Interview

Matthias Lilienthal: „Es könnte sein, dass die tolle Phase von Berlin durch ist“

Der Kulturmanager Matthias Lilienthal verschafft mit „Performing Exiles“ den migrantischen Kulturszenen Berlins ein interdisziplinäres Festival mit Party-Vibes.

Hat für ein überschaubares Festival eine Riesenhütte am Hacken: Matthias Lilienthal im Haus der Berliner Festspiele
Hat für ein überschaubares Festival eine Riesenhütte am Hacken: Matthias Lilienthal im Haus der Berliner FestspieleBerliner Zeitung/Benjamin Pritzkuleit

Das war einer der schönsten Verhörer der Nachwendetheatergeschichte, als ich ganz kurz erstarrte, weil ich dachte, dass Matthias Lilienthal nach seinem Weggang als Intendant der HAU-Theater 2012 die Richard-Wagner-Festspiele auf dem Grünen Hügel übernehmen würde. Kein ganz unverlockender Gedanke, wenn man bedenkt, dass seine künstlerischen Kompagnons Frank Castorf und Christoph Schlingensief durchaus tonangebende Inszenierungen für diese mir doch einigermaßen ferne und fremde Welt geschaffen hatten. Aber nein, er gehe nicht nach Bayreuth, sondern nach Beirut, wo er ein Jahr lang mit jungen libanesischen Künstlern arbeitete und haltbare Kontakte knüpfte. Inzwischen sind viele dieser Leute den dortigen miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen entflohen und in Berlin gelandet, wo sich durch die so vielfältigen Wirtschaftskrisen und politischen Konflikte in aller Welt vielfältige Communitys angesammelt haben, deren kulturelles Potenzial Lilienthal nun mit dem neuen Festival „Performing Artists“ unter dem Dach der Berliner Festspiele heben will. Wir trafen ihn kurz vorher zum Gespräch.

Herr Lilienthal, es gab schon einige international ausgerichtete Festivals unter dem Dach der Berliner Festspiele, die sich nicht sehr lang halten konnten. Wollen Sie mit Performing Exiles die Nachfolge von Spielzeiteuropa und Foreign Affairs antreten? Und was wollen Sie anders machen?

Das Festival gibt diasporischen Künstler:innen die Möglichkeiten der großen repräsentativen Institution. Es ist ein vergleichsweise überschaubares Festival, was ich jetzt mache, bei dem das Budget im Wesentlichen von den Berliner Festspielen, aus Lottomitteln, von der Kulturstiftung des Bundes, von der Bundeszentrale für politische Bildung und von der Allianz Foundation kommt. Die Idee kam mir, als ich das Libanon-Festival in Frankfurt am Main gemacht habe. Damals hat der Künstler Rabih Mroué mir beschrieben, dass er sich inzwischen in seinem Heimatland Libanon wie im Exil fühlt, weil es ihm fremd geworden ist. Eigentlich arbeitet inzwischen die gesamte kulturelle Szene von Beirut in Berlin, zumindest die über Dreißigjährigen. Es geht dabei gar nicht zentral um politische Verfolgung, aber die Lebenswirklichkeit dort macht das Arbeiten unmöglich. Es mangelt an allem, auch an Lebensmitteln, und dann fällt ständig der Strom aus –  kein Licht auf der Probebühne und keine Klimaanlage. Das bewegt die Leute, nach Berlin zu gehen.

Warum nach Berlin? So billig ist es doch gar nicht mehr.

Es könnte sein, dass diese Phase jetzt durch ist. Im Moment sind Athen und Lissabon die deutlich billigeren Städte. Aber dennoch haben sich in Berlin Communitys gebildet, von denen ich teilweise erst durch die Recherchen für das Festival erfahren habe. Dorothee Wenner von der Berlinale hat mich mit in Berlin lebenden Filmemacher:innen aus Südafrika bekannt gemacht, von denen gibt es eine starke Szene hier, das war mir nicht klar. Wir sind also noch reicher an migrantischen Communitys, als man denkt. Wir wollen Berlins verborgenen Szenen zu Sichtbarkeit verhelfen.

Laden Sie nur fertige Projekte ein?

Nicht nur. Es gibt vier eigene Produktionen des Festivals: „Exile Promenade“, den performativen Spaziergang durch Berlin von der Russin Ada Mukhina, und „Ancestral Visions of the Future/Pageantry of Wailing“ von dem Filmemacher Lemohang Jeremiah Mosese aus Lesotho, der mystische basothische und postkoloniale Traditionen verbindet. Der senegalesische Künstler Alibeta reinszeniert die „Pinguin Bar“, das war 1949 ein Treffpunkt der Schwarzen Gemeinschaft in Berlin, ein Ort für Widerstand, Aktivismus und Jazz. Das sind Leute, die in diesen Dimensionen im Performancebereich zum ersten Mal arbeiten. Und schließlich „Hartaqat – Häresien“ von dem schon lange in Berlin lebenden libanesischen Performanceduo Lina Majdalanie und Rabih Mroué, das zum ersten Mal fremde Texte inszeniert.

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Benjamin Pritzkuleit
Kulturmanager
Matthias Lilienthal wurde 1959 in West-Berlin geboren, brach nach zehn Jahren sein Studium an der FU ab und arbeitete zunächst als Journalist, fand dann als Regieassistent ans Theater, wurde Dramaturg unter Frank Baumbauer in Basel, bis Frank Castorf ihn 1991 an die Volksbühne holte, wo er bis 1998 blieb.

Nach verschiedenen Stationen u.a. als Leiter des Festivals Theater der Welt, wurde er 2003 zum Gründungsintendanten der HAU-Theater berufen, die er zehn Jahre lang leitete. 2015–2020 war er Intendant der Münchner Kammerspiele.

Seit dieser Spielzeit leitet er das von ihm selbst gegründete Festival Performing Exiles bei den Berliner Festspielen. 

Klingt kleinteilig.

Wir versuchen, Perspektiven von verschiedenen Communitys abzubilden und es wäre ein großer Erfolg für das Festival, wenn wir zu den jeweiligen Inszenierungen immer auch einige Muttersprachler:innen gewinnen würden, dafür bieten wir neben den Sprachen auch sehr unterschiedliche thematische Anknüpfungspunkte.

Leute, die kein Englisch können, haben allerdings schlechte Karten. Warum verwendet Performing Exiles nur englische und keine deutschen Übertitel?

Wir hätten gern zusätzlich auch eine deutschsprachige Übertitelung angeboten. Aber das war schwer zu realisieren mit unseren begrenzten Finanzen. Weil Englisch die Sprache ist, die die meisten sprechen, die hier im Exil leben, haben wir uns für Englisch als Referenzsprache entschieden. Dafür bitte ich um Verständnis.

Wen sehen Sie als Publikum? Richtet es sich eher an die Szene selbst?

Nein, es ist ein Festival für die Berliner:innen. Wir sind hier im äußersten Westen der Stadt, normalerweise werden in dieser Riesenhütte große nationale und internationale Produktionen gezeigt. Mit Performing Exiles haben wir experimentelle Produktionen am Start, die eine gewisse Neugier und Offenheit für Neues erfordern und die für die einen vielleicht einen neuen Horizont öffnen und für die anderen vielleicht sogar das erste Mal die eigene Perspektive in diesem Haus abbilden. Jeder ist willkommen, und es gibt für jeden in dieser Stadt etwas zu verpassen.

Es ist schlau, sich zu bescheiden und auf das zu besinnen, was schon da ist. Das spart Reisekosten und Kohlendioxid. Aber es hat auch eine ethische Komponente: Ist Berlin als Exilort nicht Nutznießer der Konflikte und Krisen in dieser Welt? Und da viele Konflikte und Krisen Folgen des Kolonialismus sind, profitieren wir jetzt noch einmal davon.

Da ist sehr viel Wahres dran. Aber nicht nur die Berliner profitieren, sondern auch die hier angekommenen Künstler, denen wir finanzielle Mittel und Auftrittsmöglichkeiten verschaffen. Wir sind ein Land und eine Stadt, wohin es migrantische Künstler:innen zieht, und wenn es so etwas wie eine integrierte Gesellschaft geben soll, heißt das, dass wir ihnen einen Zugang zu den Förderungsmöglichkeiten ebnen müssen. Das tun wir mit diesem Festival, es ist ein erster ganz materialistischer und praktischer Schritt der Sichtbarmachung. Wenn das gelingt, bin ich glücklich.

Gibt es den Wunsch oder die Befürchtung, dass Künstler die Gelegenheit dieses Festivals nutzen, um politische Positionen zu markieren? Bei der Documenta ist das eher schiefgegangen, da hat eine Antisemitismusdebatte der Kunst den Rang abgelaufen.

Nein, solche Sorgen mache ich mir nicht.

Hat der unter anderem von der Initiative Weltoffenheit kritisierte BDS-Beschluss des Bundestags eine Auswirkung auf Ihre Arbeit?

Grundsätzlich begrüße ich es, wenn Kunst politisch relevant ist und Verantwortung übernimmt. Das gilt zum Beispiel für „Memory Theatre“ von dem ukrainischen Künstler Maksym Rokmaniko, der mit Eyal Weizman und Forensic Architecture unter Verwendung von kriminalistischen Methoden und virtuosen digitalen Visualisierungen die Bombardierung des Theaters in Mariupol analysiert hat. Durch diese Lecture-Performance, die völlig jenseits aller ideologischen Schemata operiert, wird man auch dazu gebracht, anders über die Rolle von Theater nachzudenken. Abgesehen von der Katastrophe und dem Verbrechen – dem ging ein vieldeutiger symbolischer Akt der Umnutzung des Theaters als Schutzort für Geflüchtete voraus, indem zum Beispiel der Vorhang für Bettdecken zerschnitten und die Bestuhlung zum Heizen verfeuert wurde.

Das Programm weist Positionen von ukrainischen und russischen Künstlern auf. Ist das ein Problem?

Erst einmal freue ich mich, dass Serhij Zhadan mit seiner Band Zhadan i Sobaky am Eröffnungstag spielt. Ich arbeite seit zweieinhalb Jahren an dem Festival, also schon lange vor dem 24. Februar 2022, an dem sich der Konflikt so deutlich verschärfte.

Gibt es die Hoffnung, dass das Festival einen Rahmen für einen Dialog zwischen Konfliktgegnern bilden könnte?

Ich verstehe die Beweggründe, aus denen Ukrainer jetzt russische Kultur boykottieren. Diese Kultur – etwa ein Dostojewski mit seinem Panslawismus – hat etwas zu tun mit dem, was heute passiert. Das lässt sich ebenso wenig verleugnen wie die Anteile der deutschen Geisteskultur, die den Faschismus befördert haben. Frieden schaffen durch Kunst? Das ist zu viel gehofft.

Das interdisziplinäre Festival Performing Exiles beginnt am 15. Juni u.a. mit drei Uraufführungen und einem Konzert der Charkiwer Ska-Punk-Band Zhadan i Sobaki des als Schriftsteller bekannten Musikers Serhij Zhadan. Zehn Tage lang bis zum 25. Juni gibt es Performances, Lectures, Talks, Konzerte, Partys. Das Programm und Tickets gibt unter berlinerfestspiele.de

Unser Interviewpartner legt Wert auf die Verwendung des Doppelpunkts zur Sichtbarmachung aller Geschlechter.