Pauł Sochacki kommt mit dem Rollkoffer in die Redaktion, er war gerade in Istanbul, dort soll die Zeitung Arts of the Working Class bei der im September stattfindenden Kunstmesse „Contemporary Istanbul“ vorgestellt werden. Er und Dalia Maini aus dem Redaktionsteam sprechen über die ungewöhnliche Verbindung von Kunst und Armut.
Herr Sochacki, Sie waren vor fünf Jahren einer der Gründer von Arts of the Working Class. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Pauł Sochacki: Ich hatte damals schon ein paar Jahre in Berlin gelebt und war Zeuge der Veränderungen in der Kunstszene geworden, davon, wie dort Ungleichheit und Wettbewerb wuchsen, und auch davon, wie sich die Obdachlosigkeit ausgebreitet hatte. Wir wollten mit einem Projekt experimentieren, das das Ganze praktisch angeht. Sozusagen auf der materiellen, der physischen Ebene.
Als ich das erste Mal mit der Zeitung konfrontiert wurde, ich glaube, es war in der U-Bahn, war ich so überrascht davon, dass eine Kunstzeitung als Obdachlosenzeitung angeboten wird, dass ich sie sofort gekauft habe. Publikationen im Bereich Kunst sind ja eher Hochglanz. Ist dieser Kontrast etwas, mit dem Sie spielen?
Dalia Maini: Sie sprechen einen der fundamentalen Aspekte von Arts of the Working Class an. Schon als ich Praktikantin dort war, habe ich das Heft als Verbindung zweier Sphären empfunden, die einander normalerweise nicht berühren. Auf der einen Seite geht es ums Überleben. Es gibt zwar auch im Bereich der Kunst prekäre Lebensverhältnisse, aber die Kultur schließt auch Menschen aus, sie segregiert. Arts of the Working Class wirkt wie eine Brücke zwischen beiden Sphären und verändert auch die Umgebung, in der ein Kulturprodukt angetroffen werden kann. Also zum Beispiel in der U-Bahn statt in einem Buchladen oder in einer Kulturinstitution.

Vergangenes Jahr haben die Kuratoren der Documenta die Liste der beteiligten Künstlerinnen und Künstler in einem Obdachlosenmagazin veröffentlicht. Es gibt also auch andere, die diese Verbindung suchen. Hatten Sie Vorbilder?
Sochacki: Das Konzept Obdachlosenzeitung war damals bereits etabliert. In Berlin gab es sogar mehrere, was auch zeigt, wie viel Prekarisierung es in der Gesellschaft gibt. Kultur ist etwas, das man kommerzialisieren und als Mittel dafür nutzen kann, Menschen auszuschließen, man kann sie aber auch gemeinschaftlich nutzen. Wir wollen mit Arts of the Working Class der sehr dominanten Ökonomie des Ausschlusses etwas entgegensetzen. Das Beispiel Documenta ist gut, denn es gibt in der Kunstwelt ein großes Misstrauen gegenüber der Aufmerksamkeitsökonomie und der Kommerzialisierung.
Wie sind Sie auf den Titel gekommen?
Sochacki: Der Titel beinhaltet eigentlich diese ganzen Widersprüche, da steckt Klassenbewusstsein drin.
Die Zeitschrift erschien das erste Mal vor fünf Jahren, damals lag die Auflage bei 10.000. Wie ist es heute?
Sochacki: Jetzt liegen wir bei 63.000.
Oh, herzlichen Glückwunsch!
Sochacki: Das ist ein Zeichen für unsere wachsende Popularität, aber eben auch für das Anwachsen problematischer sozialer Situationen.
Gibt es Arts of the Working Class nur in Berlin?
Sochacki: Vor allem. 2000 Exemplare gehen nach Frankfurt.
Wer sind Ihre Autoren?
Maini: Wir fragen professionelle Autoren und etablierte Künstlerinnen, aber auch solche, die es werden wollen. Und dann fragen wir Leute, die weder das eine noch das andere sind, auch wenn das für die Redaktion viel Arbeit bedeutet. Aber es ist uns wichtig, auch marginalisierte Menschen und überhaupt alle Communities zu Wort kommen zu lassen, die es in Berlin gibt. Deshalb kommen in der Zeitung auch verschiedene Sprachen vor. Das soll eine Brücke sein für zum Beispiel die türkische Community. Manchmal sind fünf Sprachen in einer Ausgabe repräsentiert, manchmal acht. Auch unser Team ist vielsprachig. Und wir haben auch eine feste Anzahl von Seiten mit Texten in einfacher Sprache.
Sochacki: Es ist toll, wenn die Leute manche Artikel nicht verstehen, dann können sie mit Menschen mitfühlen, die ihre Sprache nicht verstehen.
Maini: Oder sie bitten jemanden, den Text für sie zu übersetzen.
Sochacki: In einem Feld, das so exklusiv ist, ermöglichen wir mit diesen verschiedenen Sprachen eine Art demokratischer Annäherung. In unserer jüngsten Ausgabe haben wir einen Bauarbeiter porträtiert, der gleichzeitig als Künstler arbeitet. Wir haben seine Arbeiten vorgestellt.
Wie kam das?
Sochacki: In Kreuzberg haben wir unseren Pick-up-Spot in einem Mehrgenerationenhaus, und er hat nach einer Verletzung, an die sich eine Zeit der Arbeitslosigkeit anschloss, ein Praktikum in dem Sozialzentrum dort gemacht. Dort hat er wieder angefangen zu zeichnen wie in seiner Jugend. Er ist in den 90er-Jahren nach Deutschland gekommen, hat dann sofort angefangen zu arbeiten und hatte nie mehr die Gelegenheit, sich künstlerisch zu betätigen.

Was ist in der kommenden Ausgabe zu lesen?
Maini: In der nächsten Ausgabe, die am 12. Juli erscheint, geht es um Verwandtschaft, die kulturellen Grundlagen für soziale Beziehungen und die Vermächtnisse überlieferter Beziehungen zur Umwelt und ihre Rituale, die eine lange Geschichte haben. Diese Praktiken werden immer wieder angegriffen und durch populistische und nationalistische Politik bedroht. Die Ausgabe 27 zum Thema Verwandtschaft ist Teil einer umfassenderen Reflexion über Organisationsformen, die dem destruktiven westlichen System entgegenwirken. Die redaktionelle Linie für das Jahr 2023 trägt den Titel „Burts of Solidarity“ und beinhaltet einen Blick auf Identitäten und Bewegungen, die Zeit und Arbeit in die Umstrukturierung des sozialen Miteinanders investieren. Die Ausgabe 26, mit der wir das fünfjährige Bestehen von AWC feierten, befasste sich mit der Organisationsform von Graswurzelorganisationen, die versuchen, soziale Gerechtigkeit durch die Umgestaltung von Institutionen von unten zu erreichen. Jede Ausgabe wird durch künstlerische Praktiken ergänzt, die das Thema erweitern und oft die institutionellen Umstände in Frage stellen, die Kunstwerke validieren und erst zu solchen machen. Jede Ausgabe soll auch ein Licht auf die durch den kapitalistischen Druck verursachten Brüche des Miteinanders werfen, denen wir ständig ausgesetzt sind.
Bezahlen Sie Ihre Autoren?
Sochacki: Wir bezahlen alle, die für uns arbeiten, aber es ist nicht so leicht, die Finanzierung nachhaltig zu sichern. Das Projekt ist zunächst durch die Unterstützung von Kunstinstitutionen möglich geworden, die einen großen Mehrwert in unserem solidarischen Vertriebsmodell für Kunst und Kultur sehen. Es gibt auch Spenden von Lesern und Unterstützern. Und vergangenes Jahr hat uns die Stadt Berlin finanziell unterstützt. Aber wir müssen ständig neue Quellen auftun, und wir haben auch schon ein paar Krisen hinter uns. Daran gewöhnt man sich.
Wer darf eigentlich zu Ihren Pick-up-Spots kommen und sagen, er möchte die Zeitung verkaufen?
Sochacki: Alle, die Geld brauchen. Für Obdachlose oder Drogensüchtige gibt es kaum legale Verdienstmöglichkeiten mit fairem Stundenlohn. In den letzten Jahren sind es auch immer mehr Rentnerinnen und Rentner, die dazuverdienen müssen. Oder alleinerziehende Mütter. Viele, die unsere Zeitung verkaufen, haben ein Suchtproblem, viele waren oder sind obdachlos. Und es gibt viele migrantische Arbeitskräfte, die um ihren Lohn geprellt worden und dann in Obdachlosenunterkünften gelandet sind.
