In dem 7000-Seelen-Städtchen, in dem ich aufgewachsen bin, kennt zwar, entgegen vieler Klischees, auch nicht jeder jeden. Das wäre auch ziemlich absurd. Aber man hat schon einen soliden Überblick darüber, wer so in der selben Straße haust. Und oft wurde getuschelt: der neueste Tratsch und Klatsch über die Nachbarscharf. Teilweise Dinge, die man eigentlich nur wissen kann, wenn man nachts heimlich durch die Rollladenschlitze lugt.
Bei meinem Umzug nach Berlin, vor zehn Jahren, war ich erst erleichtert, all dies hinter mir zu lassen. Auch den sozialen Druck, der von dieser Quasi-Überwachung ausgeht. Dann war ich aber schnell auch irritiert in Berlin: Als ich mich in dem Altbau in Neukölln, wo ich bis heute wohne, bei den neuen Nachbar:innen vorstellen wollte, machte kein einziger auf. Ich habe wohlgemerkt an 32 Wohnungen im Haus geklingelt.
Igel-Modus versus Klopfen an die Wand
Heute kann ich die Leute im Haus verstehen: Wenn man nicht weiß, wer da gerade klingelt, stellt man sich lieber so als wär man gar nicht da (Igel-Modus). Im besten Fall will nur jemand Agavendicksaft leihen. Wenn man Pech hat, will ein Kurier Päckchen fürs halbe Haus abgeben und einem nebenbei noch einen neuen Handyvertrag andrehen. Im schlimmsten Fall will einem ein Irrer die Wohnung zerlegen. Also besser: Igel-Modus.
Kürzlich hab ich durch einen gemeinsamen Freund (die beiden haben sich auf einer Party im SchwuZ getroffen) den Mann kennengelernt, dessen Wohnzimmer direkt an meines grenzt. Wir leben nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Aber da sich seine Wohnung im Vorderhaus befindet und meine im Seitenflügel, nutzen wir getrennte Treppenhäuser. Eigentlich, so hat er mir gestanden, wollte er mir eh längst einen Brief schreiben. Weil er meine Musik, die ich wohl manchmal lauter aufdrehe, so cool findet. Ich schwöre, das hat er gesagt! Ursprünglich hatte ich etwas Unbehagen, ihn zu treffen: Was, wenn man sich so richtig ätzend findet als Nachbarn?


