Ach.
Ich bin noch nicht soweit. Ich meine, das Älterwerden, das Verschwinden aus dem Dunstkreis interessierter Blicke, das Aufhören der Frage, was ich drunter anziehe. Will kein Haus kaufen, keine Sterbegeldversicherung abschließen, keine Werbung für den Treppenlift öffnen müssen. Ich will leben, Punkt.
Das ist vielleicht der Grund, warum ich seit einiger Zeit in meinem Singleleben eine Vorliebe für junge Männer entwickelt habe. Allein dieser Satz kommt nach dem Tippen schmierig daher, wie ein zu enges T-Shirt, unter dem sich die Fettröllchen abzeichnen. Weil: Was ist „jung“? Findet sich das in einem durchtrainierten, agilen Körper wieder oder mehr im Geist? Der Haltung, die er zum Leben einnimmt? Ab wann wirken Falten nicht mehr jugendlich? Kann nicht das Leuchten im Augenwinkel eines Sechzigjährigen gleichsam aufregend frisch wirken? Oh doch! Aber bisher schimmerte da auch schnell etwas anderes mit hinein, was weniger abenteuerlich war. Verpflichtungen! Die Ehefrau! Oder wenn keine existierte: die Nachwirkungen der Scheidung, kaputte Rosen auf dem Schlachtfeld, Bitterkeit. Natürlich sind das Klischés. Ebenso das von dem Reiz der deutlich jüngeren Männer.
Als Teenie bin ich wie ein Duracell-Hase zum Song von Falco abgegangen: „Die Nacht gehört uns bis zum Morgen/Wir spielen jedes Spiel//Lass diese Reise niemals enden/ Das Tun kommt aus dem Sein allein.“
Rein küchenpsychologisch kann ich mir meinen Hang also absolut zurechterklären. Mit fünfzig habe ich so einige Steine den Berg hochgerollt und zugesehen, wie sie den Abhang wieder runtergekullert sind. Zwanzig Jahre Ehe, zwei große Kinder, meine Eltern leben nicht mehr. Grund genug, den Tisch neu zu decken und mich zu fragen, was da nicht alles drauf passen kann, bis er zusammenbricht.
Da sind sie also. Einer attraktiver als der andere. „Sieht ganz schön jung aus“, kommentiert meine Freundin Nele, als ich ihr das Foto zeige. Kein Wunder, er verzeichnet laut eigener Angabe 31 Lenze. Da ist zwischen unseren jeweiligen Altern schon so einiges Wasser den Bach runtergeflossen, genau genommen 20 Jahre lang. „Ich find ihn süß.“ Habe ich das gerade gesagt? „Uh“, steigt Nele sofort ein, „pass aber auf, dass das nicht in einen schwierigen Bereich abrutscht.“ „Wie meinst du das?“ „Naja, er sieht wirklich noch sehr unreif aus. Das läuft sicher nicht auf was Langfristiges hinaus.“
Ich spucke den Schluck Wein zurück in mein Glas, weil ich kurz auflache. Dann wische ich den Kerl nach rechts und habe prompt ein Match. Siehste! Läuft.
Felix schreibt, was ich denn so mache an meinem freien Tag. Arbeiten, so meine Antwort. Ich habe mir vorgenommen, ehrlich zu sein, vielleicht will ich ihn auch testen. Bin ich noch attraktiv, während ich den Sonntag über mit Malochen verbringe oder bin ich es gerade erst deshalb? Eine Frau, die man noch erobern kann? Will ich das überhaupt?
Felix schaut so aus, wie ich mich fühle. Er guckt auf dem Schnappschuss geradewegs in die von der untergehenden Sonne beleuchteten Baumwipfel. Eine leichte Melancholie liegt auf seinen Mundwinkeln, aber die Augen strahlen. Immerhin präsentiert er nicht gleich seinen nackten Oberkörper. Auf meinen Satz mit der Sonntagsbelegung antwortet er schlicht: ok. Wir hören zwei Tage nichts voneinander. Da simst er: Wollen wir uns Freitag sehen? Seine Freundin sei dann auch unterwegs, und erst da begreife ich, dass ich den Satz mit der offenen Beziehung überlesen habe. Ob das ein Problem für mich sei? Die Freundin. Ach. Gestern war schon wieder diese Treppenliftwerbung in meinem Postfach. Ich merke, dass ich die Tage zähle und meine Tasche mit mehr Schwung packe.
Am Donnerstag beginnt der Sturm. Auf dem Radar leuchtet Berlin knallrot wie eine pralle Kirsche, die Windböen lassen meine Blumentöpfe klappern. Der Freitag selbst zerfällt in Einzelstunden, Job/Kunst/Vereinssitzung/Einkaufen/Wochenendcheck mit den Söhnen/Aufräumen/Duschen/Arbeitsessen bei der Kollegin. Schon im Türrahmen sage ich ihr: Ich kann leider nur bis acht bleiben. Woraufhin sie mich etwas länger mustert und wissend sagt: ein Date.
Die kollegiale Suppe schmeckt hervorragend, aber ich bekomme nur die Hälfte herunter. Schließlich kommen noch die Tochter und der Mann. Sie zeigt mir über den Tellern die Fotos ihres zweiten Enkelkindes, so ein stimmiges Familienleben. Das habe ich selbst vor gar nicht so langer Zeit visioniert. Gemeinsam die Kinder aufziehen und sich dann überlegen, welche späten Hobbies einem über das Phänomen des Empty-Nestes hinweghelfen könnten. Möchtest du noch Salat? Jetzt habe ich ihn; ich date wieder, viel zu junge Kerle, die mit allem noch gar nicht angefangen haben, gemeinsame Wohnung, Kinder, Bausparvertrag.
Ich spüre, dass mir die Gabel nicht mehr so leicht in der Hand liegt, immerhin zittert da noch nichts. Dass es so bleibt, habe ich nicht in der Hand. Sollte ich mir dennoch mit fünfzig nicht unbedingt Strategien zurechtzimmern, wie es weitergeht? Einen Mann suchen, der in einer ähnlichen Lage ist und es nochmal richtig krachen lassen will? Erstens, wo sind die, und zweitens muss man zum Fliegen die Füße von der Erde abheben.
Felix steht aufrecht unter seiner Mütze, über ihm die flatternde Markise meiner Lieblingsbar. Er wohnt erst seit einem halben Jahr in Berlin, und er und seine Freundin haben beschlossen, die Stadt in ihren ganzen Vorzügen auszukosten, daher die offene Beziehung. Das funktioniert? Ich will nicht gleich rummäkeln, spüre aber schon die Skepsis. Klar. Weiß sie, dass er sich mit mir trifft? Natürlich. Sie habe ihm noch viel Spaß gewünscht. Sie selbst date zwei andere Männer. Einmal die Woche würden sie sich darüber austauschen, ob sich das noch gut anfühlt. Irgendwo in meinem Hinterkopf die Warnung.
Auf der anderen Seite das Gespräch mit Felix: super. Er mag Literatur, und ich kann endlich wieder damit glänzen, dass ich in einer Zeit vor den Kindern tatsächlich Thomas Manns „Zauberberg“ zu Ende gelesen habe. Dabei trinken wir Wein. Ein Glas, zwei Glas. Dazwischen meint er, dass er beim ersten Date eigentlich im Anschluss brav nach Hause fahre. Ich gebe zu, das reizt. Ich biete ihm eine Zigarette an. Normalerweise raucht er nicht, jetzt aber schon. Sind wir beim dritten Glas? Sollten wir nicht zwischendrin etwas essen? So eine Suppe hält schließlich nicht lange vor. Naturgemäß kommen wir aufs Essen zu sprechen. Felix ist wie alle Jungen in Berlin Veganer, dann aber schwärmt er davon, heute einen Döner verspeist zu haben. Das ist es! Rock ’n’ Roll und rebellische Inkonsequenz.
Der Sturm bietet die perfekte Kulisse für unser Rauchen und Rauschen, inzwischen regnet es. Als ich von der Toilette wiederkomme, will ich wissen, was er denkt. Wovon? Na, von dem Abend. „Und du? “, will er wissen. Sag ich es jetzt? Hurra Emanzipation? Denn habe ich beim Aussprechen von Thomas Manns langen Sätzen eigentlich nicht ans lange Küssen gedacht? Ich muss wegschauen, als ich es ihm sage. Da hat er schon seine kühle Hand irgendwo in meinem Nacken geparkt und wir knutschen wie die Weltmeister.
Irgendwann wird es doch zu frisch draußen, die heißen Küsse reichen nicht mehr, und wir schummeln uns durch die übervolle Bar, wo wir nur noch vor den Toiletten einen freien Sitzplatz finden. Woraufhin ich bei jedem Gast denke, der uns fragt, ob wir auch aufs Klo warten, und wir ihn erst mal auf eine Antwort warten lassen, weil wir unbedingt noch vorher küssen müssen: Bin ich jetzt die coole Socke, so eine Art Heidi Klum mit ihrem Kerl, überall nur noch fummelnd? Muss ich mir überhaupt darüber Gedanken machen, und was würde das bringen?
Wie hat Falco gesungen? Vergesst das Morgen. Derweil schlage ich vor, dass wir zu mir nach Hause gehen. Es ist nach ein Uhr nachts, und ich denke schon, dass meine Söhne jetzt alt genug sind, wenn ich nicht alleine auftauche. Beim Schieben meines Rads spüre ich die Schräglage, aber auch Felix läuft schief. Der Fahrstuhl könnte in den Himmel fahren, das wäre spitze. Spitze auch, dass ich gerade noch den Lichtschalter finde und nicht groß überlege, ob das Licht meinem Körper schmeichelt, weil mein Blick nur noch auf Felix liegt, seiner Haut, den Tattoos, den Achselhaaren, dem Schriftzug über der Yogabrust: „Wir ernten, was wir säen.“ Auf Englisch.









