Sechs Monate Krieg in der Ukraine

Herfried Münkler: „Wir können nicht in Unterhosen gegen Russland antreten“

Bei der heutigen Generaldebatte im Bundestag zitierte der CDU-Parteivorsitzende Friedrich Merz aus diesem Interview. Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir es noch einmal. 

Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaftendpa/Soeren Stache

Dieses Interview wurde am 23. August 2022 veröffentlicht.

Herfried Münkler ist einer der angesehensten Intellektuellen Deutschlands. In den Werken des Politikwissenschaftlers geht es vor allem immer wieder um ein Thema: den Krieg. Auf vielen Hundert Seiten hat Münkler sich mit den beiden Weltkriegen auseinandergesetzt, schreibt aber auch immer wieder zu aktuellen Konflikten, nicht zuletzt zu Russlands Angriffskrieg in der Ukraine. Sechs Monate nach Beginn der Invasion haben wir mit ihm einen militärisch-strategischen Blick auf den Ukraine-Krieg geworfen und über das Szenario einer direkten militärischen Konfrontation der USA und China gesprochen.

Herr Münkler, vor einem halben Jahr ist Russland in der Ukraine eingefallen. Schon zwei Tage nach Beginn der Invasion schrieben Sie in der Berliner Zeitung, dass die Ukraine für Putin zu einer gewaltigen Belastung werden könnte. Ist das eingetreten, was Sie damals damit meinten?

Ich habe damals nicht damit gerechnet, dass die russische Armee sich als so leistungsschwach herausstellen würde. Eher bin ich von wirtschaftlichen und politischen Problemen für Russland ausgegangen, die aus dem Krieg erwachsen. Der Kriegsverlauf ist für die russische Armee eine echte Blamage. Die ukrainische Armee hingegen schlägt sich deutlich stärker, als ich erwartete und ist enorm effektiv.

Sie wurden zu Beginn des Krieges für die Aussage kritisiert, die Ukraine werde kein souveräner Staat mehr sein. Hat sich mit dem Verlauf des Krieges auch dazu Ihre Meinung geändert?

Ja. Aber ich glaube immer noch nicht, dass die Ukraine ihr Staatsgebiet von 2014 wiederherstellen kann. Früher oder später wird dieser Krieg am Verhandlungstisch beendet werden, und Teile des Donbass und die Krim werden wohl an Russland fallen. Wir sind bereits an einem Punkt angelangt, an dem man von einem Abnutzungskrieg sprechen kann, in dem die Frontlinie sich nur noch geringfügig verschiebt. Es ist nun eine Frage der Zeit, bis es zu Verhandlungen kommt. Das Problem ist, dass beide Seiten die Messlatte sehr hoch gelegt haben, und nun Probleme haben, gesichtswahrend aus dem Konflikt hervorzutreten. Schließlich hat auch Selenskyj angekündigt, erst zu verhandeln, wenn sich das russische Militär vom gesamten Staatsgebiet der Ukraine zurückzieht. Das wird nicht passieren. Auch die Ukrainer werden sich da meiner Einschätzung nach irgendwann bewegen müssen. Vor allem aber wird Russland bei seinen weitreichenden Kriegszielen zurückstecken müssen.

Was genau macht es den russischen Truppen aus militärisch-strategischer Perspektive so schwer, in den Ukraine voranzukommen?

Putin wiederholt in der Ukraine altbekannte strategische Fehler aus den beiden Weltkriegen. Dazu gehört vor allem die Unterschätzung der Schwierigkeiten, die sich für die Versorgung der eigenen Truppen durch Landgewinn ergeben – und die Überschätzung des Vorteils, den eine Überlegenheit bei Munition, Waffen und Soldaten in der Offensive bringen. Durch taktische Kreativität kann in der Defensive eine gewaltige Materialüberlegenheit ausgeglichen werden. Die Ukraine nutzt ihre Möglichkeiten extrem gut, es gelingt ihr immer wieder, gerade mithilfe von Raketenwerfern und Panzerhaubitzen, tief in von den Russen erobertem Gebiet Verbindungslinien und Nachschublager zu zerstören. Auch die Zerstörung von Flugzeugen auf der Krim zeigt, dass die Ukraine sehr geeignete Mittel gefunden hat, um sich weiterhin erfolgreich zu wehren.

Könnten die ukrainischen Truppen Russland zurückdrängen?

Ist denn vorstellbar, dass die ukrainischen Truppen die Russen entscheidend zurückdrängen?

Das glaube ich nicht. Die Ukraine hat wohl durch die Waffenlieferungen die Möglichkeit, die russischen Truppen im Süden des Landes abzuschneiden und auszuschalten. So können die für die Russen unverzichtbaren Brücken über den Fluss Dnipro durch Beschuss unbrauchbar gemacht und so die Versorgung unterbunden werden. Dadurch können gewisse Teile der russischen Armee eingeschlossen oder sogar vernichtet werden. Aber eine große Gegenoffensive der Ukraine auch auf russisches Gebiet sehe ich nicht.

Das Thema Verhandlungen wird in der deutschen Öffentlichkeit äußerst kontrovers diskutiert. Häufig wird im Zusammenhang mit Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine darüber gestritten, ob man mit Waffenlieferungen an die Ukraine den Krieg nur in die Länge zieht. Was denken Sie?

Ich bin erstaunt über die Naivität eines Teils der intellektuellen Szene und mancher Politiker in Deutschland, die offenbar glauben, dass Putin an den Verhandlungstisch kommen wird, wenn man ihn dazu auffordert. Das Gegenteil ist der Fall: Russland muss durch militärische Misserfolge zu Gesprächen mit der Ukraine gezwungen werden. Mit Waffenlieferungen aus dem Ausland beschleunigt man also einen Prozess, an dessen Ende Verhandlungen stehen. In Deutschland gibt es offenbar keine Kultur des militärisch-strategischen Denkens, deswegen werden diese aus Expertensicht absurden Forderungen nicht als falsch erkannt. Der Weg an den Verhandlungstisch führt einzig über militärische Erfolge der Ukraine, die Russland die Aussicht auf den großen Sieg nehmen.

Was denken Sie über den Anschlag auf Dugins Tochter, der möglicherweise ihm selbst galt? Eine russische Partisanengruppe hat sich dazu bekannt und ein Ende des Krieges gefordert.

Klar ist: Hinter diesem Anschlag steckt ein erhebliches Maß an Professionalität, das waren keine Dilettanten. Die Gruppe, die sich jetzt bekannt hat, ist zuvor nie in Erscheinung getreten. Der Rest ist Spekulation. Die Behauptungen des russischen FSB, man habe eine ukrainische Frau aus dem Asow-Regiment als Täterin identifiziert, sind wohl Propaganda.

Was ist für Sie nach sechs Monaten die Bilanz der deutschen Politik und auch des Bundeskanzlers in diesem Krieg?

Wir haben von Anfang an das Problem gehabt, von Russland energiepolitisch abhängig zu sein. Deswegen war es zunächst richtig, Zeit zu gewinnen und die Voraussetzungen zu schaffen, um die Abhängigkeit von Nord Stream 1 zu reduzieren. Ohne diese Zusammenhänge zu betrachten, wirkte Deutschland sehr zögerlich. Aber wir konnten nicht – sozusagen in Unterhose – zum Duell antreten. Wir stehen schließlich vor schweren Zeiten: In Folge des Krieges in der Ukraine ist der Höhepunkt des Wohlstandes in Deutschland und ganz Westeuropa wohl auf Jahrzehnte überschritten.

Das ist eine vergleichsweise wohlwollende Bewertung von Scholz’ Politik im Ukraine-Krieg.

Ich sprach gerade über den Beginn des Krieges. Man muss natürlich festhalten, dass der relativ forschen „Zeitenwende“-Rede, auch nachdem wir Zeit gewonnen hatten, zu wenig folgte. Gerade was die Lieferung schwerer Waffen anging, hätte ich mir von Scholz mehr Tempo und Führungskraft gewünscht. Es wirkte nach außen hin so, als verstecke sich Deutschland hinter einem Baum und luge hin und wieder hervor, um zu schauen, was die anderen Nationen so machen. Stattdessen hätten wir vorangehen müssen. Die Ukraine war im Mai gefährlich dicht daran, diesen Krieg zu verlieren, mit allen Konsequenzen. Und die deutsche Regierung musste zum Jagen getragen werden, wie man so schön sagt.

Die Globalisierung zurückbauen

Israelische und britische Militäranalytiker bezeichnen das sowjetische Boden-Luft-Abwehrsystem Buk M1 als die entscheidende Waffe, die den russischen Angriff stoppte. Sie wurde nicht aus dem Ausland geliefert. Leistet die Ukraine militärisch mehr aus eigener Kraft, als in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird?

Es ist sicherlich bisher entscheidend gewesen, dass die russische Armee es nicht geschafft hat, eine uneingeschränkte Lufthoheit zu erreichen und dabei hat diese Art von Luftabwehrsystemen eine große Rolle gespielt. Die Ukraine hat mit dem klugen Einsatz ihrer wenigen Waffensysteme die große Überlegenheit der Russen von ungefähr fünf zu eins, annähernd ausgeglichen. Ich glaube aber, dass die wesentlich avancierteren westlichen Waffen die größere Rolle gespielt haben. Die neuen Systeme, wie Mars, das Deutschland lieferte oder Himars aus den USA sind viel präziser als die Waffen der russischen Truppen, weshalb die Ukrainer schlicht häufiger treffen als die Russen, die aufgrund ihrer technologischen Rückständigkeit viel daneben schießen.

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Zur Person
Herfried Münkler wurde 1951 in Friedberg (Hessen) geboren und ist ein deutscher Politikwissenschaftler und emeritierter Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bekannt wurde Münkler durch seine Forschung zu Machiavelli und seine Werke über die neuen Kriege, die Weltkriege und das Buch „Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten“ (2005). Seine Bücher wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt.

Sie haben gesagt, dass Deutschland und Europa in Hinblick auf Putin und Russland vor dem Krieg blauäugig waren. Wir waren und sind wirtschaftlich abhängig von Russland – aber auch von China, das Taiwan offen mit der Annexion droht. Wiederholen wir gerade unsere Fehler?

Ich glaube, dass wir es derzeit nicht schaffen können, uns sowohl von der russischen als auch von der chinesischen Wirtschaft zu entkoppeln. Dennoch müssen wir auf lange Sicht unbedingt die Abhängigkeiten von China zurückführen, also die Globalisierung sequenziell zurückbauen. Das muss auf den politischen Merkzettel der Europäer.

Mitte August ist ein neues Buch des amerikanischen Historikers Hal Brands von der Johns-Hopkins-Universität, „A Dangerous Moment“, erschienen. Brands und Michael Beckley bezeichnen China als „peaking power“. Daraus, dass China ihrer Einschätzung nach seinen wirtschaftlichen Zenit erreicht hat, folgern die Wissenschaftler, dass es nun besonders gefährlich sei, weil man in einer späteren Konfrontation mit den USA schlechtere Karten hätte als jetzt. Was denken Sie darüber?

Sie spielen auf die sogenannte Thukydides-Falle an. Der US-Wissenschaftler Graham Allison bezeichnete so das Phänomen, dass es häufig zu einem Krieg kommt, wenn sich Machtverhältnisse im Frieden zu verschieben drohen. Dass eine Macht also einen Krieg braucht, um Verschiebungen zu konterkarieren, die sich später zu ihrer Unterlegenheit auswirken. Mit anderen Worten: Jetzt zuschlagen, bevor man zu schwach ist. Aber es ist schwer zu sagen, wer eher in der Falle sitzt. Ist es China oder sind es die USA, die sich Sorgen machen müssen, in Zukunft in der schwächeren Position zu sein. Generell möchte ich sagen: Wir sollten hier nicht mit Spekulationen zündeln. Die Lage im Konflikt um Taiwan ist sehr ernst. Ich finde, man sollte nicht anhand dürftiger Datenlagen auf Handlungsmuster schließen und einen Moment of Opportunity für China herbeireden.

Ohne zündeln zu wollen: Sie halten die nukleare Eskalation über den Taiwan-Konflikt für möglich?

Ich sehe die Situation in Taiwan wie ein Mikado-Spiel. Ein falsches Zucken kann eine Konfrontation auslösen, deswegen noch mal: Ich rufe zu äußerster Zurückhaltung auf. Aber dennoch glaube ich, dass Xi trotz des innenpolitischen Erfolgsdrucks, unter dem er steht, vorsichtig bleiben wird. Und auch die USA unter Biden sind wohl kaum auf eine Eskalation aus. Noch bin ich also zuversichtlich.

Immerhin haben die USA sich verpflichtet, Taiwan militärisch zur Seite zu stehen.

Haben sie nicht. Man könnte auf Grundlage des Budapester Memorandums argumentieren, dass die USA für die Unversehrbarkeit der ukrainischen Grenzen eine sehr viel höhere Verpflichtung haben als für die Taiwans.

Wie sollte der Westen auf Eskalation reagieren?

Wie könnte China weiter eskalieren, ohne Taiwan anzugreifen?

China könnte Einfluss auf Nordkorea nehmen und Kim Jong Un ermuntern, mit seinen Atomwaffen zu rasseln, ihn ein paar Raketen testen lassen oder ähnliches. Das ist für mich das wesentlich wahrscheinlichere Eskalationsrisiko als eine direkte Auseinandersetzung zwischen China und den USA. Ähnlich könnte es in Europa laufen, wo Russland neues Öl ins Feuer des Konflikts zwischen Serbien und Bosnien-Herzegowina oder dem Kosovo gießen könnte. Auch das ist wahrscheinlicher, als dass Putin die baltischen Staaten angreift. Ich will damit sagen: Der Westen muss auf diese Szenarien vorbereitet sein und wissen, wie man darauf reagieren will.

Und wie sollte reagiert werden?

Mit Standfestigkeit und Gelassenheit. Sich nicht in Handlungszwang hineintreiben lassen und dennoch rote Linien aufzeigen. Die Instrumente der Diplomatie und Absprache zwischen den Großmächten müssen nun mehr denn je genutzt werden.

Es fällt zunehmend schwer, gelassen zu bleiben.

Es hilft, sich die diplomatischen Vorgänge in Erinnerung zu rufen. Oft vergessen wir, dass es sie auch noch gibt und nehmen nur die andere Seite der Kommunikation war: Die Bespielung der Öffentlichkeit mit Erklärungen, Manövern und Bildern, die man nicht immer für bare Münze nehmen sollte. Das zu erkennen ist schwierig, weil man sinnvoller Weise nichts davon erfährt, was in den geheimen Kontakten zwischen Großmächten abgesprochen wird. Viele halten das öffentliche Säbelrasseln, die Show, für realistische Ankündigungen und ernste Drohungen. Auch wenn wir vorsichtig bleiben müssen, stehen wir nicht unmittelbar vor einer nuklearen Eskalation. Es wird mehr getan, um das zu verhindern, als wir manchmal glauben.