Im Sommer 2022 hat AŸA acht Tage und sieben Nächte lang das Studio in Kreuzberg nicht verlassen. Das OOTE (Out Of Time Embassy) ist ein magischer Ort. Hier wachsen Rote Bete, Karotten und Kräuter im Garten. Drinnen fühlt es sich nach einem warmherzigen Wohnzimmer an. Das Licht ist durch die vielen Bäume vor dem Fenster leicht dämmrig, fast wie in einem Wald. Auf dem Boden liegt ein roter orientalischer Teppich, auf den sich AŸA gerne kuschelt, auch in jenen Sommernächten schon und nun auch, als wir sie hier treffen. Daneben: Congas und andere Perkussionsinstrumente. Synthesizer. Und ein charmant verstimmtes Holzklavier. AŸA setzt sich daran. Die Luft duftet nach Palo Santo.
AŸA greift Akkorde. Zu Beginn klingt ihre Stimme sanft, fast zögerlich. Während kaum einer Minute nimmt sie gewaltig Fahrt auf. Etwas aus ihr bricht sich Bahn, dass man nur staunen kann. Diese zierliche Frau, die oft so leise spricht, singt, als ginge es ums Überleben. Und gewissermaßen geht es das ja auch. Schon die vier Tracks auf AŸAs neuer EP „Used“ speisen sich aus ihrer traumatischen Vergangenheit. AŸA, heute 30 Jahre alt, hat sie in erbauliche Songs verwandelt. Selbstbewusst benennt sie auch das Genre, das sie selbst erfunden hat: Arabnb. Eingängiger, anschlussfähiger R&B (sie verweist auf Millennium-Künstler wie TLC und Sisqo), der aber auch ihre jemenitischen und marokkanischen Wurzeln nicht verleugnet: „Ich bin aufgewachsen mit Usher, aber auch mit Umm Kulthum.“ Dahinter verbirgt sich die auch als Om Kalsoum bekannte ägyptische Gesangsikone. Mit ihrer empowernden Musik findet AŸA selbst gerade viele Fans, auch in der Queer-Community.

Aber der Reihe nach. „Bevor ich nach Berlin zog“, sagt AŸA, „hatte ich schlimme Depressionen.“ Am 1. Januar 2016 kam sie hier in Wilmersdorf an. Überall Feuerwerk. Und für AŸA ein besonderer Neustart. 2015 hatte sie es in Israel zu einiger Prominenz gebracht durch die Talentshow „Rising Star“. Vor Millionenpublikum gelangte AŸA (damals noch unter ihrem Geburtsnamen Avia Shoshani) ins Finale. Plötzlich wurde sie von Paparazzi heimgesucht. Geld brachte das erst mal nicht, sie musste trotzdem weiter kellnern. „Ich wusste nicht mehr, wer ich bin und wo ich stehe“, sagt AŸA. „Ich fühlte mich ausgestellt. Ich wollte nicht mehr leben.“ Um einen solch drastischen Satz nachvollziehen zu können, muss man AŸAs Lebensgeschichte kennen – die sie einem auch erzählt, wenn man sich Zeit nimmt und ihr zuhört.
Alles beginnt in Arad, in der israelischen Wüste. Avia Shoshani ist zwei Monate alt und schon geplagt von Asthma. Deshalb zieht die Mutter, frisch geschieden vom gewalttätigen Vater, wie AŸA erzählt, aus einem Vorort Tel-Avivs mit Avia und ihren vier älteren Geschwistern raus ins trockene Klima der Wüste. Gut für Asthma-Patienten.
Die Mutter putzt Hotelbetten, kommt oft spät nach Hause. Deshalb geht Shoshani mit der Musiklehrerin nachmittags zu einem Chor. „Sie bat mich, lauter zu singen“, erinnert sich AŸA. „Da war ich fünf. Die Lehrerin meinte: ‚Avia, du bist eine Sängerin! Wenn du singst, dann bist du du selbst.‘ Aber ich wusste damit erst mal nichts anzufangen.“ Doch die Lehrerin lässt nicht locker, bringt ihr Querflöte und etwas Cello bei – und schickt sie auf Gesangswettbewerbe, wo Shoshani etwa Whitney Houstons (oder im Grunde: Dolly Partons) „I Will Always Love You“ covert und Preise einheimst. Ein wenig Glamour.
Dagegen standen die Wochenenden beim übergriffigen Vater, wie AŸA erzählt. Wenn sie heute von ihm spricht, fällt es ihr sichtlich schwer. Er muss ihr sehr wehgetan haben. Aber sie erzählt auch mit einem Lächeln davon, wie er, ein Taxifahrer aus jüdisch-arabischer Familie, stets am Steuer phantastisch sang – und ihr die arabischen Sounds nahebrachte, deren Spurenelemente sich nun auch auf ihrer „Used“-EP finden.

Mit der Musik ging es für Shoshani dann mit 17 Jahren ausgerechnet beim israelischen Militär so richtig voran, wo sie im Musikcorps spielte. „Wir traten zwei Jahre lang jeden Tag auf. Manchmal mehrmals pro Tag. Vor Soldaten und vor Familien, deren Wohnorte attackiert wurden, etwa in Ghaza. Es hat mich traumatisiert. Manchmal traten wir auf und mussten dann rasch vor den Bomben fliehen. Man sieht schlimme Dinge. Blut und verletzte Menschen.“ Andererseits hat Shoshani dort auch viel gelernt: „Ich kann jederzeit auftreten“, sagt sie, „auch wenn kein Mikro da ist. Auch Wind und Bomben hielten mich nicht ab.“ Das Beste aber war für sie sowieso das, was sie den „Fun-Part“ nennt: „Wir haben viel Zeit im Probenraum verbracht und hatten Zugang zu verrückten Instrumenten.“ In ihrer Freizeit sang sie mit derselben Militär-Band also eigene Pop-Rock-Stücke.

So führte eins zum anderen. Bis in die Casting-Show im TV vor Millionenpublikum. Aber auch zu einem zwielichtigen Künstlerbetreuer, wie AŸA erzählt: „Ein Typ von einem israelischen Label hat mich gebeten, bis spät nachts im Studio zu bleiben. Irgendwann hat er mich angefasst. Da war für mich klar: Hier ziehe ich den Schlussstrich. Immer wieder traf ich auf Männer, die mich verletzen.“ Deshalb schließlich auch die Flucht nach Berlin. „Mir wurde klar: Der Ort, wo ich herkomme, ist nicht die einzige Option. Berlin hat mir das vor Augen geführt.“
Sie hat viele Freunde, darunter viele Queers gefunden, als deren Seelenverwandte und Alliierte sie sich sieht: „Als ich nach Berlin kam, habe ich mich erstmals richtig akzeptiert gefühlt. Ich habe viele queere Menschen kennengelernt und gemerkt, dass wir das Trauma teilen. Viele rannten wie ich aus ihrer alten Umgebung fort, um in Berlin neu anzufangen. Ich möchte mitkämpfen für sie.“ In Berlin entstand dann auch die „Used“-EP im Sommer 2022. Alle Musiker kamen im OOTE-Studio zusammen. Mit dabei war auch AŸAs beste Freundin, die Songwriterin Kristine Bogan – die übrigens auch mitschrieb am Song „Super Shy“ der südkoreanischen Girlgroup NewJeans, der gerade viral geht; und zu dessen Fans sogar The Weeknd gehört.
Die vier Tracks auf AŸAs grandioser EP beginnen mit einem unfreiwilligen Anhalten, wie bei einem Roadtrip („Sidewalk“). „Ich hasse diesen Zustand“, sagt AŸA, „Menschen, die einen nicht weitermachen lassen wollen.“ Ist es nicht manchmal gut innezuhalten? „Ja, natürlich“, erwidert sie. „Aber dann, wenn ich es will!“ So etwas auszusprechen – dafür fand sie auch die Kraft in ihren Therapiestunden. Psychoanalyse, dreimal pro Woche. Hier arbeitet sie auch die Übergriffe durch den Vater auf. Auch darum geht es in einem Song („Therapy“), mit arabisch arrangierten Streichern zum Tränenausschütten, aber vorher kommt noch „Back Up“: ein In-die-Schranken-Weisen von Menschen, die einem viel zu nahe treten. „Wish You Left Me“ ist dann das Finale. „Man sagt oft, dass man aus allem etwas lernt. Aber ich wünschte, manches wäre mir erspart geblieben. Weniger Trauma. Weniger sexuelle Belästigung. Weniger Missbrauch. Dann hätte ich weniger Narben.“
Sie singt ihre Lieder und schöpft Hoffnung für sich und für uns gleich mit. Einfache Dinge geben ihr Kraft, wie das Rascheln der Blätter im Wind und der Duft des Sommers und vor allem liebe Menschen um sie herum. Und natürlich die Musik. „Wenn ich auf die Bühne steige“, sagt AŸA, „weiß ich nicht, was mit mir geschieht. Irgendwann öffne ich die Augen und weiß nicht mehr, was alles passiert ist. Aber die Leute jubeln, also kann es so schlecht nicht gewesen sein.“



