Martynas Levickis empfängt uns in seiner Berliner Wohnung auf Zeit. Sie ist so schön, wie es nur die Altbauwohnungen im Bayerischen Viertel sind. Keine schlechte Basis für ein Probejahr in der Stadt. Wenn Berlin den Test besteht, zieht Levickis ganz hierher. Im Moment irritiert ihn manchmal noch das, was er als den „grenzenlosen Ausdruckswillen“ der Berliner bezeichnet. Sonst geht es vielleicht zurück nach Vilnius, der Hauptstadt seines Heimatlandes Litauen. London ist auch eine Option, er nennt die Stadt seine zweite Heimat, hier hat er an der Royal Academy of Music studiert, und gerade hat er von seiner Alma Mater eine Gastprofessur erhalten. Dem Akkordeonisten Martynas Levickis steht die Welt offen.
Er ist 33, mit vielen Preisen gekrönt, Sieger in zahlreichen Wettbewerben, einer der weltweit erfolgreichsten Akkordeonisten. Bis August spielt er ein Konzert nach dem anderen bei den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern, er war beim Heidelberger Frühling zu erleben, vor ein paar Monaten hat er die CD „Autograph“ herausgebracht, und am 5. August tritt er zusammen mit dem Bundesjugendorchester im Konzerthaus Berlin auf. Wie er uns hier in seinem Wohnzimmer gegenübersitzt, bringt er es fertig, Stolz auszustrahlen und gleichzeitig bescheiden zu wirken.
Sein Instrument steht neben ihm auf dem Boden. Man darf es sich nicht wie ein Fischerklavier vorstellen. Es ist groß, prächtig, schwarzglänzend. Als Levickis den Balg auseinanderzieht, muss ich an einen Pfau denken, der ein Rad schlägt. Dann schneidet er einen vielfingrigen Kuchen auf, der aussieht wie ein futuristisches Bauwerk, dabei handelt es sich um litauischen Baumkuchen, Šakotis. Seine Verwandten haben ihn mitgebracht, als sie von Litauen über die Ostsee bis nach Vorpommern fuhren, um ihn spielen zu hören.
Mit drei Jahren sah Levickis jemanden im Fernsehen Klavier spielen
Wenn man Martynas Levickis nach seinen Anfängen fragt, wird einem klar, dass es etwas Besonderes ist, dass er diese Karriere gemacht hat. Er war drei, als er im Fernsehen jemanden sah, der Klavier spielte. Von da an spielte er selbst. Auf dem Tisch, auf imaginären Tasten, zu Hause gab es kein Klavier. Er hatte aber das Glück, dass seine Eltern das, was ihr kleiner Sohn da machte, nicht als lustige Spielerei abtaten. Sie hätten ein Klavier für ihn gesucht, sagt Levickis, aber sie hätten es sich nicht leisten können. Das war Anfang der 90er-Jahre, Litauen war gerade unabhängig geworden, die ökonomische Lage war schlecht. Sein Patenonkel hat ihm dann ein Kinderakkordeon besorgt, auf dem er sich selbst litauische Volkslieder beibrachte. Er erzählt von dem Sommerhaus im Wald, er im orangefarbenem Cape, mit Zylinder und dem Akkordeon. „Das waren gute Tage.“
Die Familie fand eine Lehrerin für ihn, da war er acht. Sie wohnte in einer anderen Stadt. Die Mutter zog mit ihrem Sohn dorthin. Jetzt begannen die Schwierigkeiten, die Lehrerin korrigierte die ganzen Fehler, die er sich beigebracht hatte. Wäre er nicht so ein gehorsames Kind gewesen, sagt er, hätte er einfach aufgehört.

Dann trat er zum ersten Mal bei einem Konzert auf und merkte: „Ich liebe es auf der Bühne.“ Es folgten Wettbewerbe und Konzerte. In den Schulferien gingen alle baden, er ging zu seiner Lehrerin. Er übte zwölf Stunden am Tag, wechselte in der 9. Klasse auf eine Musikschule, hörte nicht auf den Lehrer, der ihm riet, er solle nicht immer nur üben. „Ich bin von der Schule gegangen und wusste nicht viel von Sprachen oder Geschichte.“ Jetzt bedauert er das.
Mit 20 Pfund in der Tasche flog Levickis nach Chicago
Der Ruf seines Instruments ist Levickis bewusst. „Quetschkommode, Schifferklavier, die entsprechenden Begriffe gibt es auch auf Litauisch.“ Ihn hat das nicht frustriert, sondern angespornt. „Ich wollte etwas beweisen.“ Man könnte es seine Mission nennen, dass er das Akkordeon von dem Ruf befreien will, ein primitives Instrument zu sein, gut für Volkslieder, aber nicht für Chopin oder Bach. Am Ziel ist er längst nicht, das erfährt er immer wieder. „Es gibt Leute, die etwas dagegen haben, wenn ich ein Stück spiele, das für Klavier geschrieben wurde.“ Manche in der Welt der klassischen Musik zeigen ihm die kalte Schulter, anfangs wenigstens. Dass er jüngst den Opus Klassik (der Preis für klassische Musik in Deutschland, Nachfolger des Echo Klassik) erhielt und neben der Geigerin Anne-Sophie Mutter und dem Pianisten Víkingur Ólafsson zum Instrumentalisten des Jahres gekürt wurde, ist ein Triumph.
Sein Ziel war Vilnius, die Academy of Music dort, aber dann bewarb er sich bei der Royal Academy of Music in London, und wurde aufgenommen. „Meine Mutter saß zu Hause und weinte, denn wir hatten kein Geld.“ Das bekam er dann von „guten Leuten“ aus Vilnius. Geld für sechs Monate.
Andere hätten sich einen Job gesucht, Levickis konzentrierte sich auf die Ausbildung. „Ich habe sehr arm gelebt“, sagt er. Das Geld war nach dem halben Jahr trotzdem weg. Mit 20 Pfund in der Tasche flog er nach Chicago, nahm an Wettbewerben teil, gewann. Mit den Preisgeldern konnte er in London weiter studieren.
Levickis gewann die Show „Lithuania Got Talent“
Noch während des Studiums, im Jahr 2010, nahm er an der Fernsehshow „Lithuania Got Talent“ teil und gewann. „Ich habe eine Show gemacht, damit sie sich in das Instrument verlieben.“ In London hatte er nichts davon erzählt, es war ihm peinlich. Seine Kommilitonen und Professoren hörten trotzdem davon. Ihre Reaktion überraschte ihn: „Sie haben vor mir den Hut gezogen.“
Dass Martynas Levickis keine Berührungsängste hat, zeigt auch die Bandbreite seines Repertoires. Er spielt nicht nur klassische Musik, sondern auch Piazzolla, französische Musettes, Minimal Music oder Lady Gaga. Und immer noch litauische Volkslieder. Es ist gar nicht sein Ziel, ganz in der Welt der klassischen Musik aufzugehen. „Ich bin irgendwie ein Nomade, und das will ich nicht verlieren.“

Das Akkordeon, das er in London spielte, hat er noch, er tritt auch noch manchmal damit auf, aber das große, glänzende Instrument, das neben ihm auf dem Fischgrätparkett steht, ist jetzt sein eigentliches. Es wurde eigens für ihn angefertigt, in Castelfidardo, dem italienischen Städtchen in den Marken, das für seine Akkordeonproduktion bekannt ist. 30.000 Euro hat es gekostet, das war 2015. Wenn Martynas Levickis über dieses Akkordeon spricht, bekommt man das Gefühl, es habe einen eigenen Willen. Jedenfalls folgt es nicht nur seinem Meister. Levickis nennt die Beziehung kompliziert, sein Instrument kapriziös.
Levickis’ Ziel: die Philharmonie in Berlin
Dann legt er sich die Lederriemen über die Schultern, zieht das Akkordeon an sich, und von all dem ist nichts zu spüren. Er spielt ein Stück von Franck Angelis, „Impasse“, das dieser eigens für das Akkordeon geschrieben hat, davon gibt es nicht viele. Levickis’ Konzentration ist überwältigend, manchmal schließt er die Augen, sein ganzer Körper fliegt zusammen mit der Musik.
Jetzt gibt er einen tiefen Einblick in sein Leben als Musiker, spricht von den Tagen, an denen er aufwacht und sich fast fürchtet: Schon wieder etwas Neues lernen, etwas neu arrangieren. „Aber tief drinnen bin ich dieser Mensch.“ Deshalb sei er auch in Berlin, obwohl er in Vilnius ein so angenehmes Leben haben könnte. „Ich will mich im Unbekannten ausprobieren.“





