Lag Anfang 2020 in Berlin eigentlich Schnee? Wer es nicht mehr weiß, der wird schnell fündig bei der RBB-Dokureihe „Berlin – Schicksalsjahre einer Stadt“. Die einzelnen Folgen eröffnen meist mit einem Blick auf Neujahr und das Winterwetter – und anno 2010 trieben tatsächlich Eisschollen auf der Spree, und Neukölln und Kreuzberg duellierten sich bei einer großen Schneeballschlacht. Am 27. August startet mit den Zehnerjahren von 2010 bis 2020 die vorerst letzte Staffel dieses groß angelegten Projektes, mit dem der RBB beweist, dass er nicht nur Skandale liefern kann, sondern publizistisches Potenzial besitzt.
Schon seit über einem Jahr laufen an den Sonnabenden um 20.15 Uhr frühere Ausgaben. Selbst diese Wiederholungen erreichen immer noch Quoten, die weit über dem Senderschnitt liegen. 2020 wurde das Format für den Grimme-Preis nominiert. Mit der neuen Staffel wird das Projekt 64 Folgen zu je 90 Minuten umfassen – diese Berlin-Chronik ist also stolze vier Tage lang.
Die Frage, was ein Regionalsender auf diesem Sendeplatz überhaupt erreichen kann, hatte einst den Anstoß gegeben. Johannes Unger, Leiter der Abteilung „Dokumentation und Zeitgeschehen“, und Redakteur Rolf Bergmann schlugen Programmdirektor Jan Schulte-Kellinghaus eine Berliner Ost-West-Jahreschronik vor. Für den Pilotfilm wurde nicht ein ausgewiesenes „Schicksalsjahr“ wie 1961 oder 1989 ausgewählt, sondern 1973. Das Ergebnis überzeugte zunächst intern, ab Herbst 2018 auch die Zuschauer. Zunächst liefen die Sechziger, ab 2019 dann die folgenden Jahrzehnte.
Die Jahre von 1945 bis 1961 wurden nicht einzeln, sondern in Blöcken zu je vier Jahren zusammengefasst. Für diese frühen Jahre gab es weniger eigenes Material aus dem Senderarchiv, und Fremdmaterial ist viel teurer – beim Programm mussten die Produzenten beim RBB hartnäckig um jeden Euro kämpfen. Von Beginn an achteten die Macher auf die Ausgewogenheit zwischen Ost und West, was rein von der Materiallage nicht einfach war. Denn der frühere SFB sendete seit 1954 allein für den Westteil Berlins, die „Aktuelle Kamera“ aus Berlin-Adlershof aber richtete sich an die gesamte DDR-Bevölkerung und zeigte zudem viel Propaganda.

Diepgens persönliches Schicksalsjahr: 1994
Nicht jeder fand hier „sein“ Berlin-Bild wieder. So polterte der frühere Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen Anfang der Woche bei der Präsentation der finalen Staffel, dass der Auftaktfilm über 1961 „einseitig“ gewesen wäre, denn als Motive für eine Flucht nach Westen wären nur materielle Gründe benannt worden. Doch wer sich den kompletten Film in der ARD-Mediathek ansieht, wird diese Einseitigkeit kaum bestätigen können. Denn neben einem geflohenen DDR-Traktoristen, der im SFB tatsächlich den Wunsch nach einem Auto, einer Waschmaschine und einem Fernseher als Grund anführte, geben alle Filme Raum für verschiedene Perspektiven – vom Kampfgruppenkommandeur, der Häuser räumen muss, bis zur Frau, die aus dem Fenster in den Westen sprang.
Als sein persönliches „Schicksalsjahr“ benannte Diepgen das Jahr 1994: Erst mit dem endgültigen Abzug der sowjetischen Truppen sei die deutsche Einheit unumkehrbar geworden. Seine Nachfolger hatten diverse „Schicksalsjahre“ zu managen: Klaus Wowereit, der 2001 mit seinem „Ich bin schwul, und das ist auch gut so“ weltweit für Furore gesorgt hatte, ist auch in der neuen Staffel vertreten. 2010 wurde Richtfest am Flughafen BER gefeiert, die Eröffnung aber auf 2012 verschoben. Michael Müller erinnert sich besonders stark an 2016, als er wenige Minuten nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz eintraf und sich fragte: „Was kommt noch alles nach?“ Müller, der inzwischen im Bundestag sitzt und im Auswärtigen Ausschuss arbeitet, gab schon eine Prognose für das Generalthema der 2020er-Jahre ab: „Es wird das Jahrzehnt der Migration.“
„Schicksalsjahr“ für den RBB: 2022
Ob die Jahre 2010-2020 schon reif genug sind für diese Chronik, war unter den Redakteuren durchaus umstritten. Doch schon das Jahrzehnt davor besaß ja nicht mehr die Patina des Historischen – die Staffel wurde trotzdem genauso stark vom Publikum angenommen. Die Startfolge mit dem Jahr 2010 ist kein ausgewiesenes „Schicksalsjahr“. Dass der Chef der Treberhilfe damals einen teuren Sportwagen fuhr und über 300.000 Euro Jahresgehalt für sich beanspruchte, wirkt fast wie eine Anspielung auf die Vorgänge beim RBB – dabei war die Folge längst vorher fertiggestellt.

Nicht alles wirkt zwingend: Der Wechsel im Amt des Bundespräsidenten von Horst Köhler auf Christian Wulff ist kein Berlin-Thema. Manches ist allzu wertend: So wird Thilo Sarrazin mit seinem Bestseller mit der höhnischen Zeile angekündigt: „Ein Mann schafft sich ab“ – dabei ist er bis heute noch sehr präsent. Mit den Porträts einer türkischstämmigen Polizistin und eines Krankenpflegers, der aus dem Libanon gekommen war, versucht Autorin Dagmar Wittmers, einen roten Faden zum Thema Integration zu spinnen – doch die Geschichten passen eigentlich zu jedem Jahr. Insgesamt erscheint 2010 im Rückblick hier wenig aufregend, ja fast etwas langweilig – doch inzwischen ist ja jeder froh über ein Jahr ohne größere Katastrophen und Krisen.
Wie viele Minuten in einer künftigen Berlin-Chronik die aktuelle RBB-Krise einmal einnehmen wird, wurde bei der Präsentation auf der Dachterrasse im 14. Stock mit dem herrlichen Berlin-Blick immer wieder diskutiert. Programmdirektor Schulte-Kellinghaus, einer der Förderer des „Schicksalsjahre“-Projekts, inzwischen selbst wegen der Extrabezüge in die Kritik geraten, ist derzeit das einzige Mitglied der Geschäftsführung, das sich noch aus der Deckung wagt. Er versprach, mit Hochdruck an der Nachfolge der Führung zu arbeiten. Unter den RBB-Mitarbeitern herrscht durchaus Aufbruchsstimmung. Viele wünschen sich gar keinen Kandidaten von außen, sondern hoffen auf mehr Mitbestimmung bei der Besetzung der Senderspitze.




