Demogewalt

1. Mai in Berlin: Das Gewaltpotenzial hat nicht abgenommen – es entlädt sich nur woanders

Einen Trend zu einem friedlicheren 1. Mai sah man schon öfter. Doch es gibt verschiedene Gründe, sich mit Euphorie zurückzuhalten. Eine Analyse.

Auch am diesjährigen 1. Mai waren in Kreuzberg und Neukölln Tausende Polizisten im Einsatz.
Auch am diesjährigen 1. Mai waren in Kreuzberg und Neukölln Tausende Polizisten im Einsatz.Markus Waechter/Berliner Zeitung

Das sei der friedlichste 1. Mai seit 1987 gewesen. Zu dieser These verstiegen sich noch am Montagabend einige Beobachter. Doch bald darauf wurden sie in der Kreuzberger Oranienstraße eines Besseren belehrt: Erlebnishungrige Krawalltouristen trafen auf wahrscheinlich ebenso erlebnishungrige Polizisten aus Mecklenburg-Vorpommern. Diese pflügten in Keilformation über Fahrbahn und Bürgersteige und rammten jeden um, egal ob Frau mit Cocktail in der Hand oder älterer Herr.

Als das alles gegen 22.30 Uhr geschah, waren die kritischsten Momente des Abends seit mindestens einer Stunde vorüber. Ob Berlin wirklich den friedlichsten 1. Mai seit Ausbruch der jährlich wiederkehrenden Krawalle im Jahr 1987 erlebt hat, lässt sich schwer einschätzen. Es gab in Kreuzberg schon Maiabende, die für Schaulustige noch langweiliger waren. Eine Orientierung könnte allenfalls die Polizeibilanz geben: Die Polizei meldete am Dienstag 58 Festnahmen und neun verletzte Polizisten. Das ist im Vergleich zu früheren Jahren sehr wenig.

Daraus eine Entwicklung abzuleiten, wäre jedoch kühn. Denn einen Trend zu einem „immer friedlicheren“ 1. Mai sah man schon des Öfteren, und dann brach die Gewalt wieder aus – etwa 2021. Das Gewaltpotenzial in der Gesellschaft und in der linksextremen Szene dürfte nicht abgenommen haben. Es entlädt sich nur an anderer Stelle. Etwa zu Silvester auf den Straßen Neuköllns und in Gesundbrunnen. Oder auch zwei Nächte vor dem 1. Mai, in der Nacht zum Sonnabend, in der Seydelstraße in Mitte. Ein schwarz vermummter randalierender Mob zog gegen „die Reichen“ los, zertrümmerte dort unzählige Fensterscheiben und demolierte zahlreiche teure Autos.

Das Gewaltpotenzial in der Gesellschaft entlädt sich auch gegen Rettungskräfte der Berliner Feuerwehr. 307-mal wurden sie im vergangenen Jahr Opfer von Angriffen. Polizisten traf es 8726-mal. Das sind Rekordzahlen.

Antisemitismus macht sich in der linken Szene immer stärker bemerkbar

Wer da an diesem ersten Maiabend in den Straßen Neuköllns und Kreuzbergs herumstand und darauf wartete, „dass es losgeht“, gehörte zum großen Teil zu einem unpolitischen und angereisten Publikum.

Hochpolitisch hingegen waren die Inhalte der Revolutionären 1.-Mai-Demo ab 18 Uhr: gegen Ausbeutung und Armut, gegen das Patriarchat. Ein Demonstranten-Block protestierte gegen das Mullah-Regime im Iran, direkt dahinter lief der israelfeindliche Block um das Samidoun-Netzwerk. Und so wurden wieder israelfeindliche und antisemitische Parolen laut – wie immer, wenn diese Vorfeldorganisation der in Europa verbotenen Terrororganisation PFLP in Berlin Demos veranstaltet. Die Polizei hat ein Ermittlungsverfahren wegen der antisemitischen Parolen eingeleitet. Unüberseh- und unüberhörbar ist, dass sich die antisemitischen Strömungen in der linken Szene auf der Revolutionären 1.-Mai-Demo in Berlin von Jahr zu Jahr stärker bemerkbar machen.

Höchstes Lob für die Polizei kam am Tag danach von Berlins neuem Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU), der bei der Senatspressekonferenz das Vorgehen der Beamten als „hochgradig professionell“ bezeichnete. „Jegliches Gewaltaufkommen wurde verhindert. Es war eine taktische Meisterleistung.“

Polizeipräsidentin Barbara Slowik: Es gab keinen Polizeikessel

Diesen Eindruck muss man nicht teilen. So mussten sich 12.000 Demonstranten durch mehrere Engstellen quetschen, etwa am Rondell des Kottbusser Tors. Anschließend lief der Zug unter dem Neuen Kreuzberger Zentrum entlang, wo sich die neue Polizeiwache befindet. Das war ein Wunsch des Veranstalters, der vor Erreichen des Zielortes die Demo auch noch unerwartet beendete.

Das Ergebnis war, dass es für die Menschenmasse weder vor noch zurückging. Da die Fahrbahn am Kottbusser Tor auf beiden Seiten mit Hamburger Gittern und Polizeiposten zugestellt war, um die „Kotti-Wache“ zu sichern, konnten die Menschen eine Stunde lang nicht weg – eine klaustrophobische Situation. Entsprechende Vorwürfe wollte Polizeichefin Barbara Slowik am Dienstag gleichwohl nicht gelten lassen: „Es gab keinen Polizeikessel. Zu allen Zeiten konnte man die Demonstration rückwärtsgerichtet verlassen.“

Unklar bleibt, warum die Polizeieinheit aus Mecklenburg-Vorpommern später die Oranienstraße so brachial vom Partypublikum freiräumte. Dies sorgte für eine zusätzliche Eskalation und brachte die Leute gegen die Beamten auf. Ein bei Twitter kursierendes Video zeigt, wie ein offenbar betrunkener Mann vor den herannahenden Beamten steht. Zielgerichtet wird er mit Pfefferspray besprüht und dann zu Boden gestoßen. „Da sind wir in der Aufklärung und versuchen den Sachverhalt auszuleuchten“, formulierte Slowik etwas umständlich.

Bei einem offiziellen MyFest hätte es Toilettenhäuschen gegeben

Diese Eskalation wäre wohl ausgeblieben, hätte es das MyFest gegeben, wie es in früheren Jahren in dem Kiez stattfand, veranstaltet von einem Netzwerk aus Anwohnern, Initiativen und Gewerbetreibenden sowie dem Bezirksamt. Der Trägerverein MyFest e.V. und Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann (Grüne) werfen sich gegenseitig vor, dass das Fest auch in diesem Jahr nicht stattfand, nachdem es dreimal pandemiebedingt ausgefallen war.

De facto gab es aber ein riesiges MyFest mit friedlicher Stimmung, das sich über den gesamten Kiez vom Oranienplatz über den Bethaniendamm bis zum Görlitzer Park und zum Schlesischen Tor hinzog. Die Leute brauchten keinen Verein und auch kein Bezirksamt. Sie stellten einfach Musikboxen vor die Türen, verkauften auf den Straßen Aperol Spritz, Bier und Falafel. Zehntausende waren hier unterwegs, und die Polizei musste ihnen immer wieder sagen, dass es kein MyFest gebe.

Allerdings beklagten sich Anwohner über den Müll und viele Wildpinkler im gesamten Gebiet. Bei einem offiziellen Fest hätte es Toilettenhäuschen gegeben. Und die Polizisten aus Mecklenburg-Vorpommern hätten sich einen anderen Erlebnisparcours als die Oranienstraße suchen müssen.