leben erhoffte. Die von den Sowjets gestützte Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), ein Zusammenschluss sowjetfreundlicher Kommunisten und Sozialdemokraten, erreichte lediglich 19,8 Prozent der Stimmen, die SPD siegte haushoch mit 48,7 Prozent.
Am 5. Mai 1949, eine Woche vor dem Ende der Blockade, las man Erstaunliches: Berliner, vor allem Frauen, klagten über eine Kartoffelschwemme! Das wichtigste Nahrungsmittel überreichlich vorhanden, fallende Preise – wo soll man all diese Kartoffel trocken einlagern? Der Strom der Kartoffelhamsterer aus dem Westen, die im Jahr zuvor noch „die Beschwernisse langer Reisen in die Zone“ auf sich nahmen, war zum „armseligen, dünnen Rinnsal“ geworden.
Plötzlich Kartoffelschwemme
Was war passiert? Erklärung Nr. 1: Kartoffeln gab es auch für West-Berliner bequem und billig aus den HO-Läden, wo der Preis von einst 100 DM für den Zentner auf 50 DM gefallen war. Erklärung Nr. 2: Die Kartoffelernte des Vorjahres war offensichtlich höher ausgefallen als von den Erzeugern angegeben, zudem fielen die Frostverluste im milden Winter geringer aus als befürchtet. Was zu Erklärung Nr. 3 führt: Die Bauern hatten die Kartoffeln vor dem Zugriff des Staates in geheimen Kartoffelmieten versteckt: „So blieb den Erzeugern nichts weiter übrig, als die Kartoffeln dem legalen Handel zuzuführen.“






