Viele Verlage bringen schon die ersten Herbst-Neuerscheinungen auf den Markt. Doch der Sommer bietet auch Zeit zum Wiederlesen. Fragen wir Dieter Stolz, den in Berlin lebenden Lektor und in Lübeck lehrenden Honorarprofessor, der mit „Günter Grass. Der Schriftsteller“ gerade bei dtv das Gesamtwerk des Literaturnobelpreisträgers neu betrachtet hat: Welches Grass-Buch sollte man heute lesen?
Dieter Stolz: Ich empfehle, gerade heute, in kriegswüster Zeit, ein kleines Meisterwerk: „Das Treffen in Telgte“. Ich empfehle diese barock anmutende Erzählung mit Gegenwartsbezug angesichts des 375-jährigen Jubiläums des Westfälischen Friedens jedoch nicht etwa als Buch zur Stunde. Ich empfehle sie als ein anhaltend aktuelles Sprachkunstwerk, das durch subtile Ironie, deftigen Humor und raffiniert ausgeklügelte Erzählstrategien überzeugt. Inhaltlich dreht sich alles um das zerrissene deutsche Vaterland und die Muttersprache, um Literatur und Politik, um Geist und (Ohn-)Macht der Poesie. Es geht aber auch um ethische Maßstäbe, um ganz realen und metaphysischen Hunger und nicht zuletzt um vergeblich geschriebene Manifeste in finsteren Zeiten.
Unzeitgemäße Poeten füllen im besten Fall mit ihrer Einbildungskraft aus, was im historischen Prozess leichtfertig übersprungen wird. Sie erfinden genauere Fakten als die, die uns angeblich authentisch überliefert werden. Man denke auch an Grimmelshausens „Simplicissimus“, an Döblins „Wallenstein“-Roman oder an Brechts Lehrstück „Mutter Courage“. Die wahrhaftigen Lügengeschichtenerzähler konzentrieren sich auf die Durchleuchtung fataler Gesellschaftsstrukturen und entdämonisieren sie.


