Mobilität

„Mutterhöhle der Eisenbahnen“: Wie der legendäre Anhalter Bahnhof neu entsteht

Welche Pracht! Und wie groß dieses Bauwerk war! Doch die Berliner Bahnhofslegende wurde abgerissen. Jetzt lässt ihn das Technikmuseum digital wieder aufleben. 

Willkommen in der Bahnsteighalle des Anhalter Bahnhofs! Bei der Eröffnung war sie die größte Halle dieser Art auf dem europäischen Kontinent - breiter als die Straße Unter den Linden.
Willkommen in der Bahnsteighalle des Anhalter Bahnhofs! Bei der Eröffnung war sie die größte Halle dieser Art auf dem europäischen Kontinent - breiter als die Straße Unter den Linden.Visualisierung: Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin

Was würden Konzertveranstalter und Museumsdirektoren dafür geben, wenn sie ein so prächtiges Bauwerk heute nutzen dürften. Ein Gebäude mit einer ehrfurchtgebietenden Halle, einst weltrekordverdächtige 34 Meter hoch und breiter als die Straße Unter den Linden. Ein riesiger Komplex so groß wie der Markusplatz in Venedig, reich geschmückt mit Statuen und Kandelabern. Doch in Berlin wurde auch dieser Schatz geopfert, vom alten Anhalter Bahnhof ist nur ein Teil des Eingangsportals übriggeblieben.

Jetzt kann jeder, der Zugang zum Internet hat, die Berliner Architektur-Ikone wieder erleben. Am Donnerstag stellten das Deutsche Technikmuseum und die Technische Universität (TU) Darmstadt ihre virtuelle Rekonstruktion vor, mit der sie den historischen Kopfbahnhof dem Vergessen entreißen wollen.

„Es ist fantastisch, was hier entstanden ist“, sagte Joachim Breuninger, Vorstand der Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin. In der Tat: Wer sich auf den 360-Grad-Rundgang begibt, der erlebt eindrücklich, was Berlin verloren hat. „Kaum jemand kann sich noch vorstellen, wie groß der Anhalter Bahnhof war“, so der Museumschef. Vom Eingang am Askanischen Platz in Kreuzberg bis zum Südportal, durch das die Züge in die Welt rollten, waren es fast 170 Meter. „Als das Gebäude 1880 eröffnet wurde, hatte es die größte Bahnhofshalle auf dem europäischen Festland.“ Die Spannweite betrug 60,72 Meter. Nur London St. Pancras und Birmingham Central hatten damals größere Hallen.

„Uns geht es darum, Geschichten zu erzählen“

Und dann die Pracht, mit der die Bahngesellschaft ihren Reichtum demonstrierte! Bei der Premiere am Donnerstag luden Frank Zwintzscher, Museumskurator für den Landverkehr, und Matthias Stier, der im Technikmuseum die Digitale Strategie leitet, zu einem virtuellen Rundgang ein.  An der imposanten Platzfront geht es durch den Portikus, der heute noch von den Skulpturen „Tag“ und „Nacht“ bewacht wird, ins Vestibül – so hieß die prächtige, ebenfalls ziemlich hohe Vorhalle. Auf Säulen aus rotbraunem Marmor schauten „Wissenschaft“ und „Industrie“ auf die Reisenden hinab.

Anhalter Bahnhof, Endstation! Am Querbahnsteig endeten die Gleise. Hier mussten die Fahrgäste aussteigen. Eine Treppe führte hinunter in die prachtvolle Vorhalle, später gab es einen Tunnel ins Hotel Excelsior. 
Anhalter Bahnhof, Endstation! Am Querbahnsteig endeten die Gleise. Hier mussten die Fahrgäste aussteigen. Eine Treppe führte hinunter in die prachtvolle Vorhalle, später gab es einen Tunnel ins Hotel Excelsior. Visualisierung: Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin

Der Rundgang führt zum Querbahnsteig, an dem alle Gleise enden. Von 1893 an gab es Sperren, an denen die Tickets kontrolliert wurden. „So wie heute am Flughafen“, sagte Zwintzscher. Wer jemanden zum Zug bringen musste, löste eine Bahnsteigkarte für zehn Pfennig. Gepäckaufzüge bringen die Koffer in die Vorhalle. Ein Tunnel führt von 1927 an zum Hotel Excelsior, das damals mit 450 Zimmern als eines der größten Hotels in Europa galt. Auch für dieses unterirdische Bauwerk wurde ein Superlativ geltend gemacht: „Angeblich war das der längste Hoteltunnel in Europa“, so der Kurator.

Der virtuelle Rundgang führt über die Bahnsteige, wo Züge bereitstehen, und schließlich zum nicht minder prachtvollen Südportal mit der dreibogigen Gleiseinfahrt. Nicht nur die Detailtreue sei bemerkenswert, sagt Marc Grellert von der TU Darmstadt. Das neue Webangebot sei auch sehr vielschichtig, es gebe viel zu sehen und auch zu hören. Zwei Darstellungsebenen gliedern die Angebote: „Rekonstruktion und Storytelling“, sagte der Fachmann für Digitales Gestalten. „Uns geht es darum, Geschichten zu erzählen“, bekräftigte Matthias Stier. Hier warten auf die Nutzer des Angebots Überraschungen.

Bei der Vorstellung von „Anhalter Bahnhof revisited“: Frank Zwintzscher, Kurator für Landverkehr (l.)., und Matthias Stier, Leiter Digitale Strategie im Technikmuseum Berlin.
Bei der Vorstellung von „Anhalter Bahnhof revisited“: Frank Zwintzscher, Kurator für Landverkehr (l.)., und Matthias Stier, Leiter Digitale Strategie im Technikmuseum Berlin.Peter Neumann

Wer den Koffer anklickt, bekommt die Geschichten zu hören. Erich Kästner, der vom Anhalter Bahnhof oft zu seiner geliebten Mutter nach Dresden-Neustadt reiste, kommt ebenso zu Wort wie seine Schriftstellerkollegin Gabriele Tergit, Bahnhofsarchitekt Franz Schwechten und der Philosoph Walter Benjamin (1892-1940), der diesen Bahnhof schon als Berliner Junge kennenlernte. Für ihn war der Anhalter „laut des Namens Mutterhöhle der Eisenbahnen, wo die Lokomotiven zu Hause sein und die Züge anhalten mussten. Keine Ferne war ferner, als wo im Neben die Gleise zusammenliefen“, schrieb er.

Planungsprobleme gab es im 19. Jahrhundert auch schon

Dabei kommt der Name des Bahnhofs vom Fürstentum Anhalt, das seit 1841 per Bahn mit Berlin verbunden war. Planungsprobleme und Verzögerungen gibt es nicht erst heute, auch damals lief nicht alles rund. Die bereits Ende der 1830er-Jahre beschafften Schienen konnten lange nicht verlegt werden. Erst musste die private Berlin-Anhaltische Eisenbahngesellschaft auf eigene Kosten ein Tor in die damals noch bestehende Stadtmauer schlagen. Ein Truppenübungsplatz war zu verlegen, und der Verein für Pferdezucht ließ es sich einiges kosten, dass er mit seiner Rennbahn woanders hinzog.

Doch angesichts des Fahrgastandrangs reichten die zwölf „Sommerwagen“ ohne Dach, die anfangs für den Personenverkehr zur Verfügung standen, schon bald nicht mehr aus. Das neue Verkehrsmittel florierte, ein neuer großer Bahnhof musste her. Als die Bauarbeiten endlich begannen, war Architekt Schwechten gerade erst 31 Jahre alt.

„Der Anhalter Bahnhof war ein Sehnsuchtsort“, sagte Frank Zwintzscher. Dort fuhren nicht nur die Züge nach Luckenwalde und Jüterbog, nach Dresden, Frankfurt am Main, München oder Stuttgart ab. Auch Wien, Rom, Neapel, die Côte d‘Azur mit Cannes und Nizza waren ohne Umsteigen zu erreichen, am bequemsten natürlich im Schlafwagen. „In den 1930er-Jahren wurde der Bahnhof aber auch zu einem Ort der Bedrückung“, so der Kurator. Menschen reisten ins Exil, weil ihnen im Nationalsozialismus der Tod drohte. „Deshalb ist der frühere Bahnhof ein sehr guter Standort für das geplante Exil-Museum“, sagte er. Nicht zuletzt war er auch Schauplatz von Deportationen. 9600 Berliner Juden mussten von dort ins Getto Theresienstadt fahren, viele starben.

Not und Elend nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Fotos, die Henry Ries 1948 im Anhalter Bahnhof aufnahm und die ebenfalls beim virtuellen Rundgang zu sehen sind, zeigen Not und Elend nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach Bombenangriffen,  Beschuss und Sprengungen wirkte das Gebäude nur noch wie ein „hohler Zahn“, sagte Zwintzscher. Schon im August 1945 begann der Bahnverkehr wieder. Doch die Deutsche Reichsbahn verlegte ihn Zug um Zug auf die Stadtbahn. Reisende aus der DDR sollten in Ost-Berlin ankommen und abreisen, nicht mehr im „Geheimdienst-Nest“ West-Berlin. Im Mai 1952 fuhr zum letzten Mal ein Zug ab.

Das Vestibül des Anhalter Bahnhofs. Heute sehen Bahnhofsgebäude meist anders aus.
Das Vestibül des Anhalter Bahnhofs. Heute sehen Bahnhofsgebäude meist anders aus.Visualisierung: Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin

Nach dem Krieg wollen die meisten Berliner keine Ruinen mehr sehen. Das Bahnhofsgelände wurde verplant – unter anderem war es für eine Schnellstraße ins Gespräch. Kreuzbergs Bezirksbürgermeister Willy Kressmann (SPD) wollte den Bahnhofsrest bald weghaben, obwohl das Gebäude unter Denkmalschutz stand. Doch der Abbruch begann erst 1959, und er sollte Jahre dauern, weil der Ziegelbau solide errichtet worden war. 1960 ließ Regisseur Billy Wilder für seine Berlin-Komödie „Eins, zwei, drei“ Teile des Bahnhofs in das Grandhotel Potemkin verwandeln. Mitte der 1960er-Jahre waren die Abbruchtrupps endlich fertig. Nur der Portikus blieb von ihnen verschont. In den 1970er-Jahren sollte auch er weg. Doch der Wind hatte sich endgültig gedreht.

In dieser Stadt werden „erstklassige Dinge abgerissen, einfach irre“

„Schon in den 1950er-Jahren gab es Diskussionen, ob der Anhalter Bahnhof nicht doch erhalten bleiben sollte“, sagt Franz Zwintscher. Sie markieren den Beginn einer Wende in der Diskussion über das alte Berlin. In dieser Stadt würden „erstklassige Dinge abgerissen, einfach irre“, regte sich der Architekturhistoriker Coerd Peschken 1959 auf. Doch Kressmann & Co. setzten sich durch. Der Schatz landete auf dem Schutt. 

Ein virtueller Lageplan bietet Orientierung rund ums Tempodrom, das auf altem Bahnhofsgelände steht. Stelen mit QR-Codes laden zu einem Spaziergang ein, auch im 700 Meter vom Portikus entfernten Technikmuseum. Dort soll in Lokhallen des ehemaligen Betriebswerks im September 2023 eine neue Eisenbahn-Ausstellung öffnen.

Das Projekt „Anhalter Bahnhof revisited“, entwickelt als Teil von „dive.in. Programm für digitale Interaktionen“ der Kulturstiftung des Bundes, erweckt ihn nun wieder zum Leben. Geld gab es auch von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Stichwort Neustart Kultur. Viele Menschen waren beteiligt – unter anderem Michael Bienert, die viele Dialoge schrieb, das Team von C4, aber auch die Stiftung Exilmuseum, das Berliner Zentrum Industriekultur sowie viele Bahnfans und -freaks.

„Es gibt Menschen, die sich seit Jahren mit Loks und Wagen beschäftigen“, sagte Marc Grellert. Hier konnten sie ihr Wissen unter Beweis stellen. Bitte einsteigen!