Im Soundtrack der Nullerjahre erklingen zwei balladeske Rocknummern als unverwechselbare Signaturen des Jahrzehnts. Da war zum einen die Erkennungsmelodie der Krimiserie „CSI Miami“, in der die Kriminaltechniker um David Caruso alias Horatio Caine den Mördern und Dealern in der Hitze Floridas auf die Pelle rückten: „Won’t Get Fooled Again“. Ihr legt uns nicht rein, schien das Team Caine zu sagen, und der Song von The Who vibrierte dazu zittriger denn je.
Etwa zur gleichen Zeit steuerte die amerikanische Nu-Metal-Band Limp Bizkit auf ihren größten Hit zu: „Behind Blue Eyes“. Beide Songs stammen im Original vom Album „Who’s Next“ aus dem Jahr 1971. Eine Art Meilenstein zierte auch das Cover, auf dem sich Pete Townsend, Roger Daltrey, Keith Moon und John Entwistle von einem auf einer Geröllhalde befindlichen Betonklotz abwenden, an den sie kurz zuvor uriniert hatten. So markierte man in der frühen Rockgeschichte sein Revier.
Was die Boomer hinterlassen haben
Als die beiden Stücke am Dienstagabend kurz hintereinander in der Waldbühne ertönten, hielt es in dem legendären Berliner Amphitheater bereits niemanden mehr auf den Bänken. Knapp 20.000 Menschen waren nicht bloß gekommen, um Roger Daltrey und Pete Townsend, die beiden noch lebenden Bandmitglieder von The Who, gebührend zu feiern. Mehr noch zelebrierten sie in deren Popgebirgen die eigene Anwesenheit. „The Kids Are Allright“ lautete dazu die Parole, zu der Pete Townsend um Nachsicht bat, falls es nicht mehr ganz so frisch wie damals daherkommen sollte. Wenig später spielten sie das Stück „Tattoo“, das Townsend lakonisch mit dem Satz einleitete: „Ihr könnt nicht behaupten, die Boomer hätten euch nichts hinterlassen.“ Als er noch wissen wollte, wer im Publikum ein Tattoo trage, fiel der Handzeichenbeweis erstaunlich mau aus.
Zum Beweis der Erhabenheit des eigenen Werks hatten sich The Who das Filmorchester Babelsberg eingeladen, das das Hymnische vieler Lieder herauskitzelte. Am besten gelang dies in dem gut halbstündigen Set mit Stücken aus der Rockoper „Tommy“ von 1969, mit der Pete Townsend sich seinerzeit endgültig als ambitionierter Rockkomponist behauptet hatte. Die Babelsberger verhielten sich zum Songmaterial mal dezent unterstützend, mal impulsiv-dominierend. Deutlich wurde dabei allemal, dass viele Stücke von The Who, sieht man einmal von kurzen Beat-Nummern wie „Substitute“ ab, schon früh ins Orchestrale drängten. Die Idee, „Tommy“ konzertant aufzuführen, ist denn auch schon ein halbes Jahrhundert alt. Die orchestrale Version mit dem London Symphony Orchestra erschien 1972 mit kollegialer Unterstützung von Rod Stewart, Richie Havens, Stevie Winwood, Ringo Starr und vielen anderen.
Als kleine Hommage an die kürzlich verstorbene Tina Turner durfte man das Stück „Acid Queen“ verstehen, die diese Rolle in Ken Russels Verfilmung von „Tommy“ übernommen hatte, um die mehrfach gehandicapte Titelfigur einer Art Sextherapie zu unterziehen. Die misslang, und Tommy heilte sich über die Perfektion am Flipperautomaten schließlich selbst. „Pinball Wizzard“ gilt zu Recht als einer der besten Popsongs aller Zeiten.
Daltrey und Townsend verhielten sich zu ihrem Werk souverän bis selbstironisch. Der Gitarrenarm kreiste und das Mikro flog durch die Luft wie ehe und je. Pete Townsend entschuldigte sich dafür, so lange nicht in Berlin gewesen zu sein und sprach sogar die politischen Kontroversen mit seinem Bühnenpartner Daltrey an. Der hatte sich als glühender Befürworter des Brexits erwiesen, während Townsend sich als treuer Labour-Europäer versteht.
Zu den Aufnahmen ihres letzten Albums waren die beiden einander im Studio kaum begegnet. In der Berliner Waldbühne aber ließen sie keinen Zweifel daran aufkommen, dass ein popmusikalisches Jahrhundertwerk sie für immer zusammengeschweißt hat. Popgeschichte ist auch eine Art Familiengeschichte. Am Schlagzeug saß Zak Starkey, der Sohn von Ringo Starr, und Townsends Bruder Simon spielte Rhythmusgitarre, während die Violinistin Kathy Jacoby und die Cellistin Audrey Snyder einige der Arrangements klassisch veredelten.
Das Warten auf „My Generation“ war vergeblich
Den zweiten Konzertschwerpunkt des Abends bildeten Stücke aus Townsends zweiter Rockoper „Quadrophenia“ von 1973, die stärker ins Experimentelle tendierte, aber trotz der Engführung mit dem Filmorchester Babelsberg nicht an die Griffigkeit der einfachen Songstrukturen von „Tommy“ heranreichte.
Beim Verlassen der Waldbühne bedauerten viele, den größten Who-Klassiker „My Generation“ nicht vernommen zu haben. Es war wohl nicht die Zeit für die Parole, dem Tod den Vorzug vor dem Alter zu geben. Was es mit dem Song auf sich haben könnte, hat unlängst Bob Dylan in seiner „Philosophie des modernen Songs“ beschrieben. Am Ende eines langen Lebens als Rockstar räumt Dylan mit einer großen Tabula-rasa-Geste auf, die das Stück seit jeher verströmt hat. Das Ehrlichste an dem Song sei letztlich die Angst, schreibt Dylan. „Wir fluchen alle über die vorangegangene Generation, wissen aber, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir uns selbst in sie verwandeln.“



