Schlaf hat mir immer ein bisschen Angst gemacht. Ich meine durchaus die Vorzüge dessen zu kennen, auch träume ich gern, manchmal schreibe ich die Träume sogar auf. Aber ist es nicht so, dass ich während des Schlafens eine Menge versäume? Auf der anderen Seite: Soll er nicht die Schädigungen durch den Alltag bekanntlich wieder wettmachen, weil Schlaf doch edel und schön macht nach durchzechter Nacht? Schlaf war für mich oft ein Synonym von Langeweile. Wenn mein Freund anfing, auf meinem Sofa einzunicken, wusste ich: Das hält nicht mehr lange.
Darum versuche ich selbst, ihn immer nur so lange andauern zu lassen, bis sich die Falten am Morgen als Liegeknitter verflüchtigt haben. Ich gebe zu: Inzwischen bleiben sie hartnäckiger. Es ist auch kein Wunder, ich habe den Zenit des Lebens überschritten, das lässt sich nicht wegträumen.
Immerhin hat mir meine Familie mütterlicherseits viel humorvolle Trotzenergie mitgegeben, und die nutze ich jetzt aus. Rock ’n’ Roll!
Seit einiger Zeit date ich eindeutig jüngere Männer. Das soll weniger kokett, als eher zukunftsorientiert daherkommen. Ich erhoffe mir immer eine Art Sparringspartner, der nicht um halb zehn die Segel streicht und sagt: „Morgen früh ist die Nacht rum“ (ein herrlich absurder Satz meines Opas). Oder: „Morgen ist auch noch ein Tag.“ Oder: „Jetzt bin ich aber müde.“ Wenn er denn überhaupt was sagt, bevor er sich, ohne die Zähne zu putzen, ins Bett schleicht. Außerdem sind die meisten Menschen in meinem Umfeld derzeit sehr erschöpft, obwohl ich wieder toben möchte; das ständige Sitzen im Homeoffice tut bei vielen sein Übriges. Okay, ich bin vielleicht vorbelastet. Meine Eltern sind, als ich Kind war, meist vor neun Uhr in ihrem Reich verschwunden, sodass ich allein mit meinem Puppenhaus Party machte bis nach Mitternacht.
Erstaunlich, wie voll plötzlich die Bildergalerie auf Anbandelplattformen ist
Wie wir wissen, war das mit dem Feiern jetzt lange schwierig bis unmöglich. Umso erstaunlicher, wie prallvoll plötzlich die Bildergalerie auf einschlägigen Anbandelplattformen ist. Manchmal könnte man die ganze Nacht lang wischen, egal ob nach rechts oder links: Forscher wollen ja festgestellt haben, dass allein diese schleifende Berührung des Zeigefingers Glückshormone freisetzt. Außerdem stand neulich in dieser Zeitung, dass jeder dritte Berliner Single sei. (Ergibt Sinn, die beiden anderen sind dann wohl ein Paar.)
Und dann bleibt meine Hand auf Paolo liegen. Was Paolo so treibt, interessiert mich zuerst nicht besonders, denn sein Foto ist so über alle Maßen entzückend, dass ich sofort auf das Herzchen drücke. Mit Wuschelhaaren, als hätte er sich eben nach dem Aufstehen rasch über den Kopf gefahren, die Augen groß wie der Rand seiner Kaffeetasse, ein Lächeln, filmreif. Mein erster Gedanke prompt: So siehst du also aus, nachdem ich früh morgens deine Wohnung verlassen habe. Uh. Natürlich sind die letzten näheren Kontakte viel zu weit aus meinem Leben gerückt. Womöglich ist mein Hang zum grundlosen Schwärmen auch dem durchgeplanten Alltag zwischen Söhnen, freier Kunst und unfreier Brotarbeit geschuldet. Da muss man für gute Momente sorgen! Tatsächlich kommt ein kleiner Vorgeschmack davon wenig später in mein Postfach. Paolo und ich matchen. Wie lange soll ich nun warten, bis er sich meldet? Bin ich so cool, dass ich mich gedulden kann?
Um mich herum kreisen die Nachrichten von alten, kranken Eltern, um die man sich kümmern muss, die Worte Krebs oder auch Demenz fallen sehr oft. Ich will jene nicht unwesentlichen Tatsachen nicht immer wieder dafür heranziehen, warum ich diese Lebensgier verspüre. Aber ja, manchmal kann ich einfach nicht anders. Ich schreibe: Hey, Lust auf ein Bier? Paolo scheint auch nicht lange zu fackeln und notiert: Can we switch into English?
Weil klar, Paolo kommt aus Italien. Ebenso klar: Er wohnt schon lange in Berlin, hat aber eben auch viel zu tun und das mit dem Deutsch, sorry. Ich antworte: No problem.

Vielleicht mag ich das Daten auch, weil ich völlig neue Leute kennen lerne
Dann schaffe ich es dennoch, drei Tage lang gelassen zu bleiben, ich will es jetzt Vorfreude nennen und freue mich umso mehr, als er sich dann wieder meldet und fragt, ob es denn bei Freitag bleibe. Fast hätte ich „Freutag“ getippt, aber yes, sure, where could we meet? Er schlägt Neukölln vor, because he lives there and he likes very much these kind of bars. Nochmal starre ich sein Foto an; wirklich, er kennt die Nacht, aber das macht diesen Nachmittag davor gerade so verwegen. Beim Gedanken an eine international conversation wippen meine Füße gleich leichter in den Riemchenschuhen. Da sitzt er mitten zwischen lachendem Menschengeschnatter und winkt mir zu.
Vielleicht mag ich das Daten inzwischen auch, weil ich erstens völlig neue Leute kennenlerne, die ich sonst nicht treffen würde, die mir zweitens aus diesem Grund ihre ganze Lebensgeschichte erzählen, und denen ich dann drittens selbstverständlich auch meine komplette Story unterjubeln könnte.
Wobei ich schon merke, dass die ihn nicht in voller Länge interessiert. Es gibt wichtigere Themen. Aber selbst wie wir schnell auf Krieg und andere Kämpfe in dieser Welt zu sprechen kommen, fühlt sich konsequent und richtig an. Vor allem mag ich sein pointiertes Italienenglisch und meinen Versuch, dabei an seinen Lippen zu kleben, um einigermaßen zu verstehen. Zwischendurch zischt die Lüftung über unseren Köpfen, und Paolo stellt fest, dass das wie ein Schwarm Moskitos klingt, und er dies gleich in seine nächsten Beats einbauen würde. Ja, er macht Musik und übers Kochen reden wir auch und dass er mir unbedingt mal bei Gelegenheit ein venezianisches Pollo zaubern wollen wird, ein Freilandhuhn vom Markt mit viel Knoblauch und Wein, und dann küssen wir uns.
Als Künstlerin mag ich es schon sehr, dieses Filmgefühl im normalen Leben, wenn ich ein inneres Rechteck forme, um es dann über die beste Ansicht außen zu drapieren. Jetzt war ich mir sicher: Das muss toll und einladend leidenschaftlich wirken, wie wir uns da ineinander knoten. Das Bier schon lange ohne Schaum. Aber so richtig interessiert hat das natürlich niemanden, wieso auch, es ist Berlin, Neukölln, selbst wenn es jetzt lange Zeit unter einer Maske lag. Nur mein Gefühl frohlockte, sodass ich dann irgendwann doch einen Platzwechsel vorschlug, oder war es Paolo? So viel schlechtes Englisch in der Bierbirne macht doch etwas schlapp.
Auf dem Weg holte er noch zwei Spätibier
Wir liefen zu Fuß zu seinem Zuhause. Auf dem Weg holte er noch zwei Spätibier und versuchte etwas zu grob, einen Typen abzuwimmeln, der ihn nach einer Geldspende fragte. Gleich neben dem Görli. Ich hatte tatsächlich einen Moment Sorge, ob der andere nur stoned war oder doch unberechenbar; ich wäre ja lieber gerannt, aber Paolo drückte ihn mit der Faust zu Seite, was der allerdings nicht ohne Weiteres mit sich machen ließ. Der Typ insistierte, und Paolo ließ sich auf eine fünfminütige Diskussion ein. Bei ihm oben in der Wohnung klopfte mein Herz immer noch wild, ich lese Zeitung und wusste nicht, ob ich das jetzt mutig oder bescheuert von ihm fand. Vor allem, als er ganz cool auf die Plastiktüte mit den Flaschen deutete und meinte, zu Not hätte er die eingesetzt. Ich glaube, ich musste dann noch viel trinken. Seine Einzimmerwohnung verfügte über zwei große Fenster, die wir jedoch wegen der Nachbarn erst nicht öffnen sollten, und irgendwann hing das Nikotin wie ein schwerer blauer Vorhang an den dunklen Scheiben.
Er spielte mir etwas von seiner neuen Platte vor, und tatsächlich spürte ich ein erstes entspanntes Absacken in eine andere Sphäre. Dazu passte, dass die Bettwäsche oben auf seinem Hochbett von Carrera war, knallrot, ich hickste vom Grappa und wollte durchaus krabbeln. Paolo schon auch, die Zimmerdecke gleich über unseren schummrigen Schädeln. Ja, und dann war es wohl spät und wir sind eingenickt. Beziehungsweise ich musste den ganzen Tag nochmal durchgehen, im Halbschlaf, die Moskitos, die keine waren und das schöne Küssen, das meinem Losschwingen etwas versprochen hatte, was nicht so recht einkehren wollte. Und irgendwann war es taghell.
Ich blickte vom Holzthron aus auf die gegenüberliegende fensterlose Brandmauer, kaum zehn Meter entfernt. Ich stieg möglichst leise nach unten und suchte in dem türlosen Küchenabteil nach einem Espresso. Paolo noch kurz aus dem Dämmer: I hope there is still something in the box. Ja, was ist in der Dose, der Schachtel, dem Wunsch nach dem Erlebnis mit Nachklang? Die Sonne zeichnete ein scharfes Dreieck auf die Wand, immerhin war es bereits 13 Uhr. Paolo raunte, he had to sleep. I have to go, meine Stimme schon im Flur, tausend Dank für die Gästezahnbürste. Kreuzberg ist wirklich ein klasse Kiez, ehrlich, ich bin viel zu selten hier, ein lebendiger internationaler Trubel, egal zu welcher Uhrzeit.





