Leander Haußmann inszeniert wieder in Berlin. Nicht am Berliner Ensemble, nicht an der Volksbühne, aber am 1990 gegründeten inklusiven Rambazamba-Theater. Die Premierenatmosphäre in der kleinen Spielstätte in der Kulturbrauerei liegt irgendwo zwischen Berlinale und Familienfest, zwischen Kinoglamour und Berliner Eckkneipe: Das Publikum ist schick und lässig, der Regisseur begrüßt seine Getreuen, darunter Katharina Thalbach, Detlev Buck und Sven Regener, kümmert sich um die Karten, und das Team schwirrt herum, alle machen alles: Abenddienst, Mitspielen, Zugucken und vor allem hinterher: Feiern.
Man muss darauf ein bisschen eingehen, weil es die Stimmung ist, die diesen Abend trägt, etwas solider trägt als das dramaturgische Gerüst, mit dem der Hollywoodklassiker „Einer flog über das Kuckucksnest“ adaptiert wird. Das ist überhaupt kein Problem, sondern macht den herzerwärmenden Charme dieser Veranstaltung aus, nach der man mit kleinen hellen Glückshicksern im Herzen nach Hause geht, als Kritiker, der sich nicht vereinnahmen lässt, selbstverständlich ohne Premierenfeier. Selten war es so schwer, darauf zu verzichten.

Das Gute an der Wahl des Stoffes ist, dass ihn wohl fast jeder kennt. Miloš Formans Romanverfilmung nach Ken Kesey ist 1976 mit den Big Five, den Oscars in den fünf wichtigsten Kategorien, ausgezeichnet worden. Jack Nicholson spielt die Hauptrolle Randle McMurphy, Danny DeVito seinen Mitpatienten Martini und die vor wenigen Tagen gestorbenen Louise Fletcher die strenge Oberschwester Mildred Ratched.
Der gewalttätige Ganove Randle stellt sich verrückt, um statt im Knast lieber in einer Nervenheilanstalt seine Zeit abzusitzen, bringt dort mit seiner rebellischen Ruppigkeit die dumpfen, eingefahrenen Tagesabläufe durcheinander, sorgt bei den mit Medikamenten und Langeweile ruhig gehaltenen Patienten für gute Laune und Linderung und wird schließlich hart dafür bestraft. Auch wenn die Zustände und therapeutischen Methoden in den psychiatrischen Einrichtungen heute andere sind, hat die Grundfrage, die sich als Metapher auf die Gesellschaft beziehen lässt, unverändert Gültigkeit: Wer ist hier verrückt? Das System oder die Insassen?
Einen wichtigen Anteil an der erwähnten stimmungsvollen Feieratmosphäre, die sich während der Inszenierung ungebrochen fortsetzt, haben die beiden Musiker der Formation Gespenster, Amon Wendel und Phil Haußmann, Sohn des Regisseurs. Mit E-Gitarren, kleinem Schlagzeugset und Klavier spielen sie ein cooles, weiches, sparsames Country- und Jukebox-Echo ein, brechen aber auch aus, wenn es dramatisch geboten ist, schließlich sind wir in einer Anstalt.
Der Charme der Unsicherheit
Das Publikum wird mit Besucherausweisen ausgestattet und freundlich vom Stationsarzt eingewiesen, der die Türen abschließt und prüft: Bitte keine lauten Geräusche und keine Handyblitze, man könne für die Insassen nicht garantieren. Außerdem rekapituliert er die gültigen Sprachregelungen und wirft mit Triggerwarnungen um sich, ein Gruß an die spitzen Finger der politischen Korrektheit, die den oben erwähnten gesellschaftlichen Grundkonflikt eben oft nur überdeckt und die Distanz zwischen „normal“ und „verrückt“ eher noch erhöht.
Gespielt wird dieser Arzt von dem langjährigen Haußmann-Wegbegleiter Norbert Stöß, der kurz vor der Premiere für Matthias Mosbach eingesprungen ist. Denn auch hier hat Corona die Premiere fast vereitelt und die Wackeligkeit des Abends sicher noch erhöht, was für die Beteiligten sichtlich nervenaufreibend war, aber, wie oben beschrieben, den Charme eher noch steigert. Ebenso wie ein Fehlalarm bei der Premiere, der Chaos und Unsicherheit so herrlich verstärkte, dass man vielleicht darüber nachdenken sollte, ob man ihn beibehält bei den nächsten Aufführungen. Oder war das eh inszeniert?
Im Fall von Norbert Stöß tut die Verpeiltheit schon mal gar keinen Abbruch, weil der Arzt natürlich kein Arzt ist, sondern ebenfalls Patient und unter der Fuchtel der Oberschwester steht, wie jeder einzelne in diesem Raum – bis in die letzte Reihe. Denn die Dominanz von Franziska Kleinert, sekundiert und in Schach gehalten von der etwas freundlicheren Azubi-Schwester (Nele Winkler), rührt an ganz tiefe Angstglutkerne – und wehe, einer sagt nicht, wie er sich im Innersten fühlt, sobald er das Kuscheleinhorn als therapeutisches Sprechkissen gereicht bekommt.
Die Karre des Zuhälters
Erstaunlich locker und fast schon routiniert gehen die von Dirk Nadler, Amil Merickan und Sebastian Urbanski gespielten Patienten mit diesem fulminanten Despotismus um; Christian Behrend steht als Chief Bromden, der „taubstumme Indianerhäuptling“ (beides soll man eigentlich nicht mehr sagen) wie ein Fels in der Brandung, fegt so stoisch wie unsystematisch den Raum und bringt McMurphy am Ende mit großer Zärtlichkeit und Ruhe um, indem er ihn mit einem widerspenstigen Tuch bedeckt und sich auch nicht ablenken lässt, als der tote McMurphy, gespielt von dem Spotlight-Genießer, Breakdancer und Heartbreaker Jonas Sippel, noch einmal husten muss.
Ausgebrochen wird auch, vielleicht nur im Traum, den wir zusammen mit dem Ensemble auf der Leinwand sehen. Als Haußmann-Stummfilmkomödie, mit schönen Auftritten von Detlev Buck als Junkie und Polizist sowie Haußmann selbst als Zuhälter: Die Insassen verkaufen den Inhalt des Medizinschrankes an Drogendealer, kleiden sich neu ein, sammeln Prostituierte ein und klauen dem Zuhälter die Karre, in der sie ein paar Waffen finden und rumqualmen, bis alles im Nebel verschwindet. Ein Jungstraum aus vergangenen Tagen, Haußmann bleibt sich treu. Und hat viele neue Freunde gefunden.



