Bücherfrage der Woche

Frage an den Spezialisten: Welches Buch von Günter Grass sollte man heute lesen?

Dieter Stolz, der das Werk des Literaturnobelpreisträgers bestens kennt, empfiehlt ein Buch mit subtiler Ironie, deftigem Humor und Politik-Bezügen.

Dieter Stolz bei einer Veranstaltung in Telgte vor einem Günter-Grass-Porträt von Horst Janssen.
Dieter Stolz bei einer Veranstaltung in Telgte vor einem Günter-Grass-Porträt von Horst Janssen.Werner Stolz

Viele Verlage bringen schon die ersten Herbst-Neuerscheinungen auf den Markt. Doch der Sommer bietet auch Zeit zum Wiederlesen. Fragen wir Dieter Stolz, den in Berlin lebenden Lektor und in Lübeck lehrenden Honorarprofessor, der mit „Günter Grass. Der Schriftsteller“ gerade bei dtv das Gesamtwerk des Literaturnobelpreisträgers neu betrachtet hat: Welches Grass-Buch sollte man heute lesen?

Dieter Stolz: Ich empfehle, gerade heute, in kriegswüster Zeit, ein kleines Meisterwerk: „Das Treffen in Telgte“. Ich empfehle diese barock anmutende Erzählung mit Gegenwartsbezug angesichts des 375-jährigen Jubiläums des Westfälischen Friedens jedoch nicht etwa als Buch zur Stunde. Ich empfehle sie als ein anhaltend aktuelles Sprachkunstwerk, das durch subtile Ironie, deftigen Humor und raffiniert ausgeklügelte Erzählstrategien überzeugt. Inhaltlich dreht sich alles um das zerrissene deutsche Vaterland und die Muttersprache, um Literatur und Politik, um Geist und (Ohn-)Macht der Poesie. Es geht aber auch um ethische Maßstäbe, um ganz realen und metaphysischen Hunger und nicht zuletzt um vergeblich geschriebene Manifeste in finsteren Zeiten. 

Unzeitgemäße Poeten füllen im besten Fall mit ihrer Einbildungskraft aus, was im historischen Prozess leichtfertig übersprungen wird. Sie erfinden genauere Fakten als die, die uns angeblich authentisch überliefert werden. Man denke auch an Grimmelshausens „Simplicissimus“, an Döblins „Wallenstein“-Roman oder an Brechts Lehrstück „Mutter Courage“. Die wahrhaftigen Lügengeschichtenerzähler konzentrieren sich auf die Durchleuchtung fataler Gesellschaftsstrukturen und entdämonisieren sie.

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Der Tipp
Günter Grass: „Das Treffen in Telgte“ gibt es in einer Ausgabe von dtv, 256 Seiten, 13 Euro. Bei Steidl erschienen ist eine Ausgabe mit Illustrationen von Grass und einem Vorwort von Ingo Schulze. 248 Seiten, 20 Euro

Diese kunstvollen Gegenmärchen wollen immer wieder variiert werden, weil die anderen Wahrheiten, die gern unter dem Mantel ideologischer Geschichtsklitterung versteckt werden, ohne ihre obsessive Imagination nicht zur Sprache kommen würden. Und so schlagen im „Treffen in Telgte“ neben poetologischen und religiösen Disputen Schilderungen zu Buche, die sowohl schamlose Draufgänger als auch feinsinnige Geister auf eine ganz bewusst konstruierte Dramaturgie verweisen: vom kargen Büßermahl über das üppige Gelage bis hin zum wunderbaren Fischessen im Zeichen von Toleranz und Versöhnung. Ein schöner Traum, was sonst? Bei aller Ohnmacht der melancholischen Dichter: „ein leises dennoch“. Vor allem aber ein lebenspralles Lesevergnügen auf höchstem Niveau!